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ARD-Krimireihe

LGBTI im "Tatort": Aus Witz- und tragischen Figuren wurden selbstbewusste Charaktere

Heute vor 50 Jahren wurde der erste "Tatort" ausgestrahlt. Im zweiten Teil unserer Serie zeigen wir, dass die Krimiserie viele Klischees reproduzierte, aber durchaus die Kraft hat, gesellschaftliche Debatten anzustoßen.


Erst schleppt er in einer Kneipe einen Mann ab, dann sieht man ihn mit der mutmaßlich postkoitalen Zigarette auf dem Balkon: rbb-Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) (Bild: Volker Roloff / rbb)

Der wissenschaftliche Diskussionsstand

Wer sich für Moral und Morde im "Tatort" interessiert, kommt schnell zum Medienexperten Dennis Gräf. Gräf hat sich in seiner Dissertation mit dem "Tatort" beschäftigt und gemeinsam mit Hans Krah das Buch "Sex & Crime. Ein Streifzug durch die Sittengeschichte des TATORT" (2011) verfasst. Darin enthalten ist das Kapitel "Schwule und Lesben, 'Normalität' und 'Abweichung'" (S. 70-88), womit die Autoren auch für LGBTI einen guten Diskussionsstand gesetzt haben, auch wenn die Autoren dort nur zwölf Filme mit LGBTI-Szenen ausgewertet haben.

Der "Kölner Stadt-Anzeiger" schreibt über den "Tatort" (und mit Bezug auf dieses Buch) zu Recht von einer moralischen Fernseh-Institution und von einem perfekten Seismografen für alles, was sich in der Gesellschaft verändert hat. Auch queer.de wies 2012 auf Gräf und 16 "Tatort"-Folgen mit LGBTI-Figuren hin. Seitdem ist viel passiert, und es sind nun 63 LGBTI-Folgen bekannt (queer.de berichtete)

Ein schwuler "'Tatort'-Experimentator" bricht das starre Format auf

Der "Tatort" ist eine geschützte Marke und soll trotz der unterschiedlichen Teams wiedererkennbar sein. Weil viele Zuschauer*innen einen klassischen Krimi erwarten, ist die ARD mit Experimenten vorsichtig. Zu diesen Experimenten gehören auch Folgen im LGBTI-Kontext. In "Frankfurter Gold" (Folge 6, 1971) sprechen die Darsteller direkt zu den Zuschauenden. Es handelt sich um einen realen Kriminalfall (ganz ohne Leiche!), bei dem die Verurteilung des Betrügers vorweggenommen wird. Kritiker*innen schrieben sogar von einer "Fernseh-Hinrichtung", weil die Täter zu diesem Zeitpunkt als unschuldig hätten gelten müssen. Auch "Der Finger" (Folge 664) kann mit seinen Andeutungen über Kannibalismus als Experiment gesehen werden.

Jahrzehnte später versuchte der offen schwule Regisseur Axel Ranisch in "Babbeldasch" (Folge 1012) durch auf Improvisation basierenden Dialogen und den Einsatz von Amateurschauspieler*innen frischen Wind in die alten Handlungsmuster zu bringen. Das Ergebnis kommt leider etwas holperig daher und wirkt eher wie Peter Steiners Theaterstadl. Die "Welt" titelte "Axel Ranisch – der 'Tatort'-Experimentator" und beschreibt, wie Ranisch mit seinem Krimi eine Debatte über Experimente in der ARD-Reihe auslöste. Das Ergebnis dieser Debatte war der Kompromiss, dass sich die ARD zwei "Tatort"-Experimente pro Jahr vorstellen konnte.

Für Joachim Huber im Berliner "Tagesspiegel" ist das fantasielos. Die Diskussion darüber, wo innovatives Fernsehen aufhört und wilde Experimente anfangen, ist nicht zu Ende. Dabei lassen sich Experimente bei dieser Fernsehreihe besonders leicht umsetzen, da mit unterschiedlichen Teams in unterschiedlichen Städten gearbeitet wird.

Der "Tatort" aus Duisburg: Horst Schimanski und Christian Thanner

Die Kommissare Horst Schimanski (D: Götz George) und Christian Thanner waren von 1981 bis 1991 in 29 Folgen die Hauptfiguren der "Tatort"-Folgen aus Duisburg. Schimanski wurde 2008 zum beliebtesten "Tatort"-Kommissar gewählt. Mehrere der Folgen mit seinem Assistenten Christian Thanner haben einen homoerotischen Subtext (Folgen 138, 146, 156). Manchmal wird Homosexualität deutlich angesprochen (Folgen 143, 159), aber erst in der letzten Folge ist ein Schwuler auch zu sehen (Folge 252). Der Subtext bei Schimanski und Thanner wird dadurch erzeugt, dass ihr Zusammenwohnen wie eine Imitierung einer Ehe wirkt und sie sich dabei auch körperlich nahe kommen.


Schimanski und Thanner kommen sich näher (Folge 252)

Der Literaturwissenschaftler Christian Hißnauer von der Universität Göttingen geht im Interview mit der "taz" (2016) darauf ein, dass mit Schimanski und Thanner ein Team "mit deutlich inszenierten homoerotischen Untertönen" eingeführt werde, "zum Beispiel wenn Thanner und Schimanski Händchen halten oder Thanner Schimanski bemutternd den Schal umbindet. […] Oberflächlich waren Schimanski und Thanner heterosexuell, aber es wurde in den ersten Folgen sehr viel angedeutet." Der Humor dieser Szenen lebt jedoch von der Gewissheit, dass die beiden befreundeten Männer nicht schwul sind. Szenen, die auf humorige Art auf Homosexualität als theoretische Möglichkeit anspielen und sie dabei gleichzeitig real ausschließen, haben in der Filmgeschichte eine lange Tradition.

