
https://queer.de/?37270
Interview
"Wenn der Film nur einer Person helfen konnte, hat sich mein Job gelohnt"
Ein queerer Film aus Bolivien an sich ist sensationell, "I Miss You" wurde gar ins Oscar-Rennen geschickt. Jetzt läuft er in Deutschland. Wir sprachen mit Jose Duran, der einen Schwulen im Coming-out-Dilemma spielt.

Jose Duran spielt in "I Miss You" einen jungen Schwulen aus einer sehr konservativen bolivianischen Familie, der Suizid verübt
10. Oktober 2020, 03:39h - 6 Min. Von
Geboren ist Jose Duran in Bolivien, in New York hat er die Schauspielerei gelernt. Nach dem Drama "The Wedding" um einen schwulen Muslim, der eine Schein-Ehe eingeht, tritt Jose Duran nun im bolivianischen Coming-out-Drama "I Miss You auf".
Das Theaterstück von Rodrigo Bellott avancierte zum Coup in Bolivien und sorgte für eine nationale Diskussion über Diskriminierung und Homophobie. Die Verfilmung des Autors wurde von Bolivien prompt in das Oscar-Rennen geschickt.
Jose Duran spielt den queeren Gabriel, dem die konservative Familie so sehr zu schaffen macht, dass er keinen anderen Ausweg als den Suizid mehr sieht. Im Film taucht die Rolle dreifach auf, zum Finale stehen gar 30 Gabriels auf der Bühne (queer.de rezensierte).

Poster zum FIlm: "I Miss You" feierte am 8. Oktober 2020 seinen offiziellen deutschen Kinostart
Senor Duran, "I Miss You" wurde von Bolivien in das Oscar-Rennen geschickt. Mit welchen Gefühlen haben Sie das erlebt?
Wir haben es letztlich nicht bis zur Auszeichnung geschafft, aber von Bolivien als Kandidat für den Oscar ausgewählt zu werden. war natürlich eine unglaublich große Ehre. Das unterstreicht auf sehr schöne Weise, wie wichtig diese Botschaft von "I Miss You" doch ist – und es zeigt, dass es Fortschritte in Bolivien gibt, wenn es um Akzeptanz geht. Das geschieht langsam, aber es geschieht!
Bereits als Theaterstück war "I Miss You" ein enormer Erfolg in Ihrer Heimat. Wie erklären Sie sich das Phänomen?
Es bestand in der LGBTI-Community ein sehr großes Bedürfnis nach diesem Thema, das in Bolivien als Tabu gilt. Das Land ist sehr konservativ und katholisch, es gibt leider viele Hass-Verbrechen gegen Minderheiten zu beklagen. Als die Verfilmung in die Kinos kam, war sie bahnbrechend: Es gab noch nie einen bolivianischen Film mit schwulen Figuren in der Hauptrolle.
Haben Sie selbst Erfahrungen mit Homophobie gemacht?
Ich persönlich habe keine Erfahrungen mit Homophobie gemacht, aber ein Onkel, der mir sehr nahe steht. Als ich 14 war, erzählte er mir von seinem Schwulsein. Es war erschreckend zu erfahren, welche Probleme er damit bekam. Schon auszugehen war für meinen Onkel schwierig, der seine sexuelle Orientierung lange verbergen musste. Bis heute ist das in Bolivien noch immer nicht einfach.
Wie riskant ist eine queere Rolle für einen bolivianischen Schauspieler? Sie leben in New York, hätten Sie diesen Part auch übernommen, wenn Sie noch in Bolivien leben würden?
Würde ich noch in Bolivien leben, wäre es sicher ein Risiko für mich gewesen, diese Rolle zu spielen. Nicht umsonst gibt es im Film diese Szene, in der einer meiner Doppelgänger verprügelt wird, weil er in einem schwulen Stück auftreten will. Ich habe das Glück, mittlerweile in New York zu leben, wo die Menschen unglaublich offen sind.
Ihre Familie lebt noch in Bolivien, gab es Augenblicke des Zögerns für diese Rolle?
Tatsächlich habe ich zwei, drei Tage darüber nachgedacht, ob ich das spielen sollte. Ich sprach mit meinem Vater und meiner Großmutter darüber. Ein Teil meiner Familie ist ziemlich konservativ. Nach einigem Überlegen war klar, dass ich diese Rolle unbedingt spiele. Diese Liebesgeschichte war einfach großartig und fühlte sich gut an. Als Künstler betet man für solche Stoffe, die das Leben von Menschen verändern und etwas bewegen können.
Mit welchen Gefühlen spielt man die Sex-Szenen vor der Kamera?
Für mich waren diese Sex-Szenen gar nicht so ungenehm. Mein Filmpartner Fernando Barbosa ist ein ausgesprochen netter Typ, der absolut professionell auftritt. Bei den intimen Szenen hatte ich nie das Gefühl, es würde eine rote Linie überschritten. Es ging immer sehr respektvoll zu, bei diesen Szenen waren lediglich Regisseur, Kameramann sowie der Mann vom Ton dabei. Außerdem trank ich zuvor jedes Mal vier Tequila – nein, das war ein Witz!

