Der Aufstieg von Jens Spahn
Mit Jens Spahn war in der deutschen Politik eine offen schwuler Politiker der Sieger des Jahres 2020: Mit der Corona-Krise rückte der christdemokratische Gesundheitsminister, der seine sexuelle Orientierung im politischen Leben nie versteckt hatte, im März ins Zentrum des Geschehens – und ist laut Meinungsumfragen in der Bevölkerung weit populärer als die meisten (oder sogar alle) Ministerkolleg*innen. Zudem wird der 40-Jährige von vielen ernsthaft als möglicher zukünftiger Kanzler gehandelt. Erstmals könnte damit ein offen schwuler Politiker die Macht in Deutschland übernehmen.
Zwar war Spahn nie ein LGBTI-Aktivist – in der Vergangenheit hatte er etwa die Diskriminierung von homosexuellen Lebenspartnern geleugnet (queer.de berichtete). In den letzten Jahren sprach er aber offen und selbstverständlich über seine sexuelle Orientierung, zeigte sich mit seinem Ehemann und trug damit zur Sichtbarkeit von LGBTI-Lebensweisen bei. Auch mit öffentlichten Statements sorgte er für Akzeptanz: Erst kürzlich sagte er etwa, dass sein katholischer Glauben und seine Homosexualität nur schwer unter einen Hut zu bringen seien. Zudem brachte er dieses Jahr das europaweit fast einmalige Teilverbot von "Konversionstherapien" durchs Parlament.
Gleichwohl wird sein Engagement manchmal als ausbaufähig beschrieben – beispielsweise wenn es um das Ende des De-facto-Blutspendeverbots für Schwule in Deutschland geht. In dieser Frage zeigten sich 2020 das Trump-Amerika und die Brexit-Briten forschrittlicher – das müsste einem offen schwulen Politiker in Deutschland eigentlich peinlich sein.
Laut Umfragen steht in der Politiker-Popularität nur mehr eine Frau vor Jens Spahn – die Kanzlerin (Bild: ZDF)
Vorläufiges Ende des Trump-Spuks
Vier Jahre lang hat sich US-Präsident Donald Trump wie ein Troll durch die politische Landschaft bewegt – und dabei stets versucht, LGBTI-Rechte zu schwächen, etwa durch ein Trans-Verbot im US-Militär oder durch die Ernennung homophober Richter*innen wie Amy Coney Barrett. Sein Nachfolger Joe Biden, der das Amt am 20. Januar übernehmen wird, gilt als LGBTI-freundlich. Man muss allerdings abwarten, wie weit sich das Gift, das Trump in den letzten Jahren versprüht hat, auf die zukünftige Politik auswirken wird.
Pete Buttigieg als möglicher US-Präsident?
Ein Nebeneffekt des diesjährigen US-Wahlkampfes: Ein offen schwuler US-Präsident ist nicht mehr undenkbar – Pete Buttigieg, der erste offen schwule Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, sorgte im Februar für einen Paukenschlag, als er den Caucus in Iowa, die viel beachtete erste Vorwahl des US-Präsidentschaftswahlkampfes, gewinnen konnte. Der junge Politiker, der wie der designierte US-Präsident Joe Biden als Mann der Mitte gilt, hat bereits für ein Novum gesorgt: Er wird als Verkehrsminister der erste offen schwule Minister in einem US-Kabinett werden – und kann in diesem Posten nebenher Erfahrungen sammeln, um es 2024, 2028 oder auch 2032 noch mal mit der Präsidentschaft zu probieren. Noch muss er aber an seiner Akzeptanz in der Community arbeiten: Dort zog man laut einer Umfrage die linken Kandidat*innen Bernie Sanders und Elizabeth Warren dem gemäßigten Buttigieg vor.
Immer mehr LGBTI-Inhalte im TV
Vor wenigen Jahren freute sich die LGBTI-Community über jede kleine Figur, die offen schwul gezeigt wurde. Inzwischen haben wir Probleme, allen neuen TV-Sendungen mit queeren Charakteren zu folgen. Gerade dank Netflix und Co. gibt es eine Riesenauswahl, in denen auch trans und lesbische Figuren auftrumpfen. Dabei wird nicht nur Nischenprogramm produziert, sondern populärer Mainstream: So war die queere Prequel-Serie "Ratched" der erfolgreichste Netflix-Neustart, zudem wurde "The Prom", ein 130-Minüter über ein lesbischen Paar bei einem Abschlussball, zu einem der meistdiskutierten Filme des Jahres. "Star Trek", die erfolgreichste Science-Fiction-Franchise der Welt, überbietet sich mit queeren Handlungssträngen. Außerdem lenkte mit dem "Tiger King" die vielleicht eigenartigste queere Figur der TV-Geschichte die Leute von der Corona-Pandemie ab.
Im Dezember wurde auch bekannt, dass die schwule Welt inklusiver wird: So tritt bei "RuPaul's Drag Race" – also einer Castingshow mit fast ausschließlich schwulen Teilnehmern – in Kürze erstmals ein trans Mann auf.
Auch das deutsche Fernsehen wird vielfältiger – etwa mit Datingshows wie "Prince Charming" oder "Princess Charming". Allerdings, darauf weist der Lesben- und Schwulenverband hin, sei man "von einer selbstverständlichen Darstellung der LGBT-Community" noch immer entfernt.