Der "Tatort" aus Ludwigshafen: Lena Odenthal

Die Kommissarin Lena Odenthal (D: Ulrike Folkerts) ist seit 1989 die Hauptfigur der "Tatort"-Folgen aus Ludwigshafen. Mit über 30 Jahren ist sie die dienstälteste Ermittlerin beim "Tatort" und war bisher in 71 Folgen zu sehen. 2002 wurde Odenthal mit dem Bambi als beliebteste TV-Kommissarin ausgezeichnet. In zwei Folgen setzt sie sich mit der Homosexualität von Männern auseinander (Folgen 440, 921), in zwei weiteren Folgen küsst sie eine Frau (Folgen 474, 1012).


Seit 30 Jahren dabei: Ulrike Folkerts als Lena Odenthal. Vor fünf Jahren entstand diese Collage zum 25. Dienstjubiläum

Die offen lesbisch lebende Ulrike Folkerts stellte als Darstellerin der Lena Odenthal klar, dass es sich bei der Kuss-Szene in Folge 440 nicht um lesbische Liebe handle. Nur weil die Folge damit beginne, dass Odenthal schlechten Sex mit einem Mann hat, sei "in der Fantasie der Journalisten" daraus "Lenas Coming-out" geworden. Folkerts: "Vielleicht haben wir es insgeheim darauf angelegt, aber es war nur ein Scherz."

Im selben Interview wurde sie auch gefragt, wann Lena Odenthal endlich lesbisch werde, worauf sie deutlich antwortete: "Nie! Weil es viel zu nah an mir dran ist. Das hätte man von Anfang an machen können, aber vor 25 Jahren war es undenkbar. Jetzt mache ich es nicht mehr. […] Ich möchte nicht mich selbst spielen" ("Neue Osnabrücker Zeitung" und "L-Mag").

Damit trennt Folkerts deutlich zwischen dem Beruflichen und dem Privaten. Privat setzt sie sich unmissverständlich für die Rechte von Schwulen und Lesben ein. Manchmal geschieht dies einfach dadurch, dass sie im Rahmen einer Vorbildfunktion von ihrem Coming-out erzählt, wie etwa 2019 mit dem Beitrag "So erlebte sie ihr Outing" ("stern"). Im Youtube-Video "Ulrike Folkerts über 30 Jahre Lena Odenthal" äußert sie sich über die Intoleranz der Filmbranche, ihr Coming-out, CSDs und die Gay Games. In einem Beitrag von Radio Bremen (2008) wird Folkerts auch gemeinsam mit ihrer langjährigen Lebenspartnerin, der Künstlerin Katharina Schnitzler, vorgestellt (erster Teil; zweiter Teil).

Der "Tatort" aus Luzern: Reto Flückiger und Liz Ritschard

Die Kommissar*innen Reto Flückiger und Liz Ritschard waren von 2011 bis 2019 die Hauptfiguren der "Tatort"-Folgen aus Luzern. Als erste homosexuelle Ermittlerin spielte Liz Ritschard (Folgen 839, 862) eine bedeutende Rolle, denn damit waren LGBTI erstmals nicht mehr nur in Nebenrollen, sondern auch als Ermittler*innen zu sehen. Vorher gab es zwar schon Szenen mit Lena Odenthal und Frank Steier (Folgen 836, 870), die jedoch nicht als lesbisch bzw. schwul wahrgenommen werden konnten.

Mit den Folgen von Ritschard verstummte die Kritik am Fehlen homosexueller Ermittler*innen. In dem Buch von Marlies Klamt "Medien und Normkonstruktion" (2017, S. 173-177) liest sich das so: "Die Aussage zum Nicht-Vorhandensein homosexueller Kommissar*innen […] muss inzwischen revidiert werden. […] Bezeichnend ist dabei, dass die [bzw. der] erste homosexuelle Kommissar*in nicht schwul, sondern lesbisch war, wohingegegen Schwule sonst vorzuherrschen scheinen, wenn Homosexualität anhand von Nebenfiguren im Tatort thematisiert wird. Die Vermutung liegt nahe, dass dies damit etwas zu tun hat, dass männliche Homosexuelle generell als größere Bedrohung wahrgenommen werden."

Später kamen mit dem Assistenten Tobias Reisser aus Köln (Folgen 905, 1011) und dem Kommissar Robert Karow aus Berlin (Folgen 962, 989) weitere schwule bzw. bisexuelle Ermittler dazu. Andeutungen bei der Kommissarin Charlotte Lindholm (Folge 1130) werden vielleicht noch ausgebaut. Als lesbische "Tatort"-Kommissarin hat sich übrigens auch Carolin Kebekus – mit einem nicht ganz ernst gemeinten Satire-Clip – beworben (queer.de).

Der "Tatort" aus Münster: Frank Thiel und Karl-Friedrich Boerne

Der Kommissar Frank Thiel und der Rechtsmediziner Karl-Friedrich Boerne sind seit 2002 die Hauptfiguren der "Tatort"-Folgen aus Münster. Die Männer bilden ein Gegensatzpaar: Boerne ist der stets elegant gekleidete und eloquente Akademiker, Thiel kommt aus einer Arbeiterfamilie und interessiert sich für Bier und Fußball. Die Filme sind als komödiantische Krimis angelegt und haben in einigen Fällen einen LGBTI-Bezug (Folgen 615, 810, 949, 1113).

Matthias Dell hebt in seinem Buch "'Herrlich inkorrekt'. Die Thiel-Boerne-TATORTE" (2012) schon im Titel das politisch Inkorrekte der beiden Kommissare hervor. Als Beispiele dafür nennt er Boernes Anspielungen auf die Kleinwüchsigkeit der Rechtsmedizinerin Silke Haller, einen Polizisten, der "Bernd Bulle" heißt, und das N-Wort, das fällt und thematisiert wird (Folge 659).

In den Folgen mit LGBTI-Bezug spiegelt sich diese Inkorrektheit nicht wider. Mit PC wird nur ein wenig gespielt, wenn von einem homosexuellen Onkel die Rede ist und Boerne ergänzt: "Ist Schwuler die korrekte Bezeichnung?" (Folge 949). Diese Folge 949 hat eine besondere Bedeutung: Beide Ermittler geben sich als schwul aus, was bei der Erstausstrahlung 13 Millionen Zuschauer*innen verfolgt haben. Hat diese Folge die Tür für einen schwulen Kommissar geöffnet? "Der Westen" titelte anlässlich dieser Folge mit der Schlagzeile: "Tatort. Warum es Zeit für einen homosexuellen Kommissar ist".


