Olaf Latzel, der evangelikale Pastor der Bremer St. Martinikirche, wurde am Mittwoch vom Bremer Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 8.100 Euro wegen Volksverhetzung verurteilt (queer.de berichtete). Es ist positiv, dass sich das Gericht nicht darauf eingelassen hat, Latzels diffamierende Aussagen als durch die Religionsfreiheit geschützt zu betrachten. Hetze bleibt Hetze. Auch wenn sich Latzel auf die Bibel beruft und ein Exemplar im Gerichtssaal vor sich auf den Tisch legte.
Latzel war schon in der Vergangenheit als bibeltreuer Prediger aufgefallen. Mal ließ er eine Pastorin in seiner Kirche nicht auf die Kanzel, da Frauen nach seiner Bibelinterpretation nicht predigen sollen, mal schimpfte er auf andere Religionen. Aus seiner Sicht – und da ist er mit der Mehrheit der evangelischen Christen, den Evangelikalen, einig – ist praktizierte Homosexualität eine Sünde und ein Platz im Himmel nur über den Glauben an Jesus erreichbar. Un- und Andersgläubige landen in der Hölle. So steht es in der Bibel, die für die Evangelikalen in ihrer wörtlichen Auslegung das Maß aller Dinge ist.
8.100 Euro machen Olaf Latzel nicht zum armen Mann
Die Geldstrafe von 8.100 Euro wird Olaf Latzel nicht zum armen Mann machen. Als Kirchenbeamter hat er ausreichend Einkommen, und seine Fangemeinde wird sicherlich reichlich spenden. Seine Martinigemeinde steht schließlich fest zu ihrem Pastor und trägt schon jetzt aus Spenden ein Viertel seiner Stelle.
Wie diese evangelikale Kirchengemeinde und auch ein Großteil der anderen sieben evangelikalen Gemeinden in Bremen ticken, machen die folgenden Ausführungen von Jürgen Fischer, dem Vorsitzenden der Martinigemeinde, deutlich (erschienen im Gemeindebrief Nr. 130 von September 2020:
Bis heute ist der christliche Glaube Angriffen ausgesetzt durch heidnische Religionen, antichristliche Ideologien oder eines sich ausbreitenden Atheismus in Kirche und Gesellschaft. Eine große Irrlehre unserer Zeit kommt im Gewand des sogenannten "Gender Mainstreaming" daher, deren Protagonisten uns weismachen wollen, dass es nicht nur zwei, sondern mindestens 4.000 verschiedene Geschlechter gibt. Gender Mainstreaming ist eine unbiblische Ideologie, ein gewaltiges Umerziehungsprogramm, ein Angriff auf Gottes Schöpfungswirklichkeit und damit ein Generalangriff auf Gott, den Schöpfer, selbst. […]
Als bekennende Gemeinde ist es unser Auftrag, dem herrschenden Zeitgeist zu widersprechen und der Welt die unverrückbare Wahrheit des Wortes Gottes entgegenzuhalten, auch wenn wir dafür angegriffen und verleumdet werden. Und es ist unsere Aufgabe, den Menschen die biblische Lehre von der Verdammnis des unerlösten Sünders und seiner Errettung allein durch Gnade, allein durch Christus, zu verkündigen (Joh. 14,6; 17,17). In dieser Verpflichtung stehen wir als Gemeindeleitung zusammen mit unserem Pastor.
Dieser geistliche Kampf ist uns auferlegt. Wir führen ihn im Vertrauen auf Gottes Hilfe und in dem Wissen, dass Sie als Gemeinde betend hinter uns stehen.
Man muss die BEK-Leitung bei ihrem Wort nehmen
Das Problem liegt jetzt bei der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK). Die Kirchenleitung, elf Gemeinden und ca. 40 Pastor*innen hatten sich Anfang 2020 deutlich von Latzel distanziert. Es wurde sogar ein Disziplinarverfahren eingeleitet, welches für die Dauer des staatlichen Gerichtsverfahrens ruhte.
