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Schwule Filmgeschichte

Ein Treffen mit Pjotr Tschaikowsky

Heute vor genau 50 Jahren – am 24. Januar 1971 – feierte Ken Russells Spielfilm "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" seine Premiere. Tschaikowskys Homosexualität bekam hier viel Raum.


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) gilt als einer der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts

Bevor es um diesen Film geht, bietet es sich an, einige Hintergründe aus dem Leben des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) zu erzählen. Er war schon zu Lebzeiten international bekannt und gilt heute in Russland als bedeutendster Komponist des 19. Jahrhunderts. Mit "Schwanensee", "Dornröschen" und "Der Nussknacker" schrieb er drei der berühmtesten Ballette der Musikgeschichte.

Sein Tod mit nur 53 Jahren ist bis heute ungeklärt. Es ist möglich, dass sich Tschaikowsky mit der damals grassierenden Cholera infizierte, als er am 20. Oktober 1893 aus Unachtsamkeit in einem Restaurant ein Glas nicht abgekochtes Wasser trank. Es erscheint auch möglich, dass sich Tschaikowsky mit Arsen vergiftete, das er möglicherweise mit einem Glas Wasser einnahm, nachdem er mit dem Hinweis auf seine Homosexualität dazu gedrängt wurde, sich das Leben zu nehmen.

Tschaikowskys Liebe zu Iossif Kotek


Pjotr Tschaikowsky (r.) mit seinem Liebhaber Iossif Kotek (l.)

Für mehrere Jahre hatte Tschaikowsky eine Beziehung mit einem ehemaligen Schüler, dem Violinisten Iossif Kotek (1855-1885). Im Januar 1877 beschrieb Tschaikowsky seine Gefühle in einem Brief an seinen Bruder so: "Ich bin so verliebt, wie ich es lange nicht war. […] ich kenne ihn schon seit sechs Jahren. Ich habe ihn immer gemocht und war einige Male dabei, mich zu verlieben. […] Jetzt habe ich den Sprung gemacht und mich unwiderruflich ergeben. Wenn ich stundenlang seine Hand halte und mich quäle, ihm nicht zu Füßen zu fallen, […] ergreift mich die Leidenschaft mit übermächtiger Wucht, meine Stimme zittert wie die eines Jünglings und ich rede nur noch Unsinn." Seine geheim gehaltene Homosexualität, auch das wird aus den Briefen deutlich, stellte für Tschaikowsky eine psychische Belastung dar.

Sein ebenfalls schwuler Bruder Modest Tschaikowsky


Modest Tschaikowsky (1850-1916)

Pjotr Tschaikowsky fühlte sich mit seinem Bruder Modest Tschaikowsky (1850-1916) nicht nur durch seine künstlerischen Neigungen, sondern auch durch seine Homosexualität verbunden, und es ist Ausdruck eines großen Vertrauensverhältnisses, dass er sich mit seinem Bruder auch über seine homoerotischen Gefühle austauschen konnte.

Modest Tschaikowsky schrieb nach dem Tod seines Bruders eine ausführliche Biografie über ihn in drei Bänden, erschienen 1900 bis 1902; die deutsche Ausgabe erschien in zwei Bänden 1900 und 1903 mit dem Titel "Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowsky's" (hier online, Teil 1 und Teil 2). Was darin jedoch fehlt, sind Pjotr Tschaikowskys Briefe, die sich wie der oben zitierte auf seine Homosexualität beziehen.

Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb 2013, dass 248 Briefe, die auf Pjotr Tschaikowskys Homosexualität schließen lassen, in der Sowjetunion jahrzehntelang unter Verschluss gehalten wurden, bis sich 1995 Musikwissenschaftler "Zugang zum unzensierten Briefwechsel der Tschaikowski-Brüder" verschafften. Dabei zitiert die Zeitung aus einem Brief vom 28. September 1876 von Pjotr Tschaikowsky an seinen Bruder: "Ich bin die Tage sogar aufs Land gefahren, zu Bulatow, dessen Haus nichts anderes ist als ein päderastisches Bordell. […] ich habe mich […] verliebt in seinen Kutscher!!!"