Haben diese Szenen die Türen für einen schwulen Kommissar geöffnet? "Die Welt" über Folge 949

Der "Tatort" aus Berlin: Nina Rubin und Robert Karow

Die Kommissar*innen Nina Rubin und Robert Karow sind seit 2015 die Hauptfiguren der "Tatort"-Folgen aus Berlin. Eine besondere Bedeutung haben einzelne Folgen (Folgen 962, 989, 1023), mit denen der Single Karow als erster "Tatort"-Ermittler als offen schwul bzw. (Folge 1023) als bisexuell angelegt wird. Zu Recht wundert sich die "Kleine Zeitung" (2015) aus Österreich, warum das eigentlich so schrecklich lange gedauert hat: "Als homosexueller Mann kann man im realen Deutschland seit Jahren alles werden: Bürgermeister, Parteivorsitzender, Künstler, Außenminister." Im "Tatort" dagegen "kommt dem Outing eines Kommissars dem Outing eines Kickers der Nationalelf gleich". Die Kommissare im "Tatort" "hinkten lange Zeit der Realität hinterher", als Parallele wird der Emanzipationsweg der Ermittlerinnen genannt.

Dennis Gräf schrieb in seinem oben genannten "Tatort"-Buch (2011, S. 89) einige Jahre zuvor, dass sich die Frage nach homosexuellen Ermittler*innen "erübrigt", denn eine "homosexuelle Ordnung ist im Tatort-Kosmos schlicht und ergreifend nicht vorgesehen". Vier Jahre später gab es einen. Hoffentlich freut sich Gräf, dass er sich geirrt hat.

Die LGBTI-Prominenz im "Tatort"

Wie viele andere Serien und Reihen lebt auch der "Tatort" von prominenten Schauspieler*innen in Gastrollen, die die Aufmerksamkeit für die jeweilige Folge bedeutend steigern. Dazu gehören Heterosexuelle in schwulen Rollen wie Joachim Król (Folgen 836, 870) und Ilja Richter (Folge 455) ebenso wie Homosexuelle in heterosexuellen Rollen wie Udo Kier (Folge 742), Maren Kroymann (Folge 459), Rudolph Moshammer (Folgen 307, 433), Rio Reiser (Folge 307) und Walter Sedlmayr (Folge 34). Seit 2015 spielt die trans Schauspielerin und Sängerin Zazie de Paris in den Frankfurter "Tatort"-Folgen die Freundin und Vermieterin "Fanny" des Ermittlers Paul Brix.


Der schwule Frank Mosbach (D: Ilja Richter, r.) wird von der Polizei vernommen

Grundsätzlich finde ich es richtig, dass man – wie Ulrike Folkerts als Darstellerin von "Lena Odenthal" – die Rolle von der privaten Person trennt. Es ist aber auch ein reizvolles Spiel mit der gefühlten Authentizität, wenn davon auszugehen ist, dass die Homosexualität von Darstellern ausschlaggebend für ihre schwule Rolle im "Tatort" war, wie bei Helmut Berger (Folge 664) und Tim Fischer (Folge 615). Der Schauspieler und Travestiekünstler Ernie Reinhardt tritt öffentlich fast ausschließlich in einer weiblichen Rolle als Lilo Wanders auf – wie in einem "Tatort" als Bardame "Lilo" (Folge 483). Laut "Redaktionsnetzwerk Deutschland" findet es Reinhardt schade, dass ihm bisher nur "Rollen als Schwuler angeboten" wurden, da er im "Tatort" auch gerne mal einen heterosexuellen Fernsehkommissar darstellen würde.

LGBTI-Themen

Der "Tatort" ist dafür bekannt, regelmäßig Themen von aktueller gesellschaftlicher Relevanz aufzugreifen. Diese werden von vielen Kritiker*innen manchmal sogar als wichtiger als die Morde erachtet.

Einige Folgen handeln von beruflichen Problemen, wie ich sie für 1990 (Folge 227) gut nachvollziehen kann. Dazu gehören auch spätere Folgen, die den Arbeitgeber katholische Kirche (Folge 469) und Fußballvereine (Folgen 500, 794) thematisieren. Bei der Polizei wird die Situation schwuler Polizisten (Folgen 733, 1098) als schwerer als die von lesbischen Polizistinnen dargestellt (Folge 1111). In einer Folge wird bei einem schwulen Arbeitnehmer von dessen Chef eine interessante Verknüpfung zwischen Coming-out und beruflichem Handeln hergestellt, denn der Schwule will weder privat noch beruflich etwas verbergen (Folge 455).

In einigen Fällen erscheinen mir die beruflichen Probleme, wie sie für die Jahre 1996 bis 2012 (Folgen 327, 744, 864) geschildert werden, überdramatisiert zu sein. Das bezieht sich auch auf eine fiktive lesbische Bundesverfassungsrichterin (Folge 1130), weil es mit Susanne Baer eine reale offen lesbische Richterin am Bundesverfassungsgericht gibt. In ähnlicher Form wie der Arbeitsplatz ist auch die Schule ein Ort des Mobbings (Folgen 941, 1023, 1117). Kritik an religiös motivierter Homophobie wird im "Tatort" nur sehr dezent geäußert. Religiöse Gefühle sollen offenbar geschont bzw. nicht verletzt werden, was sich sowohl auf das Christentum (Folgen 469, 844) als auch auf den Islam (Folgen 1117, 1023, 1056) bezieht.