Würde die BEK-Leitung ihre distanzierenden Worte ernst nehmen, müsste sie Olaf Latzel jetzt, nach der strafrechtlichen Verurteilung, von der Kanzel holen, an einen staubigen Schreibtisch setzen und aus der öffentlichen Wahrnehmung entfernen oder sogar entlassen. Wie so etwas geht, da haben die Kirchen ja reichlich Erfahrung, wenn es um die lautlose Umsetzung von Geistlichen mit Missbrauchsvorwürfen geht.
Es gibt für die BEK-Leitung jedoch Probleme bei der Entfernung von Olaf Latzel aus dem Dienst. Da ist zum einen die jetzige Kirchenverfassung der BEK, die den Gemeinden die interne "Glaubensfreiheit" und ein entscheidendes Recht bei der Besetzung von Stellen zugesteht. Letztlich ist er jedoch zu drei Vierteln bei der Landeskirche angestellt. Somit käme die Entlassung arbeitsrechtlich durchaus in Betracht, schließlich handelt es sich nicht um einen Hausmeister, der den Wein aus dem Messkelch geklaut hat.
Die BEK könnte bei einer Maßregelung Latzels zerbrechen
Das wahrscheinlich viel größere Problem sind die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der BEK. Das jetzige Machtgefüge innerhalb könnte durch eine Maßregelung von Olaf Latzel zerbrechen. Die jetzige BEK-Leitung wird getragen von einem Bündnis aus den Gemeinden der "besseren" Stadtviertel, angeführt von der Domgemeinde, in denen Menschen mit hohem Einkommen, vor allem aus der "ehrwürdigen Bremer Kaufmannschaft" wohnen und kirchlich engagiert sind, und den acht evangelikalen Gemeinden innerhalb der BEK.
Bremen ist eine Hochburg der Evangelikalen, sowohl innerhalb der evangelischen Amtskirche als auch gemessen an der Zahl der evangelikalen Freikirchen, den von diesen zum Teil gemeinsam betriebenen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Wohlfahrtseinrichtungen. Verglichen mit traditionell evangelisch geprägten Großstädten wie Hamburg, Berlin oder Hannover weist Bremen in absoluten Zahlen mehr evangelikalen Gemeinden innerhalb einer Landeskirche aus, selbst als die dreimal so große Stadt Hamburg oder das fünfmal so bevölkerungsreiche Berlin. Innerhalb des Kirchenparlaments stellen die Evangelikalen etwa 15 Prozent der Delegierten. In Bremen ist die größte evangelikale Schule und das größte evangelikale Sozialwerk Deutschlands angesiedelt. Je eine Abgeordnete der SPD, der FDP und der CDU im Landesparlament sind engagierte Evangelikale.
Das Bündnis der "Feinen" mit den Evangelikalen
Über Jahrzehnte galt die Bremische Evangelische Kirche als linksliberale Bastion, Pastor*innen fanden sich auf Anti-AKW-Demos und halfen mit, Straßen gegen Raketen- und Truppentransporte zu blockieren. Viele marschierte am 1. Mai mit dem DGB durch die Stadt und tranken anschließend bei den kommunistischen Maitänzen an reservierten Tischen ihr Bierchen. Spätestens mit der Wahl einer neuen Kirchenleitung 2013 war es jedoch vorbei mit der "linken" Dominanz. Edda Bosse, geborene Lammotte (Vater ehemaliger Chef der Industrie und Handelskammer, Bruder Aufsichtsratsvorsitzender der Sparkasse Bremen aus einem Handelsunternehmensgruppe mit 600 Beschäftigten, Familienvermögen ca. 300 Millionen Euro), aus der Domgemeinde wurde Vorsitzende der BEK.