Die Tschaikowsky-Rezeption in der frühen Homosexuellenbewegung

Obwohl die Briefe der beiden Brüder noch nicht bekannt waren, war sich die frühe Homosexuellenbewegung schon vor rund 100 Jahren Tschaikowskys Homosexualität sicher. Gleichzeitig waren die damals vorliegenden Informationen nicht so substanziell, dass sie ein großes Thema sein konnten. Albert Moll erwähnt Tschaikowsky in seinem Buch "Berühmte Homosexuelle" (1910, S. 64). Magnus Hirschfeld schreibt in seinem Werk "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914) von einem "einwandfrei homosexuellen Tschaikowsky" (S. 510), der überdurchschnittlich männlich gewesen sei (S. 511). Er sei homosexuell "nach eigenem Bekenntnis" gewesen und sein Leben solle "durch Selbstmord geendet haben" (S. 671).

Spannender ist ein Hinweis im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (1904, 6. Jg., S. 738), dass dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee 40 Reichsmark gespendet wurden – von "Modest Tschaikowski, [aus] Klin bei Moskau". Es gab zwar schon früher das, was man heute ein "Faker-Profil" nennt – wenn zum Beispiel Spenden von einem "Dorian Gray" verbucht wurden. Eine solche pseudonyme Namensangabe hätte sich aber nur bei "Peter Tschaikowski" angeboten.

Dass Modest Tschaikowsky die homosexuelle Interessenvertretung in Deutschland von Russland aus unter seinem richtigen Namen finanziell unterstützte, ist bemerkenswert und als mutig anzusehen. Aufgrund der vielen internationalen Kontakte des WhK ist es zwar nicht erstaunlich, dass Modest Tschaikowsky das WhK kannte, aber schon, dass er als WhK-Spender seinen richtigen Namen veröffentlichen ließ. "Klin bei Moskau" ist eine russische Ortschaft, in der Modest Tschaikowski nach dem Tode seines Bruders (1893) dessen Anwesen kaufte und dort das Tschaikowsky-Museum gründete. Dieses Museum bzw. das "Tschaikowsky-Haus" in Klin gibt es bis heute – es ist allerdings zurzeit wegen Corona geschlossen.

Der Film "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" (1971)

Der Anlass für diesen Artikel ist das 50. Jubiläum der Premiere des britischen Films "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" (24. Januar 1971), der in der Originalfassung auch online verfügbar (aber hier aufgrund einer nicht nachvollziehbaren Altersbeschränkung nicht einbettbar) ist. Er ist ein Biopic über Pjotr Tschaikowsky und schildert, wie der Komponist seine homosexuellen Tendenzen bekämpft, indem er eine Frau heiratet, die er nicht liebt. Später verlässt er sie und verfällt dem Wahnsinn. (Sein Wahnsinn ist dabei eine unhistorische Legende.) Ein Großteil des Films wird ohne Dialoge gespielt. Rückblenden, Albträume und Fantasie-Sequenzen werden mit Tschaikowskys Musik hinterlegt.

Tschaikowskys Homosexualität bekommt in diesem Film einen breiten Raum und wird als gegeben dargestellt. Eine Auseinandersetzung um dieses Thema findet anhand der fiktiven Filmfigur des homosexuellen Grafen Anton Chiluvsky statt. Chiluvsky wird als reich, selbstgefällig und – klischeehaft übertrieben – femininer Dandy dargestellt. Die diversen Szenen mit Tschaikowsky und Chiluvsky (u. a. ab 4:50; 26:00; 45:45; 53:10; 1:10:45; 1:37:35) lassen keinen Zweifel an ihrem anfänglichen sexuellen Verhältnis, auch wenn sich Tschaikowsky später von Chiluvsky abwendet und versucht, sein Glück in der Ehe mit einer Frau zu finden. Anton Chiluvsky erinnert ihn später – nicht besonders feinfühlig – daran, dass er doch eigentlich homosexuell ist. Es bleibt unklar, warum mit Chiluvsky eine fiktive homosexuelle Filmfigur erfunden wurde und Tschaikowskys tatsächlicher Geliebter Iossif Kotek im Film nicht vorkommt.


Eine Filmszene mit Pjotr Tschaikowsky (l.) und Anton Chiluvsky (r.)