LGBTI-"Modethemen"

Das "Tatort"-Thema "Intersexualität" (Folge 839) wird im "Spiegel" (25. Mai 2012) zunächst als "Tabuthema" bezeichnet, um dann – erkennbar vorsichtig und dennoch fast provozierend – zu ergänzen: "Modethema wäre aber auch nicht falsch." Mit "Modethema" wird suggeriert, dass ein Thema weniger wichtig sei. In gleicher Weise wie Mode nichts über die Qualität der Kleidung aussagt, sondern nur darüber, wie beliebt sie ist, sagt auch die Bezeichnung "Modethema" nichts Inhaltliches über das Thema, sondern nur etwas über die geringe Aufmerksamkeitsspanne der Öffentlichkeit aus. Nicht bei jedem Thema kann man über Jahre bzw. Jahrzehnte das Interesse der Öffentlichkeit erreichen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für HIV/Aids hat sich in den letzten 35 Jahren stark verändert, was u.a. davon abhängig war, inwieweit Aids als tödliche Krankheit wahrgenommen wurde. Die ersten beiden schwulen "Tatort"-Folgen zu HIV/Aids von 1990 und 1994 (Folgen 227, 290) scheinen vom schwulen Sex generell abraten zu wollen, eine dritte Folge von 2009 (Folge 742) ist in ihren Aussagen etwas differenzierter. Auch das zeitweilige allgemeine Interesse am Thema Homosexualität im Fußball (Folgen 500, 794) ist in den letzten Jahren wieder gesunken.

Das Thema Pflege- und Adoptionsrecht für Schwule und Lesben hat vermutlich noch Potenzial, weiterhin aufgegriffen zu werden. Bisher gab es nur zwei Folgen, in denen Lesben mit einem Kind als Familie gezeigt wurden (Folgen 782, 795). Letztendlich lassen sich wohl fast alle LGBTI-Themen in diesem Sinne als "Modethemen" ansehen. Fraglich ist nicht, ob sich die öffentliche Wahrnehmung noch weiter verändern wird, sondern allenfalls, in welche Richtung.

Kritik an der Darstellung von Schwulen, die ich nicht teile

In der wissenschaftlichen "Tatort"-Literatur werden mitunter Klischees und Stereotype bei der Darstellung von LGBTI kritisiert, was sich manchmal nur an einer Lederkneipe als Schauplatz festmacht (Folge 733). Wenn es danach ginge, dürfte kein Schwuler mehr rechts einen Ohrring tragen (Folge 905) oder als Travestiekünstler (Folge 378) dargestellt werden. Klischees sind nicht per se illegitim und dienen in Filmen manchmal – ähnlich wie die Regenbogenfahne (Folge 302) oder eine antike Männerskulptur (Folge 664) – nur der schnellen Einordnung einer Szene.

Nur in wenigen älteren Folgen, die ein "Milieu" in Leder zeigen (Folge 327), sehe ich die Gefahr, dass durch Klischees und Stereotype in illegitimer Weise Vorurteile gedankenlos reproduziert werden. In neueren Folgen wird eher mit Klischees gespielt, wenn z. B. ein rosa Mädchenkleid als eine Art ironische Referenz auf Schwule bezogen wird (Folge 1011). Viele Schwule haben Angst vor einer Darstellung in Lack und Leder. Es wäre aber nicht nur lebensfern, sondern auch schrecklich langweilig, wenn alle Schwulen im "Tatort" nur nett, höflich, gutaussehend und außerhalb von Klischees dargestellt würden.

Es gibt Rezensent*innen, die Beleidigungen wie "Perverse" (Folge 737), "Schwuchtel" (Folge 744) und "entartet" (Folge 1128) kritisieren. Auch diese Kritik halte ich in den genannten Fällen für falsch, weil diese Vokabeln im Zusammenhang mit Hass auf und mit der Ermordung von Schwulen stehen und damit eine Homophobie dokumentieren, die es zu bekämpfen gilt. Das Wichtige ist, dass diese Äußerungen nie von Kommissar*innen (oder Sympathieträger*innen) kommen. Christian Hißnauer sagt in einem "taz"-Interview: "Die Kommissare oder positiv dargestellte Figuren verkörpern das legitime Meinungsspektrum. Radikale Meinungen […] werden durch die Kommissare sanktioniert", die "ein gewisses Sagbarkeitsfeld" definierten. Fast jeder homophobe Spruch ist darauf angelegt, dass er von den Kommissar*innen (oder anderen Sympathieträger*innen) als moralische Instanz gekontert wird. Es bleibt darauf zu achten, dass die verwendeten Begriffe ausreichend reflektiert werden, was nicht immer der Fall ist (Folge 737).

In wenigen "Tatort"-Folgen ist der Mörder schwul (Folgen 290, 500, 798, 844, 1023). Weil im "Tatort" jedoch Schwule nicht per se als kriminell dargestellt werden, finde ich die Diskussion, ob dies politisch korrekt sei (Folge 798), übertrieben. Gleiches gilt übrigens auch für die mordende trans Person in Folge 356 und die mordende Lesbe in Folge 848. Hinzu kommt, dass Schwule nie als kaltblütige Killer inszeniert sind, sondern mit nachvollziehbarer Reaktion handeln, wie beispielsweise durch Notwehr (Folge 1023). Der Verdacht fällt zwar oft auch auf Schwule, aber als Täter*in entpuppt sich meist eine andere Person.

Kritik an der Darstellung von Schwulen, die ich teile

Vor allem einige ältere Folgen zeigen in verzerrender und diskreditierender Weise ein "Homosexuellenmilieu" (Folgen 227, 327, 429), das durch Kriminalität und teilweise Drogen und Prostitution gekennzeichnet ist. Selbst wenn das, was man im Film sieht, gar kein "Homosexuellenmilieu" ist, wird man mit diesem Begriff konfrontiert, weil dieser auch von den ARD (s. Folge 705) und Wikipedia (s. Folge 737) gedankenlos reproduziert wird.

2012 regte sich "queer.de" zu Recht über die gedankenlose Verwendung des Begriffes im Kontext mit Folge 844 in zwei Zeitungen auf: Die "WAZ" reagiert auf die Kritik von queer.de und löschte den Hinweis auf die Homosexualität. Auch die "Ruhrnachrichten" schrieben bei dieser Folge von einem "Milieu" und bekamen Post von queer.de und Frank Laubenburg (Die Linke). Das "Homosexuellenmilieu" wird übrigens nur in Verbindung mit Schwulen, aber nie in Verbindung mit Lesben so genannt.

