Hauptmenü Accesskey 1 Hauptinhalt 2 Footer 3 Suche 4 Impressum 8 Kontakt 9 Startseite 0
Neu Presse TV-Tipps Termine
© Queer Communications GmbH
https://queer.de/?38112

Selbstbestimmungsgesetz

Transrechte sind Menschenrechte! Eine Replik auf Götz Aly

Der grüne Bundestagabgeordnete Sven Lehmann antwortet auf die diffamierende Kolumne "Grün-gelbe Dekadenz in Corona-Zeiten" in der "Berliner Zeitung".


In vielen Ländern der Welt kämpfen Aktivist*innen für einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle Menschen (Bild: Ted Eytan / flickr)
  • Von Sven Lehmann
    9. Februar 2021, 15:06h 17 4 Min.

Die Kolumne "Grün-gelbe Dekadenz in Corona-Zeiten" von Götz Aly erschien am 2. Februar 2021 in der "Berlner Zeitung"

Die Kolumne von Götz Aly "Grün-gelbe Dekadenz in Corona-Zeiten" könnte man als einen Beweis der gesellschaftlichen und rechtspolitischen Ahnungslosigkeit ignorieren. Da der Autor sich jedoch auf Kosten von trans­geschlechtlichen Menschen über ein längst überfälliges Reformvorhaben lustig macht und darüber hinaus Sachzusammenhänge falsch darstellt, ist eine Replik erforderlich.

Es gibt zahlreiche Entscheidungen des Bundes­verfassungs­gerichts zur geschlechtlichen Identität, die dem Autor offensichtlich unbekannt sind. Die Frage, welchem Geschlecht sich ein Mensch als zugehörig empfindet, betrifft einen Bereich, den das Grundgesetz als Teil der Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz gestellt hat. Dies folgt aus der Achtung der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Jede Person kann daher von den staatlichen Organen die Achtung dieses Bereichs verlangen. Das schließt die Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren.

Die Behauptung, die Verfasser*­innen des grünen Selbst­bestimmungs­gesetzes "betrachten das Wort Geschlecht als verwerfliches 'binäres Konstrukt' vergangener Zeiten" ist komplett falsch. Gerade weil das Geschlecht für viele eine wichtige Kategorie ist, haben wir Grüne ebenso wie die FDP einen Gesetzentwurf vorgelegt, die sie mit dem Selbst­bestimmungsrecht in Einklang bringen soll. Und es war ausgerechnet das Bundes­verfassungs­gericht in seiner Entscheidung zu inter­geschlechtlichen Menschen, das dem Gesetzgeber vorgeschlagen hat, er könnte sogar auf einen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag generell verzichten. Sollte er aber auf die Erfassung des Geschlechtseintrages bestehen, müsse er die Geschlechts­identität aller Menschen anerkennen. Und diese ist eben nicht binär.


Sven Lehmann ist queerpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag (Bild: Deutscher Bundestag / Achim Melde)

Im Übrigen benötigt ein erwachsener Mensch nach den derzeitigen gesetzlichen Regelungen seit einer Entscheidung des deutschen Bundes­verfassungs­gerichtes vom 11. Januar 2011 schon keine operative oder hormonelle Geschlechts­angleichung mehr, um seinen Personenstand zu ändern. Jedoch ist es vielen trans­geschlechtlichen Menschen auch ein Bedürfnis, ihren körperlichen Status zu ändern.

- w -

Der grüne Entwurf eines Selbstbestimmungsgesetzes hat zudem nichts mit "Dekadenz" zu tun. Er ist vielmehr der Ausdruck einer menschenrechtsbasierten Politik, die einer der vulnerabelsten Gruppe unserer Gesellschaft das Leben erleichtern soll. Nach Zahlen des Deutschen Jugendinstituts machen 96 Prozent der transgeschlechtlichen Jugendlichen Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Identität. Laut der im Mai 2020 von der EU-Grundrechte-Agentur veröffentlichten zweiten großen LSBTI-Studie trauen sich nur 7 Prozent der transgeschlechtlichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17, offen in der Schule mit ihrer Identität umzugehen. Und 17 Prozent aller transgeschlechtlichen Menschen haben in den letzten fünf Jahren einen physischen oder sexuellen Übergriff erlebt.

Deshalb soll das grüne Selbstbestimmungsgesetz das unwürdige Verfahren zur Änderung eines Personenstandes und dementsprechend der Vornamen erleichtern und die derzeit bestehenden, unbegründeten Hürden wie Gerichtsverfahren und Begutachtungszwang zum "Beweis" einer vorliegenden Transgeschlechtlichkeit abschaffen.


Götz Aly, Jahrgang 1947, ist Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist. (Bild: Dontworry / wikipedia)

Vonseiten der Psychiater*­innen und Psycholog*­innen selbst wird inzwischen verstärkt vertreten, die geltende Begutachtungspflicht solle abgeschafft werden. Die Begutachtung ergibt nur in unter 1 % der Fälle eine Verneinung – so die Zahlen aus einer vom Bundesfamilienministerium im Auftrag gegebene Studie. Die Geschlechts­identität eines Menschen kann ohnehin nicht fremdbegutachtet werden, die Begutachtung kann insofern immer nur wiedergeben, was der Mensch über sich selbst berichtet.