Der Regisseur Ken Russell behauptete später, dass es genügt habe, der Produktionsfirma United Artists zu erzählen, dass die Geschichte von einem Homosexuellen handle, der sich in eine Nymphomanin verliebt, um die gewünschte Finanzierung zu erhalten. Vermutlich lag es aber vor allem an Russells kommerziell erfolgreichem Film "Liebende Frauen" (1969), den er kurz zuvor produziert hatte.

Bewertung von "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" (1971)

Ken Russell verstand es, Musikfilme zu drehen. Es gibt viele überzeugende Musikszenen, die er nach Tschaikowskys Musik choreografiert, so dass sich seine Bilder Tschaikowskys Musik unterordnen. Dazu gehört zum Beispiel die Anfangsszene, in der Tschaikowsky sein Leben genießt und schließlich mit Chiluvsky ins Bett fällt (00:25-4:30). Gleiches gilt für die Szenen, in denen er verzweifelt versucht, mit seiner Ehefrau zu schlafen (1:00:25-1:04:10), und später versucht, sich das Leben zu nehmen (1:16:35-1:18:45). Sehr überzeugend finde ich, wie sich Tschaikowsky beim Dirigieren langsam in sein eigenes Denkmal verwandelt (1:51:30).

Kritisiert wurde der Film, weil einige Traumsequenzen sehr drastisch angelegt sind. So sieht Tschaikowsky in einer Kindheitserinnerung, wie seine erkrankte Mutter starb, weil sie als angebliches Heilmittel gegen Cholera gewaltsam in kochendes Wasser getaucht wurde (29:10-30:15). Bei der berühmten "Ouvertüre 1812" werden in Erinnerung an die Napoleonischen Kriege gleich mehrere Köpfe mit Kanonen weggeschossen, was grotesk und auch ironisch gebrochen wirkt (1:50:45).

Wer von diesem Biopic verlässliche Angaben über Tschaikowskys Leben und eine ruhige russische Tragödie erwartet, hat sich den falschen Film ausgesucht. Man merkt schnell, dass Authentizität und historische Genauigkeit nicht das Hauptziel dieses Films sind. All das Wahnsinnige und Homosexuelle ist in diesem Biopic überbetont und dadurch besonders reizvoll. Der Film ist aufwendig und grell, meisterhaft ausjongliert in der Form, durch die er unterhält und dabei auch gehörig provoziert und schockiert. Er ist sowohl dramaturgisch als auch visuell atemberaubend, manchmal jedoch auch so schwer verständlich, dass vielleicht nur Ken Russell selbst ihn versteht.

Auch nach einem halben Jahrhundert ist der Film immer noch sehenswert, aber vielleicht ist "Film" oder "Biopic" auch eine irreführende Bezeichnung. Eigentlich ist es ein 123 Minuten langes Musikvideo und damit ein schöner Anlass, Tschaikowskys Musik mit allen Sinnen – und nicht nur mit den Ohren – neu zu erleben.


Anton Chiluvsky

Kommentare zum Film

Die mehr als 40 Userkommentare in der IMDB zu diesem Film fand ich hinsichtlich der Bedeutung des Themas Homosexualität aussagekräftiger als die Rezensionen in den etablierten Medien. Ich habe deshalb einige von ihnen frei übersetzt, hier neu zusammengestellt und in runden Klammern die Usernamen genannt.

"Chamberlain [Richard Chamberlain, der Hauptdarsteller] hat Tschaikowsky mit all seinen emotionalen Energien dargestellt, die sich nicht nur auf seine Musik, sondern auch auf seine privaten persönlichen Qualen beziehen. Er konnte niemals das haben, was die Gesellschaft für 'normal' hält" (jk_thompson).

"Russells exzessiver Stil kontrastiert dabei die höchste Schönheit von Tschaikowskys Musik mit dem turbulenten und gequälten Leben, aus dem sie hervorging" (ags123).

"Möglicherweise hat ihn erst sein Ehe-Debakel dazu gezwungen, sich der vollen Wahrheit über seine Sexualität zu stellen" (ma-cortes).

"Dieser Film ist so dekadent und dramatisch wie Tschaikowskys Musik. Die Kamera schwebt und gleitet mit der Musik, wobei Tschaikowsky nicht nur von seiner Frau und dem Tod seiner Mutter, sondern auch von seiner unterdrückten Homosexualität in den Wahnsinn getrieben wird" (Torz-2).