In enger Verbindung mit der Kritik am "Milieu" steht die Kritik am Umstand, dass der "Tatort" – trotz erkennbarer Entwicklung – der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung immer um viele Jahre hinterherzuhinken scheint. So gab es auch schon 1994 keine Schwulenkneipen mehr, wo man klingeln musste und man nur bei persönlicher Bekanntschaft eingelassen wurde (Folge 290). Auch die Darstellung von HIV/Aids oder das schon 1999 veraltete Klischee vom Lavendelgeruch (Folge 423) sind dafür Beispiele. Eine Lebensgemeinschaft mit drei Personen (Folgen 664, 1130) wird zwar angerissen, aber nur um sie letztendlich als nicht möglich zu verwerfen. Ein offen Schwuler im "Tatort" ist fast so selten wie in der katholischen Kirche und der Bundesliga.

Schwule sind für den "Tatort" vor allem dann interessant, wenn sie mit einer Frau verheiratet sind (Folgen 455, 664, 705, 737, 782). Dabei geht es nicht um einen von zwei Seiten beleuchteten Konflikt, sondern um die Bedrohung der bürgerlichen heterosexuellen Familie durch die Homosexualität. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Marlies Klamt in "Medien und Normkonstruktion" (2017, S. 164). Sie hebt bei Folge 737 den Aspekt hervor, dass Bisexualität und Prostitution das "Familienglück" und die "Kernfamilie" bedrohen. Folge 737 hat dabei übrigens eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Folge 705: Beide handeln vom Outing und der Ermordung eines bisexuellen Familienvaters. In Folge 705 riecht ein Sohn an seinem Vater das Rasierwasser von dessen Freund und ermordet ihn; in Folge 737 riecht eine Frau an ihrem Mann etwas, das kein Frauenparfüm ist, und ermordet ihn ebenfalls.

Die typischen ARD-Zuschauer*innen sind heute älter und wohl auch konservativer, und es ist erkennbar, dass sich die ARD mit ihrem Programm an dieser Zielgruppe orientiert. Das Programm würde anders aussehen, wenn sich die ARD an einem repräsentativen Querschnitt der Rundfunkgebührenzahler*innen orientieren würde.

Schwule Kneipen im Fokus

In vielen "Tatort"-Folgen werden Schwulenkneipen (Folgen 290, 302, 327, 423, 705, 737, 798, 844, 962, 1117) bzw. ein Café (Folge 846,) von innen gezeigt. Darüber hinaus werden manchmal weitere LGBTI-Räume gezeigt, wie ein Travestieclub (Folge 378), ein Varieté (Folge 455) oder ein Theater (Folge 615). Solche Räume werden als Teile der Subkultur manchmal wie Schutzräume inszeniert, wo LGBTI so akzeptiert werden, wie sie sind. Dennis Gräf und Hans Krah sind in "Sex & Crime" (2011, S. 77) kritisch, wenn sie mit Bezug auf zwei Schwulenkneipen (Folgen 290, 302) und den Travestieclub (Folge 378) betonen, dass Schwule, "zumindest in den 80er und 90er Jahren, in 'ihren' Räumen situiert – und damit von der 'Normalgesellschaft' abgegrenzt" würden. Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen, weil solche Szenen zunächst einmal die Öffnung des heterosexuellen Blicks verdeutlichen, was in den ersten Jahren vermutlich sogar als mutig angesehen wurde.

Auffallend ist der Umstand, dass der ermittelnde heterosexuelle Kommissar fast immer von Schwulen angebaggert wird. Dazu kann man unterschiedliche Positionen beziehen. Für mich sind diese Szenen weitgehend unproblematisch, weil sie weniger darauf angelegt sind, Schwule zu diskreditieren, sondern sich eher über die Unsicherheit und die Ängste der Kommissare lustig machen. Die Hetero-Perspektive ist deutlich spürbar und auch der ungewohnte Blick, dass nicht eine Frau, sondern der Kommissar zum Sexualobjekt wird.

Mit solchen Anmachen wird auch das fragwürdige Klischee bedient, dass Schwule eigentlich jeden Mann herumzukriegen wollen. Zu dieser kritischen Sicht auf solche Kneipenszenen s. a. die Position von queer.de über die Schwulenbar "Chelsea" (Folge 844). Deutliche Kritik ist spätestens dann angebracht, wenn Schwulenkneipen ein verruchtes "Milieu" zeigen (Folge 290). Heute wird in Kneipen selbstverständlicher ermittelt, die Trennung von Homo- und Heterokneipen ist weniger strikt (Folge 423), in Schwulenkneipen trifft man auch auf Frauen (Folge 798) und statt der früheren Kneipen, wo man noch klingeln musste (Folge 290), werden nun offene Straßencafés gezeigt (Folge 846).

Lesben im Fokus

Bis heute sind Lesben im Vergleich zu Schwulen im "Tatort" stark unterrepräsentiert, wodurch sich auch ihre Darstellung nur weniger ausführlich behandeln lässt. Lesben haben Jahrzehnte länger als Schwule darauf warten müssen, bis ihr Leben im "Tatort" widergespiegelt und positiv dargestellt wurde. Bis dahin wurden sie einfach nicht als gesellschaftlich relevant angesehen. Die Freude an zwei Szenen, in denen Lena Odenthal eine Frau küsst (Folgen 474, 1012), lässt sich nachvollziehen, auch wenn die Küsse nicht als Hinweise auf ihre lesbische Identität verstanden werden können.

Die ersten "richtigen" Lesben kamen im "Tatort" erst 2010 vor, in der betreffenden Folge kehrt eine Frau nach der Ermordung ihrer Freundin zu ihrem Mann zurück (Folge 782). Die daraus abzuleitende Annahme, dass die Homosexualität "nur eine Phase" sei, ist ein häufig auf Lesben bezogenes Klischee, das schon 2010 reichlich abgenutzt war. Später kamen ein lesbisches Verbrecherinnenpärchen (Folge 848) und völkische Lesben (Folge 1130) hinzu.