Im Sommer darauf wurde Johannes Müller aus der evangelikalen Matthäuskirche mit der Leitung der zentralen Missionseinrichtung der Landeskirche – Lighthouse – beauftragt. Er war der örtliche Organisationsleiter des Christival 2008, das in die Presse geriet, weil hier Konversionsseminare gegen Homosexualität angeboten werden sollten. Lighthouse ist neben einem missionarischen Angebot für Bremer Schulen (Klassentage) in Gebäuden der Martinikirche von Olaf Latzel angesiedelt. Johannes Müller schreibt regelmäßig für den Gemeindebrief der Martinigemeinde und darf gelegentlich als Latzels Urlaubsvertretung auf die Kanzel. Außerdem sitzt Johannes Müller in der Leitung der Evangelikalen in Bremen.
Etliche Evangelikale sind vom Kirchentag in zentrale ständig tagende Ausschüsse gewählt worden. Zahlreiche weitere Personal- und Finanzentscheidungen der Bremer Kirchenleitung lassen den Schluss zu, das seit 2013 in der BEK eine faktisches Bündnis aus den Kirchengemeinden der "feinen Leute" und den Evangelikalen besteht. Dabei mag sicherlich eine Rolle gespielt haben, dass viele den Evangelikalen zugetraut haben, den Mitgliederschwund der Kirche zu stoppen und intern wieder Schwung in den Laden zu bringen. Das hat bis heute nicht geklappt, die BEK weist bundesweit die höchsten Austrittsquoten aller Landeskirchen auf.
Hälfte der Kirchgänger*innen sind evangelikal
Dieses Bündnis der "Feinen" mit den Evangelikalen würde bei einem Rauswurf von Olaf Latzel auf eine harte Probe gestellt. Immerhin sind Olaf Latzel und die anderen Evangelikalen in der BEK bei der Verurteilung von Homosexualität, bei Abtreibungsverbot und der wortgetreuen Bibelauslegung einer Meinung. Er ist einer von ihnen. Auch wenn er sich oft im Ton vergreift, die Evangelikalen werden ihn unterstützen.
Ohne die Evangelikalen kann die jetzige BEK-Leitung so nicht weitermachen. Man darf gespannt sein, welchen geschickten Ausweg die Leitung findet. Sie muss handeln, denn schon jetzt sind die Predigten von Olaf Latzel für viele Kirchenmitglieder in Bremen ein Austrittsgrund, und sie schaden dem Image der evangelischen Kirche.
Predigt Latzel weiter, vergrößert dies die Trennung der evangelischen Kirche von der Gesellschaft. Fliegt Latzel raus, könnte die Hälfte der jetzigen Kirchgänger vergrätzt werden. Die BEK-Leitung weiß schließlich auch, dass die Hälfte der rund 5.000 regelmäßigen Kirchgänger*innen in Bremen den Worten der bibeltreuen Märchenonkel lauschen – und für viele von ihnen gelten die Kirchenoberen der BEK eh schon als Ungläubige.
Unser Gastkommentator Herbert Thomsen ist Regionalbeauftragter für die Stadt Bremen im Landesverband Niedersachsen-Bremen des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (ibka),
Ein Satz ist natürlich religionssoziologisch einfach falsch:
"Aus seiner Sicht und da ist er mit der Mehrheit der evangelischen Christen, den Evangelikalen, einig ist praktizierte Homosexualität eine Sünde."
Die Evangelikalen stellen in Deutschland nicht die Mehrheit der ev. Christen.
Die überwältigende Mehrheit wird von Karteileichen gestellt. Das ist ganz einfach die statistische Faktenlage.
Die Karteichristen haben als Kirchensteuerzahler*innen keinen Aufstand gewagt, als etwa die Ev. Kirche im Rheinland oder der EKD-Vorsitzende die Zivilehe für alle befürworteten.
Was der Mehrheit unserer kirchenfrommen Volksvertreter*innen in allen Parteien (auch den Grünen!) 2017 sicher die Zustimmung wesentlich erleichterte.
In Bremen wird man sich bei Kirchens halt zwischen Klerikalfaschismus gegenüber einer NS-Opfergruppe und der Demokratie entscheiden müssen.
Latzel ist nicht besser als z. B. iranische Mullahs.