"Die Sexszenen von Tschaikowski sind übertrieben und angesichts von Chamberlains geheimer Homosexualität ist alles ein sehr ergreifender Camp-Surrealismus" (SnoopyStyle).

"Dabei spürt man, dass Chamberlain, der sich Jahrzehnte später outete, eine gewisse Verwandtschaft mit dem in diesem Film vorgestellten Tschaikowsky empfand" (SciFiSly).

"Ich brauche mehr Ken Russell in meinem Leben. Seine Filme sind seltsam, einzigartig, cool, wild, modern, widerlich, einfühlsam, unangenehm und urkomisch. Das Herz, das dieser Film für nicht offen schwule Menschen hat, ist seiner Zeit so weit voraus" (matthewssilverhammer).

"Tschaikowski wird als grausam gegenüber seinem wahren Liebhaber, dem aufrichtigen Grafen Anton Chiluvsky, geschildert. Tschaikowski griff auf Posen der Macho-Männlichkeit zurück, um seine wahre Natur zu maskieren. Sein Unvermögen, sich selbst treu zu sein, tötete ihn; sicherer als jeder öffentliche Skandal" (philip-davies31).

"Tschaikowsky war im 19. Jahrhundert ein schwules Genie, was für ein Kampf das gewesen sein muss. Dieser Film ist eine Hommage an ihn [...] als schwuler Mann" (Jerry-70896).

"Es ist Russells Vision des Paradieses und der Hölle auf Erden und lässt nicht diese weltliche Langeweile und Anbetung zu, die mit den meisten Biographien einhergeht" (st-shot).

"Die Szene, in der sich Glenda Jackson [die Darstellerin von Tschaikowskys Ehefrau] entblößt, während ihr unglücklicher Ehemann – begleitet von der Symphonie Pathétique – entsetzt in ihre Unterregion blickt, ist eine bizarre Szene" (mkb-8).

Schwule Filmlexika

Die Angaben in schwul-lesbischen Filmlexika zu diesem Film ergeben ein recht gemischtes Bild. Einige von ihnen möchte ich kurz erwähnen: In Vito Russos "The Celluloid Closet" (1981) (deutsch: "Die schwule Traumfabrik", 1990) wird der Film zwar im Register genannt, inhaltlich aber nicht besprochen. Hermann J. Huber beschreibt den Film in seinem Buch "Gewalt & Leidenschaft. Das Lexikon Homosexualität in Film und Video" (1989, S. 218) mit den Worten, dies sei ein "typisch vorsichtiger Ken-Russell-Film", was angesichts weggeschossener Köpfe und anderer Gewaltorgien eine recht merkwürdige Einschätzung ist.

Das Lexikon "Images in the Dark. An Encyclopedia of Gay and Lesbian Film and Video" (1996) hebt den Film gleich an zwei Stellen hervor: Zuerst wird bei den "Favorite Directors" der Regisseur Ken Russell wegen seiner extravaganten Erzählung gelobt (S. 116). Bei den "Favorite Stars" wird beim Schauspieler Richard Chamberlain noch einmal auf diese bizarre und verzaubernde Musikerbiografie verwiesen, die zwar nicht jedermanns Geschmack, aber durch ihre Energie und ihre Emotionen überwältigend sei (S. 175).

Der Regisseur Ken Russell

Der britische Regisseur, Produzent und Schauspieler Ken Russell (1927-2011) gilt heute als einfallsreicher Exzentriker, dem mit "Liebende Frauen" (1969) sein Durchbruch als Spielfilmregisseur gelang. Zum 50. Jahrestag der Premiere von "Liebende Frauen" habe ich hier vor 14 Monaten eine Rezension zu diesem Film geschrieben und dabei auch die Gemeinsamkeiten mit Russells "Der Regenbogen" ausgeführt.

Russell ist heute vor allem wegen mehrerer Musikerbiografien bekannt, wozu neben dem Tschaikowsky-Film auch seine Filme über die Komponisten Gustav Mahler ("Mahler", 1974) und Franz Liszt ("Lisztomania", 1975) gehören. Im homosexuellen Zusammenhang sind auch noch seine Filme "Valentino" (1976/1977) und "Salomes letzter Tanz" (1988) zu erwähnen. In der schwulen und lesbischen Filmgeschichte hat Ken Russell heute einen festen Platz.

