Von einem "Teilsieg für die Pressefreiheit" sprechen die beiden Onlinemedien BuzzFeed News und Vice nach einem Urteil des Berliner Kammergerichts. Eine Kammer hatte am Donnerstag entschieden, dass vom Landgericht verbotene Berichte über Missbrauchsvorwürfe gegen einen in der queeren Community bekannten Berliner Arzt in Teilen wieder online gestellt werden dürfen.
Die im September 2019 veröffentlichten Texte thematisierten nach wochenlangen Recherchen der beiden Journalist*innen Juliane Löffler und Thomas Vorreyer schwere Vorwürfe unangemessenen Verhaltens durch den Arzt gegenüber jungen männlichen Patienten. Es hieß, man wisse von mehr als 30 Personen, die von sexuellen Übergriffen berichten. Buzzfeed News und Vice nannten nicht den vollen Namen des Arztes, sondern nur seinen Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens.
Der Mediziner war mit Einstweiligen Verfügungen gegen die Berichterstattung vorgegangen, die vom Berliner Landgericht bestätigt wurden. Auch einen zusammenfassenden Bericht von queer.de ließ der Arzt verbieten. Unter dem Titel "Vorwürfe gegen Berliner Arzt: Die Stille nach dem Sturm" hatte unser freier Autor Stefan Mey im Mai ausführlich über den Fall berichtet.
Kammergericht sieht berechtigtes öffentliches Interesse
Die Pressefreiheit gehe sehr weit, "man kann nicht alles untersagen", erklärte am Donnerstag die Vorsitzende Richterin am Kammergericht. Bei der sogenannten Verdachtsberichterstattung bleibe zwar immer "etwas hängen", was problematisch sei, jedoch liege in diesem Fall ein berechtigtes öffentliches Interesse vor. Buzzfeed News und Vice hätten zudem zahlreiche Belege zusammengetragen und dem Arzt Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Als vorverurteilend und damit rechtswidrig wertete das Kammergericht allerdings die detaillierten Schilderungen der mutmaßlichen sexuellen Missbrauchstaten durch die beiden Onlinemedien.
Der beschuldigte Arzt bestritt vor dem Kammergericht erneut sämtliche Vorwürfe, über die seit Jahren in der Berliner Szene gesprochen wird. Bereits im Jahr 2013 leitete die Ärztekammer ein berufsrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Arzt ein, ein Jahr später begann auch die Berliner Staatsanwaltschaft zu ermitteln. Zur Anklage wegen "sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses" in fünf Fällen zwischen August 2011 bis Mai 2013 kam es 2016. Der Prozessbeginn wurde seitdem jedoch mehrfach verschoben, aufgrund der Coronakrise zuletzt sogar auf unbestimmte Zeit. Vier der fünf ehemaligen Patienten haben Nebenklage eingereicht.
Die Artikel sollen bald wieder online gehen
"Das Urteil freut uns und zeigt einmal mehr, dass guter Journalismus gute Anwälte braucht – und einen langen Atem", erklärte Vice-Chefredakteur Felix Dachsel nach der Entscheidung des Kammergerichts. Sein BuzzFeed-Kollege Daniel Drepper kritisierte allerdings das aufrecht erhaltene Verbot der Berichterstattung über die konkreten Vorwürfe gegen den Mediziner. Er halte es "für extrem gefährlich, wenn wir in Zukunft nicht mehr über detailliert recherchierte Vorwürfe berichten dürfen", so Drepper. "Gerade in der Verdachtsberichterstattung kommt es auf eine genaue, ausgewogene, transparente Darstellung an. Das Urteil ist eine Einschränkung für die gesamte #MeToo-Berichterstattung in Deutschland."
BuzzFeed News und Vice kündigten an, nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsbegründung ihre ursprünglichen Artikel zu überarbeiten und wieder online zu stellen. Fest stehe schon jetzt, dass der beschuldigte Arzt drei Viertel der Gerichtskosten tragen müsse. (mize)