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Jenseits von Venus und Mars

Der Gott Uranus und der Uranismus

Heute vor genau 100 Jahren – am 1. März 1921 – erschien erstmals die Homosexuellenzeitschrift "Uranos". Warum wurde sie nach dem gleichnamigen Gott benannt?


Uranus stellt in der griechischen Mythologie den Himmel in Göttergestalt dar

In diesem Jahr gibt es gleich drei gute Anlässe, sich mit dem griechischen Gott Uranus und seiner schwulen Bedeutung auseinanderzusetzen. Vor genau 100 Jahren erschien die erste Ausgabe der Homosexuellenzeitschrift "Uranos" (1921-1923), die an Karl Heinrich Ulrichs anknüpfte, der 1870 ein ähnliches Zeitschriftenprojekt mit dem Namen "Uranus" plante. Beide Zeitschriftentitel bezogen sich auf den Gott der griechischen Mythologie und auf Platons "Gastmahl".


Vor 100 Jahren erschien die "uranische" Monatsschrift "Uranos"

In einem ergänzenden Interview geht es um den Planeten Uranus, der vor genau 240 Jahren – am 13. März 1781 – entdeckt wurde, was das bisherige Denken über die Natur nachhaltig veränderte. Meine Berichterstattung stellt den ersten Versuch dar, die queere und vor allem schwule Uranus-Rezeption zusammenhängend darzustellen. Es geht um Liebe und Sexualität jenseits von Heterosexualität – also jenseits von Venus und Mars.

Die griechische Mythologie und die "Venus Urania"

In der griechischen Mythologie verkörpert der Gott Uranos (lateinisch: Uranus) den Himmel in Göttergestalt. Sein Sohn Kronos, so der Mythos, schnitt ihm das Geschlechtsteil ab und warf es ins Meer. Das Blut und das Sperma vermischten sich mit dem Meer, das aufschäumte und daraus Aphrodite (lateinisch: Venus) gebar, die als Göttin der Liebe und der sinnlichen Begierde verehrt wurde. Weil dieser Zeugungsakt ohne weibliche Beteiligung verlief, war er offen für spätere homosexuelle Interpretationen. Aufbauend auf dieser mythologischen Geschichte wurden von griechischen Autoren zwei Formen der Liebe unterschieden: Als "Aphrodite Urania" wurde die "himmlische" bzw. "spirituelle" oder geistige Liebe umschrieben, um sie von der "Aphrodite Pandemos", der irdischen Liebe und der körperlichen Lust, zu unterscheiden. Das Pendant zur griechischen Liebesgöttin Aphrodite ist die römische Liebesgöttin Venus. Die Bezeichnung "Venus Urania" ist daher mit "Aphrodite Urania" vergleichbar.


Die Kastration des Gottes Uranus auf einem Renaissance-Gemälde von Giorgio Vasari aus dem 16. Jahrhundert. Darauf folgte eine Zeugung ohne weibliche Beteiligung

Platons "Gastmahl" (416 v. Chr.)

Die späteren Bezeichnungen von Homosexuellen als "Urning" bzw. "Urninde" fußen auf dem "Gastmahl" bzw. "Symposion" (416 v. Chr.) des griechischen Philosophen Platon, das heute zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur gehört. In diesem Werk wird die griechische Mythologie zumindest aufgegriffen. Von den mehr als zehn Übersetzungen, die vom "Gastmahl" online verfügbar sind, habe ich mich mit denen der Philologen Friedrich Ast (1817, S. 112), Friedrich Schleiermacher (1824, S. 398-399) und Hieronymus Müller (1854, S. 281-282) näher beschäftigt. In diesen Übersetzungen steht Uranus für die "himmlische" und Dione für die "gemeine" – also die irdische, "gewöhnliche" – Liebe. Die "gemeine" und vor allem körperlich verstandene Liebe kann sich auf beide Geschlechter beziehen. Als himmlische Liebe wird dagegen die geistige Liebe von Männern zu "Knaben" verstanden. Um das Alter näher einzugrenzen, wird auf den ersten Bartwuchs verwiesen. Diese "himmlische" Liebe zu Knaben sei zu einer "Ausgelassenheit" (s. Ast), einem "Frevel" (s. Schleiermacher) bzw. einer "Ausschweifung" (s. Müller) gar nicht fähig. Es kommt hier nicht darauf an, wie realistisch dieses positive, entsexualisierte Bild gleichgeschlechtlicher Liebe war, sondern darauf, dass diese Vorstellung einer "edlen" und nicht an Sex interessierten Liebe ausschlaggebend für eine neue Terminologie wurde.