Der Hauptdarsteller Richard Chamberlain

Pjotr Tschaikowsky wurde im Film von dem Schauspieler und Sänger Richard Chamberlain (*1934) verkörpert, der durch den kommerziell erfolgreichen Fernseh-Mehrteiler "Die Dornenvögel" (1983) breit bekannt wurde. Über mehrere Jahrzehnte hatte er in Martin Rabbett einen langjährigen Lebenspartner, der auch als Agent, Produzent und Regisseur für Chamberlain tätig war. Im Dezember 1989 wurde Chamberlain durch die französische Frauenzeitschrift "Nous deux" geoutet. In einem Interview 1991 sprach er erstmals selbst über sein "Versteckspiel". Im Jahre 2003 erschien seine Autobiografie "Shattered Love", in der er auch ausführlich auf sein homosexuelles Leben bzw. die Gründe seines Doppellebens einging. 2010 trennte sich Richard Chamberlain – nach über 30 Jahren – von seinem Lebenspartner Martin Rabbett (queer.de berichtete).

Für die Rolle Tschaikowskys wurde der US-Schauspieler Chamberlain u.a. engagiert, weil er seit 1968 in England wohnte und ein erfahrener Klavierspieler war. Vermutlich war es also nur ein Zufall, dass in diesem Film ein nicht geouteter Schauspieler einen nicht geouteten Komponisten verkörperte. Trotzdem bleibt eine Frage: Inwiefern wird Richard Chamberlain bei den Dreharbeiten wohl auch seine eigene Situation reflektiert haben? Ich habe mir diese Frage auch bei der (mittlerweile offen) lesbischen Schauspielerin Ulrike Folkerts gestellt. Als Kriminalkommissarin Lena Odenthal setzt sich Folkerts in der "Tatort"-Folge 440 (2000) in einem längeren Gespräch mit einem Mann über dessen verschwiegene Homosexualität auseinander (1:18:10-1:26:50) und versucht ihn später – nach dem Outing durch die Medien – zu trösten (hier online, 1:35:30). Odenthal: "Vielleicht ist es ja irgendwann mal möglich ..." Es war die Zeit, in der sich auch Ulrike Folkerts outete.

Die Schauspielerin Glenda Jackson


Glenda Jackson als lesbische Zofe (1975)

Die britische Schauspielerin Glenda Jackson (*1936) hatte für ihre Darstellung der Ehefrau eines homosexuellen Mannes in "Liebende Frauen" (1969) einen Oscar gewonnen. In diesem Film tut sie in einer kurzen spielerischen Szene so, als wäre sie Antonina Milyukova, die Frau des homosexuellen Komponisten Tschaikowsky. In Russells "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" (1971) verkörperte sie dann zwei Jahre später tatsächlich diese Ehefrau.

Mit dem Regisseur Ken Russell war sie nicht nur durch diese beiden Filme verbunden, sondern sie spielte auch in Russells Filmen "Salomes letzter Tanz" und "Der Regenbogen" mit, auf die ich in meinem früheren Artikel über "Liebende Frauen" auf queer.de bereits eingegangen bin. Auch ihre schauspielerischen Leistungen als Alex in dem schwulen Film "Sunday, Bloody Sunday" (1971) und als die lesbische Solange in "Die Zofen" (1975, engl. Fassung: "The Maids") nach Jean Genet sind zu erwähnen.

Weitere Filme über Tschaikowsky


Tschaikowskys "Schwanensee" in "Liebe! Stärke! Mitgefühl!" (1997)

Um die Bedeutung der Homosexualität im Film "Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn" (1971) besser einschätzen zu können, bietet sich ein Vergleich mit einigen anderen Tschaikowsky-Filmen an, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Zu den ältesten Filmen gehört das deutsche Melodram "Es war eine rauschende Ballnacht" (1939) mit Zarah Leander in der Hauptrolle. Dieser Film basiert nur lose auf Tschaikowskys Leben und hat mit den wahren Begebenheiten rund um seine Person nur wenig zu tun.

Kleiner fun fact am Rande: In den USA kam der Film als "It was a Gay Ballnight" in die Kinos – viele Jahrzehnte bevor in den USA mit "gay" Homosexuelle bezeichnet wurden. Der Film "Tschaikowsky" bzw. "Tchaikovsky" (1970) wird online angeboten. In diesem russischen Film wird in leider erwartbarer Form auf seine Homosexualität nicht Bezug genommen.

