Warum ist ein Gütesiegel wie "Praxis Vielfalt" notwendig?
Immer wieder sind LGBTI-Patient*innen und Menschen mit HIV in der medizinischen Versorgung mit Unsicherheit, Unwissen, Vorurteilen oder gar Zurückweisung durch Ärzt*innen und medizinischem Personal konfrontiert. So berichten zum Beispiel 77 Prozent der trans Menschen über negative Erfahrungen im Gesundheitssystem. Zwei Drittel der Fälle, die die Antidiskriminierungsstelle der Deutschen Aidshilfe bearbeitet, kommen aus dem Gesundheitswesen.
Mit dem Gütesiegel "Praxis Vielfalt" werden Arztpraxen und Versorgungseinrichtungen zertifiziert, die Menschen mit HIV und LGBTI willkommen heißen, ihren Bedürfnissen gerecht werden und eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung sicherstellen. Besondere Berücksichtigung finden dabei auch die verschiedenen sprachlichen und kulturellen Hintergründe der Patient*innen. Damit leistet das Siegel einen konkreten Beitrag zu einer besseren medizinischen Versorgung dieser Gruppen. Werden diese Praxen und andere Einrichtungen sichtbarer, wird es für die angesprochenen Gruppen leichter einen für sie "sicheren" Ort der medizinischen Versorgung zu finden.
Dominik Djialeu ist Ansprechpartner des DAH-Projekts "Praxis Vielfalt"
Welche Kriterien müssen Arztpraxen erfüllen, um das Siegel zu erhalten?
Zuerst einmal Interesse an dem Thema und den Willen, ein wenig Zeit zu investieren. Das ist für Personal in ärztlichen Praxen und Krankhäusern oft gar nicht so einfach. Interessent*innen haben die Möglichkeit, sich über unsere Webseite praxis-vielfalt.de für den Gütesiegelprozess anzumelden. Dort erhalten sie dann Zugang zu acht digital aufbereiteten Lernmodulen. Die Teilnehmenden müssen bereit sein, ungefähr zwölf Arbeitsstunden zu investieren, die sie über einen Zeitraum von sechs Monaten verteilen können. In diesem Zeitraum haben sie dann die Möglichkeit, unser E-Learning-Programm zu durchlaufen, an Online-Seminaren teilzunehmen und sich an Gruppendiskussionen sowie Teamarbeiten zu beteiligen.
Dabei geht es um vier grundlegende Qualitätskriterien:
• Sichtbarkeit von Vielfalt und Sensibilität für Diskriminierung
• korrekter und sensibler Umgang mit Diagnosen und persönlichen Daten
• Begegnung mit den Patient*innen auf Augenhöhe
• Bereitschaft das eigene Wissen im Hinblick auf die genannten Zielgruppen zu ergänzen und an kompetente Stellen außerhalb und innerhalb des Medizinsystems zu verweisen.
Wir versuchen gerade, für einige der Module die Anerkennung als ärztliche Fortbildungsmaßnahme und Bewertung mit Fortbildungspunkten durch die Ärztekammer zu erhalten. Das könnte zumindest die Ärzt*innen – für medizinische Fachangestellte ist dies leider etwas komplizierter – stärker motivieren, da sie sowieso verpflichtet sind, Fortbildungen zu absolvieren.
Das Gütesiegel "Praxis Vielfalt" wird gefördert durch die AOK
Das Siegel soll Praxen zu einem "sicheren Ort für alle" machen. Welche Gruppen erfahren besonders oft Diskriminierung?
Bei "Praxis Vielfalt" legen wir den Fokus auf HIV-positive Menschen und LGBTI. Dabei berücksichtigen wir aber auch, dass viele Menschen aus den beiden Gruppen zum Beispiel auch Fluchterfahrungen oder allgemein vielfältige kulturelle und sprachliche Hintergründe haben. Viele machen sehr unterschiedliche Erfahrungen, die auch individuelle Betrachtungen benötigen. Sie sind oft von Mehrfachdiskriminierungen betroffen, etwa als queere geflüchtete Menschen, BPoC mit HIV oder Frauen mit HIV… Die Liste ist sehr lang.
Wie groß ist das Interesse von Ärzt*innen an dem Siegel?
Uns geht es darum, das ganze Praxisteam fortzubilden und zu sensibilisieren, nicht nur die Ärzt*innen. Diese müssen natürlich auch hinter der Zertifizierung stehen, aber der erste Kontakt in einer Praxis haben die Patient*innen zum Beispiel an der Anmeldung mit den medizinischen Fachangestellten. Diese sind dann häufig auch die Ansprechpartner*innen während des Zertifizierungsprozesses. Mit der steigenden Bekanntheit des Siegels steigt auch das Interesse der Praxen und weiterer Einrichtungen, insbesondere Klinikambulanzen. Es ist nicht selten, dass Alumni unseres Programms sich Nachfolgeveranstaltungen wünschen und/oder zum Beispiel an unseren Online-Seminaren weiterhin teilnehmen, weil ihr Interesse, sich in Diversitäts-Belangen weiterzubilden, entfacht wurde. Auch sie empfehlen uns weiter.
Gibt es eine Stadt-Land-Kluft beim Siegel?
Ja, das ist so. Das hat sicher zum einen damit zu tun, dass Menschen in der höheren Diversität der Städte offener unterschiedliche Lebensentwürfe "aus"leben können. Im urbanen Raum wird das Gesundheitswesen somit häufiger mit diesen Lebensrealitäten konfrontiert, und daher ist das Interesse hier höher. Aber nicht nur in den Metropolen haben sich Einrichtungen zertifiziert. Auch in mittelgroßen Städten wie Bielefeld, Gießen, Chemnitz, Trier besteht Interesse, und auch auf dem Land wird das Siegel nachgefragt.
Woran hapert es eurer Erfahrung nach in deutschen Praxen derzeit am meisten?
Da gibt es einige Baustellen. Definitiv im Umgang mit Kultur- und Geschlechter-Vielfalt. Aber auch eine HIV-Infektion ist heute zwar sehr gut behandelbar, dafür ist aber eine konstante ärztliche Behandlung und ein gutes Monitoring überlebensnotwendig. Immer wieder werden Menschen mit HIV mit Ungleichbehandlung und Vorurteilen im Gesundheitswesen konfrontiert. Gründe dafür sind meist mangelndes Wissen oder geringe Sensibilität im Umgang mit einer gesellschaftlich immer noch stark stigmatisierten Erkrankung. Und trans Menschen berichten von unterschiedlichsten negativen Erfahrungen in der gesundheitlichen Versorgung: falsche Annahme oder Zuschreibung von geschlechtlicher Identität, mangelndes Fachwissen oder Unwissenheit von medizinischem Personal, Ignoranz gegenüber speziellen Bedarfen etc.