Karma holt József Szájer ein
Man kann sich kaum helfen, bei dieser Story Schadenfreunde zu empfinden: Einer der bekanntesten Homo-Hasser Ungarns wird im fernen Brüssel bei einer schwulen Sexparty während des Corona-Lockdowns erwischt. Ein Mann, der aus ideologischen Gründen seinen schwulen Landsleuten das Leben schwer macht, genießt im Ausland das schwule Leben. Wenn das mal kein Hollywood-Film wird.
Der Fall des Jerry Falwell
Nur wenige Monate vor József Szájer gab es bereits einen ähnlichen Fall in den USA: Jerry Falwell Jr. stammt aus einer Dynastie von Homo-Hassern. Sein 2007 verstorbener Vater war einst einer der mächtigsten Baptistenprediger der USA, der seine Macht dazu nutzte, Hass auf Homosexuelle zu verbreiten – mit teils skurrilen Methoden, etwa dem Outing einer Figur der britischen Kinderserie "Teletubbies".
Im Sommer kam aber heraus, dass Falwell seiner Ehefrau beim Sex mit ihrem Poolboy zugeschaut hatte. Zur Erinnerung: Falwell war zu diesem Zeitpunkt Kanzler der evangelikalen Liberty University, die ihren Student*innen jegliche gleichgeschlechtliche Aktivität – auch außerhalb des Uni-Geländes – streng verbietet. Schließlich konnte Falwell sich nicht mehr als Chef der von seinem Vater gegründeten Uni halten – freilich gegen eine millionenschwere Abfindung. Der meinungsstarke Homo-Hasser, ein glühender Anhänger von Donald Trump, hat seit dem Skandal jegliche Reputation unter seinen alten Fans verloren.
Homo-Hasser Jerry Falwell Jr. (li.) stolperte ausgerechnet über seinen attraktiven Poolboy (Bild: Screenshot ABC / Facebook)
Trans Menschen in Deutschland akzeptierter
Auch wenn trans Menschen immer noch wie kaum eine andere Gruppe diskriminiert werden – gerade von AfD und Konsorten, gibt es langsam Fortschritte. So erobern trans Menschen immer mehr Bereiche – etwa als Bundeswehr-Kommandeurin oder als erste trans Kreisrätin der Republik. Auch die Sprache entwickelt sich weiter: Das Gendersternchen wird inzwischen auch gesprochen und Worte wie "transgender" oder "genderneutral" haben es 2020 endlich in den Duden geschafft. Die Sichtbarkeit könnte im Wahljahr 2021 noch größer werden: Zur Bundestagswahl bewirbt sich eine Rekordzahl an trans Kandidat*innen.
Regierung entschuldigt sich für LGBTI-Diskriminierung in der Bundeswehr
Anfang des Jahres wäre es noch undenkbar gewesen, dass eine Frau wie Annegret Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin einfühlsame Worte für die Verfolgung queerer Menschen in den Streitkräften der Bundesrepublik und der DDR findet. Immerhin hatte sie zuvor immer wieder versucht, ihr konservatives Image mit abwertenden Äußerungen über Homosexuelle oder diskriminierenden "Witzen" über Intersexuelle aufzupolieren.
Doch nachdem AKK ihre Ambitionen auf das Kanzleramt aufgab, zeigte sie sich von einer ganz anderen Seite: Völlig überraschend legte sie ein Gesetz zur Rehabilitierung und Entschädigung homosexueller Sodat*innen vor und entschuldigte sich für die jahrzehntelange Diskriminierung. Zwar ging ihr Entwurf queeren Verbänden nicht weit genug, aber dennoch war ihr Engagement lobenswert.
Teilverbot von "Konversionstherapien" beschlossen
Als zweites EU-Land schränkt Deutschland die schreckliche Praxis von "Homo-Heilungen" gesetzlich ein. Ein entsprechender Entwurf wurde im Mai im Bundestag beschlossen. Zwar geht das Gesetz vielen nicht weit genug. Unter Homo-Hasser*innen hat es dennoch für Aufregung gesorgt: Die führende deutsche "Homo-Heiler"-Organisation kündigte wegen des Gesetzes an, in die Schweiz zu fliehen.
LGBTI-Rechte Thema bei Lage zur Rede der Union
Vor zehn Jahren kopierte die EU die "State of the Union"-Rede aus den USA: US-Präsidenten halten diese Ansprache vor beiden Kammern des Kongresses seit 1790 – und legen darin die geplante Regierungsarbeit des nächsten Jahres offen. Vor zehn Jahren führte auch die EU diese Tradition ein – seither halten EU-Kommissionspräsidenten die Ansprache. Dieses Jahr war mit Ursula von der Leyen erstmals eine Kommissionspräsidentin an der Reihe – und sie sorgte für ein Novum: Mit ihrer Kritik an LGBTI-Rechten in Polen spielten erstmals LGBTI-Rechte eine Rolle in der Ansprache.
Für Amerikaner*innen wäre das übrigens ein alter Hut: Schon im letzten Jahrhundert erwähnte Bill Clinton Homosexuellen-Rechte, Barack Obama sprach erstmals über Trans-Diskriminierung. Dennoch ist von der Leyens Engagement für Minderheitenrechte ein wichtiger Schritt für Europa – und ein Zeichen an LGBTI-feindliche Länder wie Polen und Ungarn. Wenige Wochen nach der Rede stellte die Kommission ihr erstes Strategiepapier zur Gleichstellung queerer Menschen vor.
Am Montag veröffentlichen wir die Tiefpunkte des Jahres.
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