Jahrzehnte später – 2007 – findet eine zweiteilige BBC-Serie den selbstverständlichen Umgang mit Tschaikowskys Homosexualität, wie man ihn in neueren Produktionen erwarten kann. Auch diesen Zweiteiler gibt es als "Tchaikovsky: The Creation of Genius" und "Tchaikovsky: Fortune and Tragedy" online zu sehen. Bei diesem Film wird allenfalls noch darüber diskutiert, wie gut oder schlecht Tschaikowskys Homosexualität eingebunden wurde. Ein User schrieb in der IMDB, dass einige Zuschauer*innen den Fokus auf Tschaikowskys Sexualität wohl übertrieben finden würden, während andere die Einsicht teilen, dass gerade sie die Leidenschaft von Tschaikowsky für die Musik gut erklären könne. Für einen anderen User waren die Szenen über das Sexleben des Komponisten überflüssig und wirkten auf ihn nur wie Füllmaterial.

Vielversprechend ist ein Trailer von Ralf Plegers Film "Die Akte Tschaikowsky. Bekenntnisse eines Komponisten" (2016, 52 Min., hier Trailer), den es auch als Kauf-DVD (Amazon-Affiliate-Link ) gibt. Dieser Dokumentarfilm versucht den russischen Komponisten anhand seiner mittlerweile bekannten Tagebücher und Briefe in die Gegenwart zu holen und damit eine Art Profil des Mannes zu erstellen, dessen "Geist und Talent uns den Schwanensee gebracht" habe. Was hat es für den homosexuellen Tschaikowsky wohl bedeutet, sein Leben in einer homophoben Umgebung leben zu müssen? Angesichts der politischen und sozialen Situation von Schwulen und Lesben in Putins Russland sind das für den Regisseur auch aktuelle Überlegungen.

Man spürt deutlich, wie sich die Erinnerung an den Komponisten Tschaikowsky mit den Jahren verändert hat und immer auch vom eigenen Standpunkt abhängig ist. Filmische Entwicklungen sind auch dort ablesbar, wo es nicht um den Komponisten selbst, aber um eine Ballettaufführung von "Schwanensee" geht, was wohl in Spielfilmen fast immer auch als Referenz auf Tschaikowsky angesehen werden kann. In dem homoerotischen Film "Michael" (1924) ist eine solche Ballettaufführung zumindest eine passende Untermalung und kann auch als vorsichtige homosexuelle Andeutung angesehen werden. In dem Film "Liebe! Stärke! Mitgefühl!" (1997) ist die Ballettaufführung von "Schwanensee" 73 Jahre später Ausdruck einer neuen Generation von mittlerweile selbstbewussten schwulen Männern.

Tschaikowskys Musik ist mittlerweile in mehr als 1.200 Filmen als Soundtrack zu hören. Das liegt vermutlich nicht nur daran, dass seine Melodien bekannt und populär, sondern auch rechtefrei sind. Zu diesen Filmen gehören "Liebende Frauen" (1969), "Maurice" (1987), "Edward II" (1991), "To Wong Foo. Thanks for Everything" (1995) und "Billy Elliot" (2000).

Was von Tschaikowsky bleibt …

… ist vor allem sein musikalisches Werk, das auch noch 125 Jahre nach seinem Tod verzaubern kann. Ballettfans schwärmen bis heute vom Höhepunkt in "Schwanensee", wenn in der Musik alle Verzweiflung der betrogenen Schwanenprinzessin spürbar wird. Können wir aus seiner Musik auch eine schwule Sehnsucht und Leidenschaft heraushören? Kann uns ein 50 Jahre alter Film dabei helfen, uns mit einem Mann zu identifizieren, der vor 150 Jahren in Russland musikalische Erfolge feierte?

Das Schlusswort soll ein User aus der IMDB haben (Eintrag von zounds82), dem Pjotr Tschaikowsky erstaunlich nah ist und der dort schrieb: "Der Film bleibt in meinem Kopf lebendig. Vielleicht liegt das daran, dass ich mich gerade mit meiner Homosexualität auseinandersetzte, als ich ihn mit 17 sah. Die visuellen Bilder haben sich bei mir eingebrannt und werden es für den Rest meines Lebens bleiben. Kein anderer Russell-Film hat mich so beeindruckt, was vielleicht mit meiner Liebe zu Tschaikowskys Musik und meiner Identifikation mit seinen Kämpfen zu tun hat. Wie gerne hätte ich Tschaikowsky getroffen!"