Ulrichs über "Urninge" und "Urninginnen" in seiner Schriftenreihe (1864-1880)

Der Homosexuellenaktivist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) bezog sich auf das "Gastmahl", als er in seiner zwölfteiligen Schriftenreihe vor mehr als 150 Jahren die Bezeichnungen "Urning" und "Urningin" für gleichgeschlechtlich liebende Männer bzw. Frauen kreierte. Zum Verständnis seiner neu geschaffenen Terminologie sind zwei Textstellen aus seiner ersten und zehnten Schrift hilfreich. In seiner ersten Schrift "Vindex" (1864) schrieb er: "Zur Schaffung neuer Ausdrücke glaubte ich schreiten zu müssen, weil das bisher wohl gebrauchte Wort 'Knabenliebe' zu der Mißdeutung Anlaß gibt, als liebe der Urning wirklich Knaben, während er doch junge Männer […] liebt. […] Meine Ausdrücke sind entstanden durch Umwandlung der Götternamen 'Uranus' und 'Dione'." Platon leite nämlich in seinem "Gastmahl" "den Ursprung der mannmännlichen Liebe ab vom Gott Uranus, den der Weiberliebe von der Dione" (Vindex, 1864, S. 2).

Ulrichs' Klassifizierungen bzw. Wortneuschöpfungen gingen weit über "Urning" und "Urningin" hinaus. Er verwendete u. a. – ebenfalls mit Bezug auf das "Gastmahl" – auch die Wörter "Urningthum" (Homosexualität), "Dioning" (heterosexueller Mann) und "Dioningin" (heterosexuelle Frau). Dabei griff er also auch bei Heterosexuellen auf "in" als typische weibliche Endung bei Substantiven zurück. Weniger bekannt sind Ulrichs' Ableitungen "Uranodioning" (männlicher Bisexueller), "Uranodioningin" (weibliche Bisexuelle), "Uraniaster" bzw. "uranisierter Mann" (heterosexuelle Männer, die sich in einer Notsituation homosexuell verhalten).

Ulrichs und seine geplante Schwulenzeitschrift "Uranus" (1870)

Eine seiner zwölf Schriften über Homosexualität stellt den ersten Versuch da, eine Zeitschrift für Homosexuelle zu begründen. Doch noch vor dem Erscheinen des ersten Heftes wurde dieser Plan aufgegeben und ein neues Titelblatt trat an die Stelle des schon gestalteten Titelblatts von "Uranus. Beiträge zur Erforschung des Naturräthsels des Uranismus". Und so wurde aus der geplanten Zeitschrift seine zehnte Schrift mit dem Namen "Prometheus".
In "Prometheus" stellt Ulrichs das Projekt vor und zitiert dabei aus Platons "Gastmahl" nach einem nicht genannten Übersetzer eine Stelle, die ich in dieser deutlichen Fassung bei den mir bekannten Übersetzern nicht gefunden habe und möglicherweise von Ulrich selbst stammt: "Urania dagegen hat nicht Theil an weiblich, sondern an männlich allein. Darum ist Urania's Eros die Liebe zu Jünglingen. Wer von diesem Gott berauscht ist, wird hingezogen zu dem, was männlich ist. Ihn zieht an, was von Natur das kraftvollere ist" ("Prometheus", 1870, S. 3).

Weil das Titelblatt der Zeitschrift "Uranus" existiert, ist schon häufig der falsche Eindruck entstanden, als hätte es zumindest das eine Heft vom Januar 1870 gegeben, das man als erste Homosexuellen-Zeitschrift der Welt hätte bezeichnen können. So heißt es auch auf der Homepage der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld nicht ganz richtig, dass "sich Karl Heinrich Ulrichs dadurch den Eintrag als Herausgeber der ersten Zeitschrift für Homosexuelle in den Geschichtsbüchern" gesichert habe. Von Ulrichs kennen wir auch den Grund, warum die Zeitschrift "nicht ins Leben getreten" ist: Es war der "Mangel an Abonnenten".