Die Polizistin Tine Geissler (r.) beim Flirten mit Julia Grosz (l.) in Folge 1111

Es gibt nur wenige Lesben in Nebenrollen, die sich überhaupt zur Identifikation eignen (Folgen 795, 833, 1012). Hinzu kommt das Problem, dass häufiger als bei Schwulen mit einer gewissen Unklarheit gespielt wird (Folge 833), wenn sich z. B. die Automechanikerin Jo Lohr fragen lassen muss: "Seit wann interessierst du dich für Männer?" (Folge 302) Weil es illegitim ist, in Lesben nur Opfer oder Täterinnen zu sehen, sind die Hinweise auf die lesbische Ermittlerin Ritschard ab 2013 (Folgen 862, 908) oder eine lesbische Polizistin (Folge 111) wichtig. Lesbenkneipen gibt es übrigens nicht im "Tatort".

Gleichgeschlechtliche Küsse

Über viele Jahrzehnte waren Küsse unter Schwulen oder unter Lesben im deutschen Fernsehen tabu. Wie spät es hier zu Veränderungen kam, macht die "Lindenstraße" deutlich. Sie war – nach der Serie "Kein schöner Land" (1985) – erst die zweite deutsche Fernsehserie, in der ein gleichgeschlechtlicher Kuss zu sehen war, und zwar 1987.

Im "Tatort" gab es den ersten schwulen Kuss wohl erst 1999 zu sehen – in einer Schwulenbar in Nahaufnahme (Folge 423). Zwei frühere Küsse unter Männern lassen sich kaum als solche bezeichnen, wenn z. B. Schimanski seinen Kollegen Thanner auf die Stirn küsst (Folge 143) oder ein Schwuler einen schwulen Freund zum Geburtstag auf die Wange küsst (Folge 378).

Auch die Art, wie Journalist*innen über den (angeblich) ersten schwulen "Tatort"-Kuss (Folge 844) berichteten, spiegelt die Beachtung wider, die ein öffentlicher Kuss unter Männern selbst im Jahr 2012 noch haben konnte. Gerade weil Küsse unter Männern im "Tatort" so wenig selbstverständlich sind (s. a. Folgen 742, 1128), ist es naheliegend, dass in einem "Tatort" von 2017 darüber diskutiert wurde, ob ein Polizist auf der Dienststelle seinen Freund küssen dürfe (Folge 1011). Küsse unter Frauen werden anders rezipiert und kaum als Bedrohung oder Belästigung wahrgenommen. Obwohl sie weniger Mut bei der Inszenierung benötigen, sind Küsse unter Frauen im "Tatort" erst seit 2001 zu sehen (Folgen 474, 833, 908, 1012).


Das Berliner Boulevardblatt "B.Z." über den ersten Kuss, der nicht der erste war (Folge 844)

Nacktszenen / Sexszenen

Als die "Westfälischen Nachrichten" titelten: "Wird der 'Tatort' immer nackter?", gingen sie auch auf Schimanskis Nacktszene (Folge 159) und Karows Sexszene (Folge 989) ein. Es scheint zunächst so, als wenn der "Tatort" grundsätzlich wenig Probleme mit nackten Männern habe. Man sieht Männer auch mal in "full frontal nudity" beim Duschen nach dem Fußball (Folgen 500, 794).

Es ist allerdings auch spürbar, dass für Nacktheit fast immer ein Grund benötigt wird, der nicht mit Sexualität in Verbindung steht. Neben Körperhygiene gehört dazu die Sublimierung als Kunst, wie bei einem schwulen Aktmodell (Folge 469). Die Präsentation nackter Körper ist übrigens auch bei Leichen möglich. Eine "echte" Leiche nackt im Fernsehen zu zeigen, wäre entwürdigend und inakzeptabel. Im "Tatort" ist aber auch im LGBTI-Kontext das Zeigen einer nackten Leiche möglich (Folgen 500, 1117), wodurch das Opfer als besonders schutzlos erscheint.


Aufgrund seiner Homophobie im Affekt getötet – der Fußballtrainer Detlev Günther (Folge 500)

Geht es um Sexszenen, sieht die Situation anders aus. Cruising wird ängstlich-scheu in Szene gesetzt (Folge 455) und Sexszenen im Bett werden höchstens mal mit Unterwäsche inszeniert (Folge 794). Für lesbische Intimität gilt Ähnliches (Folge 848, 862). Sie wird selten dargestellt, ist aber nicht so inszeniert, als solle sie den Wünschen heterosexuell-männlicher Zuschauer entgegenkommen – was nicht selbstverständlich ist.

Die Szene, in der sich Karow deutlich erkennbar von einem anderen Mann ficken lässt (Folge 989), ist gleich aus mehreren Gründen außergewöhnlich. Es ist eine positive, selbstverständliche und souveräne Sicht auf schwulen Sex. Karow ist Kommissar und damit keine Nebenrolle, die schnell mal wieder verschwindet. Zudem wird er als sexuell Passiver dargestellt, was sich hinsichtlich seiner Position als klischeekonträr bezeichnen lässt. Dieser Sex findet nicht in einer Ehe und noch nicht einmal innerhalb einer Liebesbeziehung statt. Die Deutlichkeit wird nicht in Verbindung mit Petting oder Oralverkehr, sondern – aus der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft – beim Sex in seiner "schmutzigsten" Form erreicht. All dies ist erstaunlich.


Robert Karow (unten) lässt sich von einem anderen Mann ficken (Folge 989)

Vermutlich wird diese Szene im "Tatort" eine Ausnahme bleiben. Schwules und lesbisches Lieben wird wohl weiterhin beim Kuscheln und Umarmen aufhören. An diesem Punkt bin ich pessimistisch genug, mir nicht vorstellen zu können, dass auch der Sex von LGBTI perspektivisch in einer Offenheit geschieht, wie dies bei Heterosexuellen üblich ist.