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#1 FreiheitsliebeAnonym
  • 24.01.2021, 09:05h
  • >>> Seine geheim gehaltene Homosexualität, auch das wird aus den Briefen deutlich, stellte für Tschaikowsky eine psychische Belastung dar. <<<

    >>> Es erscheint auch möglich, dass sich Tschaikowsky mit Arsen vergiftete, das er möglicherweise mit einem Glas Wasser einnahm, nachdem er mit dem Hinweis auf seine Homosexualität dazu gedrängt wurde, sich das Leben zu nehmen. <<<

    Da sieht man wieder mal, was Homophobie und Unfreiheit anrichten. Da werden Psychen und Menschen systematisch zerstört.

    Umso wichtiger ist es, dafür zu kämpfen, dass der Umgang mit Homosexualität weiter normalisiert wird und eine Enttabuisierung stattfindet, so dass das irgendwann ganz alltäglich ist und so wenig ein Thema wie die Augenfarbe eines Menschen.
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#2 StaffelbergblickAnonym
  • 24.01.2021, 16:47h
  • "Er ist sowohl dramaturgisch als auch visuell atemberaubend, manchmal jedoch auch so schwer verständlich, dass vielleicht nur Ken Russell selbst ihn versteht." JAAAAAAAAAAAA ..... ich hatte den Film so um 1973 -1974 gesehen und ziemliche Problem mit der bekannten Frage "Was will uns der Autor damit sagen?"
    Was mir wiederum in dem hier ebenfalls genannten Film "Sunday, bloody Sunday" nicht passierte. Auch hier spielt Russell sehr mit der Musik: Der junge bisexuelle Liebhaber und Künstler hinterlässt im Garten seines Freundes eine Installation bevor er sich nach New York begibt ... um sich aus der Affäre zu ziehen, unterlegt mit Mozarts wehmutsvollem "Weht sanft, Ihr Winde, seid still, ihr Wellen" aus "Cosi fan tutte". Nur geht es in "Cosi" um den Beginn einer fragwürdigen Wette.
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#3 Carsten ACAnonym
  • 24.01.2021, 21:23h
  • Ich finde es immer noch befremdlich, dass in seiner Heimat nach wie vor so getan wird, als sei ihr Nationalheld nicht schwul gewesen.

    Das ist doch mittlerweile wirklich nicht mehr zu leugnen.
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#4 Homonklin_NZAnonym
  • 25.01.2021, 05:58h
  • ""Ich bin die Tage sogar aufs Land gefahren, zu Bulatow, dessen Haus nichts anderes ist als ein päderastisches Bordell.""

    Solche Eröffnungen haben wohl daran Schuld, dass der Musiker im weniger differenzierten Kreis vor allem als Pädophiler verschrien, und teils geschmäht steht. So blieb er mir lange Zeit, obwohl ich als Junge gern klassische Musik hörte, eher verschlossen.

    Vielleicht ist es einmal möglich - diesen Satz hatte ich bald 45 Jahre mit mir herum getragen, als das möglich wurde. Doch dann war man verblüht und zu uninteressant dafür, hat sich als ungeeignet erkrannt.
    Es bleibt jedoch der Traum, dass es vielleicht einmal möglich sein mag, man selbst, und so zu sein. Ohne das Gift der Gesellschaft verabreicht zu bekommen, wie es dem Tschaikowski vermutlich wirklich aufgedrängt wurde, wenn, dann in Form des Arsen.

    * Das war zu seiner Zeit allerdings auch ein beliebter Zusatz von Medikamenten, oder, wenn es das so besser beschreibt, Allheilmittel- Empfehlungen für allerlei Quacksalberkuren, sodass er es vielleicht ob seiner psychischen Belastung und Gefühlen, die in Melancholien münden mochten, so verwendet haben kann.
    (In ganz geringen Mengen ist es aber noch heute aufzufinden,da Als Spurenelement Teil organischer Stoffwechselprozesse, im Nanogrammbereich auch in der Luftumgebung, oder im Grundwasser gelöst. Die Menge machts)
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