Szene aus "I Miss You" (Bild: Pro-Fun Media)
Wie viele Tequila brauchten Sie vor der zwölfminütigen Coming-out-Rede?
Diese Rede war die Bewerbungsszene für das Casting. Das war schon ziemlich nervenaufreibend: Wenn du diese Szene packst, bekommst du die Rolle! Drei Tage habe ich diese Rede immer und immer wieder geprobt, schließlich geht das ziemlich lang. Am Ende konnte ich das, wie meine beiden Doppelgänger, in- und auswendig. Vor der Kamera brauchte jeder Gabriel nur noch zwei Durchläufe. Als unabhängige Filmproduktion kann man sich viel mehr Proben gar nicht leisten.
Wie kamen Sie mit den Doppelgängern zurecht? Am Ende gibt es sogar 30 Gabriel auf der Bühne…
Ich liebe jeden einzelnen von denen! Denn jeder hat etwas ganz Besonderes in seiner Persönlichkeit. Mit einem Gabriel bin ich nach den Dreharbeiten eine Woche lang mit dem Rucksack durch Bolivien gereist, das war ein wunderbarer Urlaub.
Welche Reaktionen hat es gegeben?
Über WhatsApp haben sich Familienmitglieder und Freunde bei mir gemeldet, von denen ich schon lange nichts mehr gehört hatte. Alle waren begeistert von dem Film. Zudem bekam ich viel Post von Teenagern auf Instagram. Manche haben mich nur als Freund hinzugefügt, andere erzählten, wie wichtig dieser Film für sie gewesen sei. Wenn der Film auch nur einer Person helfen konnte, dann hat sich mein Job als Schauspieler gelohnt!
Gab es überhaupt keine Ablehnung oder Beschimpfungen?
Zum Glück bei mir nicht. Aber unser Regisseur Rodrigo Bellott bekam auf Facebook einige böse Kommentare und Beschimpfungen.
Es gibt immer wieder die Diskussion: Sollten nur queere Leute auch queere Figuren spielen? Was denken Sie?
Auf der einen Seite finde ich diese Forderung sehr richtig. Auf der anderen Seite gilt eben auch, dass Schauspieler unterschiedliche Figuren spielen. Um einen Mörder glaubhaft darzustellen, muss ich niemanden umgebracht haben.
Ist gutes Aussehen Fluch oder Segen für einen Schauspieler?
Ich gehöre nicht zu den Schauspielern, die sich auf ihr Aussehen verlassen. Meine Rollen suche ich vor allem danach aus, ob sie eine Herausforderung bieten. Je weniger eine Figur mit einem Aussehen zu tun hat, desto besser. Pretty Boys auf der Leinwand finde ich langweilig.
Was ist die wichtigste Qualität in Ihrem Beruf?
Du brauchst ein großes Herz, ein sehr großes Herz! Empathie und Verständnis sind entscheidend für diesen Job.
Welche Rolle spielt der Ruhm?
Ruhm fand ich noch nie interessant für mich. Manche Schauspieler ziehen nach Los Angeles mit dem einzigen Ziel, berühmt zu werden. Mein Ziel war es, gute Rollen zu bekommen. Selbst wenn mein Einkommen dann nur reicht, die Miete und das Essen zu zahlen, bin ich ein glücklicher Mensch.
|
I Miss You. Drama. Bolivien 2019. Regie und Drehbuch: Rodrigo Bellott. Darsteller: Oscar Martínez, Rossy de Palma, Fernando Barbosa, Rick Cosnett, Dominic Colón, Jose Duran. Laufzeit 105 Minuten. Sprache: spanisch-englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. FSK 12. Verleih: Pro-Fun Media. Kinostart: 8. Oktober 2020.

Links zum Thema:
» Alle Kinotermine zu "I Miss You" auf der Pro-Fun-Homepage
» Homepage von Jose Duran
Mehr zum Thema:
» Ausführliche FIlmkritik: Prickelnde Erotik plus packende Botschaft (06.10.2020)
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
20:15h, ATV2:
Love, Simon
Witzige und herzliche Coming-of-Age Geschichte über die spannende Reise des 17-jährigen Simon auf der Suche nach sich selbst und der ersten Liebe.
Spielfilm, USA 2017- 5 weitere TV-Tipps »