Trans- und Intergeschlechtlichkeit im Fokus

In den ersten Jahren des "Tatort" wurden trans und intergeschlechtliche Menschen nur in einem durch Kriminalität und Gewalt gekennzeichneten "Milieu" gezeigt – im Gegensatz zum "Schwulenmilieu" häufiger mit Prostitution verknüpft. Die Figuren haben (von einzelnen belanglosen Wörtern abgesehen) keine Sprechrollen und der "Tatort" versucht nicht einmal ansatzweise, ihre Situation zu vermitteln. Weil es nur um Eyecatcher geht, wirken die Szenen empathielos (Folgen 105, 156, 381).

Als der Film "Das Schweigen der Lämmer" (1991) wegen der Darstellung einer mordenden trans Person kritisiert wurde, wurde als Verteidigung angeführt, dass die Kriminalität doch gar nicht mit der trans Identität in Verbindung stehe. Ähnlich könnte man auch bei der Figur Lukas/Judith Homann in der "Tatort"-Folge 356 (1997) argumentieren. Aber selbst wenn man vom Filmaufbau her zu dem Schluss kommt, dass es gar nicht die Trans-Identität ist, die Lukas/Judith morden lässt, bleibt in den Köpfen trotzdem eine unselige Verknüpfung zwischen Trans-Identität und Mord übrig, die man im Drehbuch hätte verhindern können. Als erster "Tatort" mit einer trans Hauptrolle verdient die Folge zwar Aufmerksamkeit, aber keine positive Bewertung.


Symbolträchtig: Schmetterlinge schmücken den Morgenmantel von Judith Homann (Folge 356)

Spätere Folgen verdeutlichen, dass der "Tatort" – trotz Mord und Totschlag – zu einer reflektierten und fairen Darstellung fähig ist, bei der sich Mord, Spannung und eine innere Sensibilität für die dargestellten Personen nicht ausschließen. In diesen Folgen werden die Menschen erfahrbar, wie der Travestiestar Harriette Dimanche (Folge 378), Susanne Clemens (Folge 810), Claudio und Alem (Folge 839) – aber vor allem die faszinierende und schauspielerisch glänzende Trudi Hütten (Folge 808).

Die Entwicklung in der Darstellung von LGBTI

In den Siebzigerjahren (Folgen 6, 105) gab es keine gleichwertige Darstellung von LGBTI, deren Leben weitgehend totgeschwiegen und allenfalls codiert wurde. Die Achtzigerjahre waren vor allem durch einzelne homoerotisch anmutende Szenen mit Schimanski und Thanner bestimmt. Vermutlich wurde Schwulsein im "Tatort" erst 1982 (Folge 143) deutlich angesprochen und erst mit Schimanskis letzter Folge als "Tatort"-Kommissar 1991 bekam ein Schwuler eine Sprechrolle (Folge 252).

In den Neunzigerjahren war Homosexualität zwar noch eine Abweichung von der Norm, wurde aber als gesellschaftliches Thema angenommen. Bis in die Neunzigerjahre hinein wurde die Szene abwertend als "Homosexuellenmilieu" dargestellt und bis heute muss dafür gestritten werden, dass dieser Begriff endlich abgeschafft wird. Ein erster Kuss unter Schwulen von 1999 (Folge 423) wurde vermutlich als mutig angesehen.

Erst ab dem Jahr 2000 veränderte sich mit der Gesellschaft auch langsam die Sprache im "Tatort" und statt "bestimmte sexuelle Vorlieben" (Folge 469) ist in neueren Filmen von "Schwulen", "Lesben", "meiner Frau" und "meinem Mann" zu hören. Erst ab 2010 wurden Lesben und erst ab 2013 wurde eine lesbische Ermittlerin sichtbar. Aus den frühen Witz- und tragischen Figuren sind äußerst selbstbewusste LGBTI geworden.

Ausstrahlungsverbote und Verfügbarkeit

Sechs "Tatort"-Folgen sind als sogenannte "Giftschrank-Folgen" mit einem senderinternen Sperrvermerk versehen und dürfen bis auf Weiteres nicht ausgestrahlt werden. In Wikipedia werden die Gründe für die jeweiligen Sperrvermerke gut ausgeführt, die von Gewalt bis Antisemitismus reichen (Folgen 16, 109, 110, 335, 346, 684). Weder aus den hier genannten Gründen noch aus den jeweils vorhandenen Inhaltsbeschreibungen ergeben sich Hinweise darauf, dass diese Folgen LGBTI-Szenen enthalten und deshalb als nicht sendefähig angesehen werden.

Die Verfügbarkeit von "Tatort"-Folgen ist eine Katastrophe. Aus nicht vermittelbaren Gründen kann man sich "Tatort"-Folgen meistens nur einen Monat lang in der ARD-Mediathek anschauen. Anbieter bei Youtube werden gezwungen, die eingestellten Filme zu löschen. Nur ein Bruchteil der Folgen wird auch als DVDs verkauft. Wenn eine DVD-Box wie "Tatort Münster" von Bibliotheken oder zum Kauf angeboten wird, sind die Titel der dort enthaltenen Folgen manchmal nicht recherchierbar. Illegale Portale wie "Tatort-Tube" sind offenbar nicht mehr online. All dies sind keine guten Voraussetzungen für eine Recherche. Im Zeitalter von fast unbegrenzten digitalen Möglichkeiten ist das ein Armutszeugnis und bezieht sich eben nicht auf irgendwelche kleinen Filmchen, sondern auf die bekannteste Filmreihe der ARD.

Fazit: Wie homophob ist Deutschland noch?

Wenn die Medien – meistens recht kritisch – jeweils über den "Tatort" vom Sonntag berichten, merkt man, wie angesagt er immer noch ist. Er hat die Kraft, gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen, Meinungen zu beeinflussen und zum Denken anzuregen. Seit einem halben Jahrhundert kann er die Zuschauer*innen wütend oder glücklich machen.

Nachdem 2017 die "Tatort"-Folge "Amour fou" (Folge 1023) ausgestrahlt wurde, wählten die "Braunschweiger Zeitung" und die "Hamburger Morgenpost" die Artikelüberschrift "Wie homophob ist Deutschland noch?" und führten dazu aus: "Im 'Tatort' geht es um Vorurteile gegenüber Homosexuellen. Dass Lesben und Schwule benachteiligt werden, ist noch immer Wirklichkeit." Der Inhalt dieses Beitrages hatte zwar mit dem Mord überhaupt nichts mehr zu tun, wäre aber ohne diesen "Tatort" nie entstanden.