Wer welche hormonellen und/oder operativen Eingriffe an seinem Körper vornehmen lassen darf, wird im vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht geregelt. Darüber soll – wie bei anderen medizinischen Leistungen – der Gemeinsame Bundesausschuss, als höchstes Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, entscheiden. Nicht der Gesetzgeber. Um dies zu erkennen, müsste der Autor aber den ganzen Gesetzentwurf lesen. Das war offensichtlich zu viel verlangt.

In den Staaten, die ähnliche Selbst­bestimmungsregelungen eingeführt haben, wie Argentinien (2012), Dänemark (2014), Malta (2015), Irland (2015), Norwegen (2016) und Belgien (2018), gibt es bislang keine Berichte über Missbrauchsfälle. Offensichtlich sind solche nur Produkt einer ignoranten Fantasie des Autors, der keine Ahnung hat, wie schwer das Leben einer trans­geschlechtlichen Person sein kann. Es würde reichen, mit einer von ihnen zu sprechen, um zu erfahren, dass niemand eine Änderung seines Geschlechtseintrages unüberlegt oder aus Spaß macht. Auch das war offenbar zu viel verlangt. Von daher zeigt die Kolumne nicht nur eine überhebliche, sondern auch eine ignorante Sichtweise auf Trans­geschlechtlich­keit frei von jeder Sachkenntnis.

Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass ich die diffamierende Art und Weise, in der auf die Person Anastasia Biefang, inklusive der Nennung ihres "Deadnames" Bezug genommen wird, höchst befremdlich finde. Sie zeugt von wenig Achtung vor dem Persönlichkeitsrecht von Frau Biefang und ist ein Beleg dafür, wieviel gesellschaftspolitisch für die Akzeptanz von trans­geschlechtlichen Menschen noch zu tun ist.

Sven Lehmann hatte diese Replik erst der "Berliner Zeitung" geschickt. Weil Redaktion und Verlag bis zum 9. Februar nicht reagierten, bot er sie queer.de zur Veröffentlichung an. Einen Tag (und einen Shitstorm) später erschien sie unter der Überschrift "Kampf für Transrechte ist kein Zeichen der Dekadenz" dann auch bei den Kolleg*­innen in der Hauptstadt.

-w-

#1 valerie
  • 09.02.2021, 17:16hLeipzig
  • Danke.

    Es ist ein Armutszeugnis für die Berliner Zeitung, dass sie diese Replik nicht abdrucken wollte. Das gehört eigentlich zum guten journalistischen Ton. Man wollte dem Leser wohl keine gegensätzlichen Meinungen und damit die Notwendigkeit des Selbst-Denkens zumuten.

    Die Möglichkeit für Jugendliche, schon ab 14 und ohne die Zustimmung ihrer Eltern selbstbestimmt ihren Körper zu wählen, halte ich für einen wichtigen Schritt. Stellt euch mal schwule oder lesbische Jugendliche vor, die sich mit 15 outen wollen und denen man sagt: "Nein, das kannst du noch nicht wissen, warte mal noch paar Jahre." Das kann tatsächlich nur jemand wollen, der noch nie sowas sprichwörtlich am eigenen Leibe erfahren musste. Aus Spaß lässt sich bestimmt niemand operieren.

    PS Die imaginierten Frauensaunabesuche von Herrn Aly lassen tief blicken.
  • Direktlink »
#2 Nesiree DickAnonym
  • 09.02.2021, 17:40h
  • Antwort auf #1 von valerie
  • Die Thesen der selbsternannten Madame Aly sind einfach unterirdisch. Was schreibt diese Person da schon wieder für einen Quatsch mit ihrer Sauna-Story, den Busentragenden usw.?
    Immer auf einer Welle der Faszination für ganz Rechts gepaart mit ganz Links. Gruselig!
    Weiß nicht, welche Drogen die Gute genommen hat, aber man sollte ihre Texte einfach nicht mehr abdrucken.
    Berliner Käseblättchen: Shame on you.
  • Direktlink »
#3 YannickAnonym
  • 09.02.2021, 18:11h
  • Ganz schlechter Stil von der "Berliner Zeitung", so eine krude Herabwürdigung von Trans-Personen zu drucken, dann aber keine Replik darauf zu drucken.

    Das hat mit Neutralität und Ausgewogenheit nichts zu tun. Solche Printmedien dürfen sich dann auch nicht wundern, wenn es ihnen immer schlechter geht. Denn wenn kostenpflichter Journalismus nicht auch die Vorteile bietet, die er gegenüber der Gratis-Kultur des Internet haben könnte, dann gibt es keinen Grund, für tendenziöse, faktenignorierende Berichterstattung auch noch Geld zu zahlen.
  • Direktlink »

Kommentieren nicht mehr möglich
nach oben
Debatte bei Facebook

Newsletter
  • Unsere Newsletter halten Dich täglich oder wöchentlich über die Nachrichten aus der queeren Welt auf dem Laufenden.
    Email: