Viele Teile Polens haben sich inzwischen als quasi "LGBTI-freie Zone" proklamiert
Corona-Krise belastet Community
Die Corona-Krise belastete dieses Jahr praktisch alle Menschen. Besonders hart traf die Pandemie freilich Minderheiten, die ohnehin für ihre Anerkennung kämpfen müssen. In Deutschland gerieten etwa mehrere queere Vereine, Hilfsgruppen und Unternehmen in Schieflage: Die traditionsreiche Berliner "Siegessäule" konnte sich etwa nur mit einer Spendenaktion über Wasser halten. Ähnlich erging es der "Akademie Waldschlösschen". Auch aus der Politik gab es deshalb Forderungen, etwas gegen den Absturz zu tun: Die Grünen forderten etwa einen "Regenbogen-Rettungsschirm". Insgesamt zeigte sich die Szene flexibel, organisierte etwa CSDs als Fahrrad-Demos und hielt virtuelle Seminare oder Kulturprogramme ab.
Polen immer LGBTI-feindlicher
Unser Nachbar gleitet immer weiter ab: So bestätigten die Polinnen und Polen im Juli Homo-Hasser Andrzej Duda in seinem Amt als Staatspräsident. Der Rechtspopulist und seine Mannen verschärften daraufhin die kompromisslose Linie gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten sogar noch weiter. Selbst Kritik von Europarat-Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatovic von EU-Chefin Ursula von der Leyen beeindruckt die immer autoritärer agierende Regierung in Warschau bislang nicht.
E.ON etabliert sich als LGBTI-Gegner Nummer eins im Dax
Der milliardenschwere Essener Energiekonzern E.ON ist der schlechteste Dax-Arbeitgeber für queere Menschen. Das geht aus dem im November veröffentlichten "LGBT+ Diversity Index" vor.
Das Ranking ist wenig überraschend: Immerhin versuchte E.ON letztes Jahr, sich in dem Index nach oben zu schummeln. Zudem gab die Firma ausgerechnet der früheren CDU-Politikerin Katherina Reiche einen einflussreichen Posten in der Firmenspitze. Reiche hatte sich als Bundestagsabgeordnete vor allem mit ihrer kompromisslosen Homophobie einen Namen gemacht. So kanzelte sie schwule Paare beispielsweise als "nicht normal" ab oder stilisierte die Existenz von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften zur "größten Bedrohung unseres Wohlstands".
Transphobie löst klassische Homophobie ab
Die Entwicklung hatte sich in den USA angedeutet: Mit der zunehmenden Akzeptanz von Homosexuellen suchen sich Feind*innen der Vielfalt eine neue Gruppe, auf die sie ihren Hass ausrichten können. Diese oft von radikalen Gläubigen angeheizte Stimmung führte etwa dazu, dass US-Präsident Donald Trump ein Trans-Verbot im Militär erließ oder fortlaufend Diskriminierungsschutz abbaute.
Doch diese Entwicklung ist nicht auf die USA beschränkt: In Ungarn trat etwa ein Gesetz in Kraft, trans Personen künftig die Anerkennung in ihrem Geschlecht zu verwehren. In Deutschland setzt die AfD weiter auf Transfeindlichkeit – und diffamierte etwa die geforderte Reform des Transsexuellenrechts als "Gender-Gaga". Auch die angesehene FAZ machte 2020 gegen trans Menschen Stimmung. Sogar bei den Grünen, die bislang wie keine andere Partei LGBTI-Menschenrechte zu ihren Grundüberzeugungen zählen, versuchen Trans-Hasser, Einfluss zu gewinnen. Dabei bräuchten doch gerade jüngere trans Menschen vor allem eins: Akzeptanz.
J.K. Rowling macht Stimmung gegen trans Personen
Eigentlich hat J.K. Rowling in ihren Harry-Potter-Romanen eine Welt der Toleranz entwickelt. 2014 kam in einer Umfrage sogar heraus, dass jugendliche Fans des Zauberlehrlings in der Regel weniger Probleme mit Homosexuellen oder Geflüchteten haben. Doch dieses Jahr wurde klar, dass die britische Autorin zumindest eine Gruppe als nicht gleichwertig ansieht: Trans Frauen sind für Rowling etwas, das sie mit Missbrauch in Verbindung bringt. Widerspruch gab es von vielen Stars der "Harry Potter"-Filme, darunter auch Daniel Radcliffe.
Linke mit Wackelkurs bei LGBTI-Rechten
Eigentlich gilt Die Linke als LGBTI-freundliche Partei. Allerdings ist sie auf dem nach Osten gerichteten Auge oft blind. Während die Partei zum Beispiel gerne alles kritisiert, was aus den Vereinigten Staaten kommt, ist sie beim "Großen Bruder" Russland traditionell sehr zurückhaltend – und verteidigt teilweise sogar die extrem homo- und tranphobe Politik des autokratischen Herrschers Wladimir Putin. Am deutlichsten äußerte sich der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu, der dem autoritären Regime in Russland praktisch alles verzeiht: Im Oktober behauptete er, dass Kritik an der staatlichen Homophobie Moskaus lediglich ein Versuch sei, "Russland als kulturell minderwertig darzustellen".
Neu betrat damit ausgetretene Pfade bei der Linkspartei: Bereits vor zwei Jahren versuchte die damalige Fraktionschefin Sarah Wagenknecht, sexuelle Minderheiten gegen ein anderes beliebtes Thema der Linken – die Kapitalismus-Kritik – auszuspielen. LGBTI-Rechte, so scheint es, können bei den Linken leicht unter die Räder geraten, wenn sie nicht zu den ideologischen Grundüberzeugungen passen. Diese moralische Flexibilität ist gefährlich.
Kirchen in Deutschland immer noch im Kampf gegen LGBTI-Rechte
Die evangelische und die katholische Kirche geben sich inzwischen weltoffen und fortschrittlich – noch immer haben sie aber Probleme damit, Homosexuelle als gleichwertig anzusehen. Zwar verhalten sich die Amtskirchen weniger LGBTI-feindlich als in anderen Ländern. So hat die katholische Kirche im mittelamerikanischen Belize oder auch in unserem Nachbarland Polen Homosexuellen offen den Krieg erklärt. Vordergründig gibt sich die katholische Obrigkeit in Deutschland dagegen tolerant – Erzbischof Schick betonte etwa, Hass auf Homosexuelle vertrage sich nicht mit einem Kirchenamt. Manch ein Bischof, etwa Heinrich Timmerevers, stellt Homo-Paaren sogar eine Segnung in Aussicht – sie wären dann immerhin auf dem selben Level wie Autos oder Tiere, die von katholischen Kirchen schon jetzt gesegnet werden.
Andererseits gibt die Kirche im Streit um Rechte keinen Zentimeter nach. So bestrafte Kardinal Woelki aus Köln etwa eine Hochschulgruppe, weil sie homosexuelle Beziehungen nicht mehr als "Igitt" ansehen wollte. Besonders empörend: Während Woelki einvernehmliche homosexuelle Beziehungen unumschränkt ablehnt, hat er offenbar einen befreundeten Priester gedeckt, der ein Kindergartenkind sexuell missbraucht haben soll.
Auch in der evangelischen Kirche sind Eiferer am Werk, die sexuelle oder geschlechtliche Minderheiten als grundsätzlich böse ansehen. Sie vereinen sich vor allem in evangelikalen Kreisen. Bekanntestes Beispiel ist dieses Jahr der Bremer Pastor Olaf Latzel, der Homosexualität schon mal als todeswürdig bezeichnet – und deshalb vor Gericht wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Solange derartige Pfarrer*innen in der evangelischen Kirche toleriert werden, so lange ist die angebliche Toleranz des EKD nicht glaubwürdig.
Der evangelische Pastor Olaf Latzel schimpft auf der Kanzel gerne über Homosexuelle, Angehörige anderer Religionen und Frauen
AfD erfindet Hetero-Diskriminierung
Seit ihrer Gründung versucht die AfD, mit "alternativen Fakten" eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Den Preis für den albernsten Beitrag, um dieses Ziel zu erreichen, würde dieses Jahr an die Landtagsabgeordnete Birgit Bessin gehen: Sie behauptete Anfang des Jahres allen Ernstes, dass die "klassische Familie" gegenüber quasi "unnatürlichen" Formen diskriminiert werde.
Homophobes Blutspendeverbot bleibt
Italien und Spanien suchen sich seit Jahren ihre Blutspender*innen nicht nach sexueller Orientierung aus, sondern fragen nach dem indidividuellen Risikoverhalten des einzelnen – eine faire Praxis, der sich kürzlich auch England anschloss. Anders in Deutschland: Hier werde schwule und bisexuelle Männer ausgeschlossen, wenn sie in den letzten zwölf Monaten Sex hatten. Deutschen Bürokrat*innen ist dabei egal, ob es sich um Sex mit dem eigenen Ehemann oder Safer Sex handelt. Diese auf Homophobie basierende Regelung ist insbesondere in Zeiten, in denen Blutspenden knapp sind, unverständlich und "fahrlässig". Unverständlich ist auch, dass ausgerechnet das vom offen schwulen Politiker Jens Spahn geführte Gesundheitsministerium an dieser Diskriminierung festhält, auch wenn die Behörde in Aussicht stellte, die Diskriminierung etwas zu verkleinern.
Bluttat von Dresden: Erstmals LGBTI-feindlicher Terror in Deutschland?
Anfang Oktober attackierte ein Islamist in Dresden zwei schwule Männer mit einem Messer – einer von ihnen starb. Ob er aus Homosexuellenfeindlichkeit gehandelt hat, ist bis heute nicht klar. Dabei wäre dies eine große Sache – es wäre der erste aus Homophobie begangene islamistische Terroranschlag der Republik.
Skandalös ist insbesondere, dass die Ermittlungsbehörden sich zunächst weigerten, das Thema Homo-Hass als mögliches Motiv öffentlich zu benennen ("Zur sexuellen Orientierung der Opfer äußern wir uns nicht"). LGBTI-Aktivist*innen beklagten in Folge das "öffentliche Desinteresse" von Politik und Öffentlichkeit an Homosexuellenfeindlichkeit in Deutschland.
Am Dienstag veröffentlichen erinnern wir mit dem "In Memoriam 2020" an die Szenemenschen, die uns dieses Jahr verlassen haben.
Und gerade die haben nun wirklich keinerlei Recht, sich moralische Urteile über andere zu erlauben oder irgendwem gute Ratschläge oder gar Vorschriften machen zu können:
Die evangelische Kirche beschäftigt Prediger, die Menschen als "todeswürdig" bezeichnen. Die katholische Kirche versucht nach wie vor ihre Verbrechen gegen Kinder so weit wie möglich zu vertuschen, wie aktuell z.B. Kardinal Woelki in Köln. Und und und...