Wie Ulrichs über einige Jahrzehnte die Terminologie prägte

Auch in der ersten Zeit danach, als es noch keine Homosexuellenbewegung gab, können einzelne Schriften aufzeigen, wie Ulrichs mit "Venus Urania" und "Urninge" den Sprachgebrauch über Homosexualität prägte. Die gegen Ulrichs gerichtete (anonym erschienene) Hetzschrift "Das Paradoxon der Venus Urania" (1869) wird dem Würzburger Mediziner Alois Geigel (1829-1887) zugeschrieben. Er erklärt Ulrichs' Begriffe wie "Urning" (S. 12), macht sich aber auch über seine Wortschöpfungen wie "Uranodioning" lustig (S. 17). Dass Ulrichs sogar eine Zeitschrift mit dem Namen "Uranus" plante, wusste Geigel zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Übrigens: Geigel ging (ironisch und wohl scherzhaft) davon aus, dass man im Jahre 2000 "vielleicht so vorgeschritten sein wird, um urnische Ehen einzusegnen" (S. 14), was – hinsichtlich der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahre 2001 – erstaunlich gut geschätzt erscheint. In der emanzipatorischen Broschüre "Der Uranismus. Lösung eines mehrtausendjährigen Räthsels" (1882) äußert sich der Verfasser W. Bernhardi mit häufigen Verweisen auf Karl Heinrich Ulrichs zur rechtlichen Situation und zur Kulturgeschichte und empfiehlt dabei die Legalisierung von Homosexualität.

Ulrichs schaffte es mit seiner Terminologie später sogar in den "Duden", wobei er sich über die Erklärung allerdings nicht gefreut hätte: Im "Duden" bzw. im Nachschlagewerk "Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" (6. Auflage, 1900) wurde "Urning" so erklärt: "(angeblich zu Venus Urania) Knabenschänder" (S. 353). Damit wurde die emanzipatorische Bedeutung des Wortes "Urning" – ein Vierteljahrhundert nach seiner Erfindung – ins Gegenteil verdreht. Konrad Dudens Rechtschreibwörterbuch hatte sich seit seinem ersten Erscheinen 1880 schnell zur wichtigsten Grundlage der deutschen Rechtschreibung entwickelt.

Der Uranismus in der frühen Schwulenbewegung


Benedict Friedlaender: "Die Renaissance des Eros Uranios" (1904)

Wenn die junge Homo­sexuellenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Bezug auf die gleich­geschlechtliche Liebe die "Venus Urania", also die "himmlische" Liebe, betonte, so war das sicherlich der Versuch, diese zu "veredeln" und das Sexuelle nicht in den Vordergrund zu stellen – in der positiven Absicht, sich selbst besser zu akzeptieren. Es gibt viele Zeitschriftenaufsätze im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" und Bücher wie J. E. Meisners "Uranismus oder sogenannte gleich­geschlechtliche Liebe" (1906), die belegen, wie der Begriff von Homo­sexuellenaktivisten wie Ferdinand Karsch und Magnus Hirschfeld übernommen wurde.

Fokussieren möchte ich an dieser Stelle zwei Bücher: zum einen das von Benedict Friedlaender "Die Renaissance des Eros Uranios" (1904, hier zum Teil online), in dem der Autor auf Urninge und Dioninge eingeht (S. 57) und das vor allem ein spannendes Buchcover des Künstlers Paul Casberg-Krause bietet, das diesen Eros illustriert. Auf diesem Cover sind Ruinen zu sehen, die die Antike widerspiegeln sollen. In der Mitte sind auch Wolken oder Wellen zu sehen. Beides wäre passend, weil Wolken mit himmlischer Liebe assoziiert werden und der griechischen Mythologie zufolge Aphrodite bzw. Venus im Meer zur Welt kam. Dagegen stehen die rahmenden Jugendstil-Ornamente wohl nur mit dem Erscheinungsjahr des Buches in Verbindung.

