Sie haben viel zu sagen. Sie, das ist das "Jünglinge"-Kollektiv, das mit "Futur Drei" die Kinolandschaft in diesem Jahr deutlich bereichert, vielleicht sogar durcheinandergewirbelt hat. "Futur Drei", der Film über Parvis, der in zweiter Generation in Deutschland lebt, und sich mit den aus dem Iran geflüchteten Geschwistern Banafshe und Amon anfreundet und sich in letzteren verliebt, hat gezeigt, wie deutsches Kino auch sein kann: jung, queer, postmigrantisch, voller ernster Themen, aber genauso lustig und ästhetisch ausgefeilt. Das wurde bereits mit einer Vielzahl an Preisen belohnt.
Doch die "Jünglinge" haben noch mehr zu sagen, und deshalb haben sie mit "I See You – Gedanken zum Film" einen Katalog veröffentlicht. Einen dicken und gehaltvollen Katalog, der vom inhaltlichen Anspruch eher an Programmhefte von Theatern- oder Operninszenierungen erinnert. Und diese doch übertrifft!
Wie klingt "knackendes Eis aka Kristall"?
Der Katalog "I See You" ist in der Edition Assemblage erschienen
In drei großen Kapiteln – "Woher wir kommen", "Wir begegnen uns", "Wohin wir gehen" – umfasst der Katalog ganz verschiedene Texte. Die meisten sind trotz der teilweise komplizierten Themen und Verschränkungen gut zu lesen – ein Glossar hilft zur Not weiter – und nur ganz wenige gefallen sich etwas zu sehr in ihrem akademischen Ton. "I See You" versammelt unter anderem lange Interviews, etwa mit den Hauptdarsteller*innen über ihre persönlichen Erfahrungen und das politische Potenzial von Kunst, aber auch mit dem Migrationsforscher Erol Yıldız, was noch einmal ganz neue und aufschlussreiche Perspektiven auf den Film eröffnet.
Am Film Beteiligte erklären und reflektieren den Entstehungsprozess, etwa Raquel Kishori Molt das lange Casting der Rollen oder Jakob Hüffell die Arbeit an Musik und Sound – besonders persönlich und spannend als E-Mail-Gespräch mit der Lehrperson für Musiksoziologie an der Universität Hildesheim Johannes Salim Ismaiel-Wendt.
Sound und Musik, die sowohl vom Publikum wie auch von der Kritik meist eher randständig betrachtet werden, erhalten hier eine Aufwertung. Die komplexen Gedanken und Assoziationen sind so beeindruckend, dass man den Film nochmal sehen möchte, nur um ganz genau auf die Heckenschere, "gemütliche Bettwäsche" oder "knackendes Eis aka Kristall" zu achten.
Regisseur Faraz Shariat erhielt auf der diesjährigen Berlinale zwei Teddys für "Futur Drei", den Teddy Readers' Award powered by queer.de und den Preis für den besten Spielfilm (Bild: Diana Rasch)
Auch (Selbst-)Kritik ist dabei
Diese sehr nah am Film stehenden Texte werden ergänzt durch Essays oder Kolumnen, die die großen Themen verhandeln, um die es im Text geht: Hengameh Yaghoobifarah kommentiert in "Nicht dein Ausländer" Parvis' Grindr-Date, Zuher Jazmati macht sich in "Eine verschämte Angst" Gedanken zur Angst queerer Communitys vor toxischer Männlichkeit, die von Männern of Color ausgehen – sehr persönlich und horizonterweiternd.
Der Katalog spricht auch (selbst-)kritische Punkte an, etwa die Frage der Repräsentation von Women of Color (von Kemi Fatoba) oder die Problematik der Legitimation: Wer erzählt die Geschichte von geflüchteten Menschen und wer profitiert davon, fragt die intersektionale und antikoloniale Aktivistin Selin.
All diese und die anderen Texte werden so zum theoretischen Überbau, zur klugen Unterfütterung von "Futur Drei". Sie geben spannende Produktionseindrücke und geben Raum für weitere Perspektiven und Interpretationen auf den Film, die man vorher vielleicht noch nicht eingenommen hat. Der Katalog erweitert den Film und schöpft das aktivistische Potential noch weiter aus. Ein mehr als gelungener Band für alle, die noch nicht genug hatten von "Futur Drei"!
Infos zum Buch
Arpana Aischa Berndt, Raquel Kishori Molt: I See You – Gedanken zum Film FUTUR DREI. Farbiger Katalog. Klammerheftung. 123 Seiten. 21,0 x 29,7 cm. Verlagskollektiv Edition Assemblage. Münster 2020. 15 €. ISBN: 978-3-96042-097-2
Dass man sich zu den zahlreichen interessanten Themen, die in dem Film angeschnitten werden, nun noch einiges interessantes anlesen kann, gibt dem Ganzen den Eindruck eines "Gesamtpakets". "Futur Drei" ist nah am Leben und wirkt nach. Es fordert uns auf, uns kritisch mit der Situation zu beschäftigen, in der Flüchtlinge, Migranten und deren Kinder in Deutschland leben.
Ich persönlich freue mich nun sehr auf die Lektüre von "I See You"!