Der "Tatort" hat die Kraft, gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen

Der "Tatort" ist nicht so schlecht, wie er oft dargestellt wird – aber auch nicht so gut, wie er sein könnte. Insofern ist es das Einfachste, weiterhin über ihn und seine LGBTI-Beiträge zu streiten, ihn zu loben und zu kritisieren.

Dennis Gräf und Hans Krah haben in "Sex & Crime" (2011, S. 110-111) die Fernsehreihe in einer Form zusammengefasst, wie ich sie weitgehend teile: Der "Tatort" sei ein "Seismograph" der Gesellschaft und "Stimmungsbarometer" für "gängige Positionen". Hinsichtlich seiner sexuellen Moral sei er nur vordergründig liberal bzw. fortschrittlich und zeige eine "grundlegende Nähe zu konservativen Weltmodellen". Er inszeniere sich zwar als liberaler Beobachter der deutschen Gesellschaft. Trotzdem würden "Abweichungen im Kontext von Sexualität in der Tiefenstruktur der Filme" abgewertet. Der Tatort sei "eine moralische Kompromissbildung, eine Schnittmenge dessen, was gesellschaftlich an Abweichung existiert und was davon medial vermittelbar und akzeptabel ist – bzw., was von den Machern dafür gehalten wird".

#1 Homonklin_NZAnonym
  • 29.11.2020, 19:38h
  • Das ist ein sehr ausfürlicher und doch kompakt strukturierter Artikel, der bestimmt eine Menge Zeit für Recherchen gekostet hat. Ich habe das gern durchgelesen, obwohl mir die Sendung eher etwas aus der häufigen Erzählung und Erwähnung durch meine Mutter sagt.
    Die Gründe, warum es anscheinend kein vollständiges, online erreichbares Archiv für alle Folgen gibt, liegen wahrscheinlich darin begraben, dass diese Serie auch in Wiederholungen noch eines der besten Zugpferde für Macher und Sender darstellt.

    Die das in DuSchlauch hochladen, haben wahrscheinlich keine offizielle Lizenz dafür eingeholt. Das sollte man vorher klären.

    ""Bei der Polizei wird die Situation schwuler Polizisten (Folgen 733, 1098) als schwerer als die von lesbischen Polizistinnen dargestellt (Folge 1111). ""

    Ist wohl noch schlimmer, als in der Bundesliga oder beim Surfsport. Man findet einfach Keine, es ist, wie die Suche nach dem funkelblauen Diamanten. In einem Land, das diese verbietet. Wenn es sie gibt, werden sie wohl damit konfrontiert werden, von den Kameraden nicht ganz für voll genommen zu werden. Wahrscheinlich sogar gemobbt, wer weiß.

    ""Gerade weil Küsse unter Männern im "Tatort" so wenig selbstverständlich sind (s. a. Folgen 742, 1128), ist es naheliegend, dass in einem "Tatort" von 2017 darüber diskutiert wurde, ob ein Polizist auf der Dienststelle seinen Freund küssen dürfe ""

    Das erzeugt wahrscheinlich desto mehr Probleme, falls er es uniformiert versuchen würde. Matter of indecency.

    ""Viele Schwule haben Angst vor einer Darstellung in Lack und Leder. ""

    Das wusste ich nicht mal. Woher rührt das? Vielleicht ist das einer der Gründe, warum man so oft Ablehnung erfährt, wenn man fetischlastig romantisch unterwegs ist. Und die Männer damals in den knacke-engen, sogenannten Froschkombis bei den Motorradstaffeln waren einfach h-e-i-ß!
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#2 Taemin
  • 30.11.2020, 10:01h
  • Antwort auf #1 von Homonklin_NZ
  • Das mit den Küssen zwischen schwulen Männern ist offenbar ein Thema, das ungeheuer viele Heten intensiv beschäftigt und dem eine weit größere Bedeutung zukommt, als der Durchschnittsschwule, der um sich herum unablässig knutschende Mann-Frau-Paare wahrnimmt, vermuten sollte. Ich habe gerade erst eine Reportage über zwei Israelis gesehen, die durch eine Leihmutter in den USA zu zwei Kindern (Zwillingen, jeder ist Vater eines der beiden Kinder) gekommen sind. Bei ihrer Ankunft in Portland ist die Geburt schon unerwartet früh im Gange, und sie erhalten im Taxi zur Klinik erste Fotos ihrer Kinder aufs Tablet. Vor Freude küsst einer der beiden den anderen. Obwohl Kamera und Mikrofon laufen, fordert der Taxifahrer die beiden auf, einander in seinem Taxi nicht zu küssen.
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#3 Homonklin_NZAnonym
  • 30.11.2020, 15:37h
  • Antwort auf #2 von Taemin
  • Das ist traurig.
    Grade, wo der doch mitgeschnitten haben muss, dass ihre Kinder zur Welt kamen, da hätte man eher erwartet, er beglückwünscht die Beiden.

    Meine Tante (Michigan) hat sich auf der Geburtstagsparty meines Cousin schon Tage lang damit beschäftigt, dass ein Army-Kumpel von ihm beim Zusammensitzen seinen Arm um seine Schulter gelegt hatte. Sie ließ sich darüber aus, dass Männer so etwas nicht machen, und sie den Verdacht hege, der andere sei ein "Fag".
    Na ja aber die sind da überaus religiot. Kein Wunder also.

    Die Darstellung von küssenden Männern scheint ja aber im TV, wie er oben schreibt, auch eine echt langwierige Entwicklung gehabt zu haben. Wenn diese Serie eine Art Zeitspiegel verkörpert, war vielleicht die Wirklichkeit oft schneller und früher dran.

    Sich umarmende, küssende Polizisten habe ich als Teen oft gezeichnet. Manche Dinge bleiben aber nicht mehr, als ein alberner Traum. Ein bisschen ist diese Serie somit sicher Fantasy.
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