Das zweite Buch ist Magnus Hirschfelds "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914, S. 3-39), wo es im ersten Kapitel um die Namen und Begriffe für Homosexualität (S. 3-39) und damit auch um Ulrichs geht (S. 6-10). Hirschfeld verweist auf die Veränderungen bei Ulrichs, der sich zuerst an der lateinischen ("Uranier", "Uranismus") und später an der deutschen Sprache ("Urning", "Urningtum") orientierte. Aus seiner "Urningin" wurde später die "Urnindin". Eine dezente Kritik schimmert durch, wenn Hirschfeld auf Ulrichs' "seltsame[n] Ausdrücke" (S. 7) und seine "komplizierte Nomenklatur" (S. 8) zu sprechen kommt. Hirschfeld nennt nicht nur Beispiele, wie andere Aktivisten Ulrichs' Sprache aufgriffen und veränderten ("Urningismus", "Uranität"), sondern macht das gleiche, wenn sich auch seine Ableitungen wie "Urnindenehe" und "urnische Familie" nur im Register finden lassen. Nach Hirschfeld wurden Ulrichs' Begriffe zunächst nicht und erst kurz vor seinem Tod "ein wenig" berücksichtigt. Aber schon 1914 war klar, dass sich von mehreren zeitnahen Wortbildungen nur eine durchsetzen konnte: die "Homosexualität" (zur Geschichte dieses Begriffes s. meinen Artikel auf queer.de).

Im englischsprachigen Ausland

In der viktorianischen Ära wurde Ulrichs' Begriff "Urning" von englischen Befürwortern der homo­sexuellen Emanzipation übernommen. So widmete John Addington Symonds in seinem Buch "A Problem in Modern Ethics" (1896, S. 84-114) Ulrichs ein eigenes Kapitel. Edward Carpenter schrieb in seinem Buch "The Intermediate Sex. A Study of Some Transitional Types of Men and Women" (1908/2016, S. 116) vom "Uranian spirit" und von den "Uranian people". Der irische Dichter Oscar Wilde schrieb in einem undatierten Brief von der "Uranian love", die er sogar für edler als andere Formen der Liebe hielt.

Der Begriff "Uranian" gewann auch bei Männern an Bedeutung, die sich in den 1870er bis 1930er Jahren mit Antike und Poesie beschäftigten und deren Schriften heute unter dem Ausdruck "Uranian Poetry" bekannt sind. Michael Matthew Kaylor hat seine Arbeit über "Uranian Poetry" unter dem Titel "Secreted Desires: The Major Uranians: Hopkins, Pater and Wilde" (2006) auch online veröffentlicht. Auch die Fotokunst von Wilhelm von Gloeden wird in englischsprachigen Publikationen manchmal als "Uranian" bezeichnet.

Eine Untersuchung des sprachlichen Einflusses von Karl Heinrich Ulrichs in anderen Ländern ist mir nicht bekannt und steht wohl noch aus (s. a. den französischen Artikel "Un illustre uraniste du XVIIe siècle. Jérôme Duquesnoy" im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", 1900, S. 277-287).

Die Homo­sexuellenzeitschrift "Uranos" (1921-1923)

Den äußeren Anlass für diesen queer.de-Artikel über Uranos bzw. Uranus in der schwulen Kulturgeschichte bietet die Homo­sexuellenzeitschrift "Uranos. Unabhängige uranische Monatsschrift für Wissenschaft, Polemik, Belletristik, Kunst", die am 1. März 1921 erstmals erschien. Insofern gehe ich auch im Folgenden fast nur auf die Aspekte ein, die mit Uranos bzw. Uranus in einem Zusammenhang stehen. Herausgegeben wurde die Zeitschrift von Ferdinand Karsch-Haack und René Stelter.

Zumindest der Entomologe (Insektenkundler) und Sexualwissenschaftler Ferdinand Karsch (1853-1936) war zu diesem Zeitpunkt kein Unbekannter und hatte in dem vom Magnus Hirschfeld und dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) herausgegebenen "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (JfsZ) mehrere Aufsätze veröffentlicht. Sie lassen erkennen, dass er die Begriffe "Uranismus" und "Uranier" favorisierte, wie z. B. in seinen Publikationen "Uranismus oder Päderastie und Tribadie bei den Naturvölkern" (JfsZ, 3. Jg., 1901, S. 72-201) oder "Quellenmaterial zur Beurteilung angeblicher und wirklicher Uranier" (JfsZ, 4. Jg., 1902, S. 289-571 und 5. Jg., 1903, S. 445-706). Obwohl er sich mit seiner Terminologie auf Ulrichs bezieht, sind auch Unterschiede feststellbar: Im Gegensatz zu Karsch hat Ulrichs das Wort "Uranier" nie verwendet (mit Ausnahme eines Briefes von 1862), sondern das Wort "Urning", und wo Karsch vom "Uranismus" schrieb, betonte Ulrichs eher die "Urningliebe".

Der erste Jahrgang des "Uranos" (1921/22) erschien 2002 als verdienstvoller Reprint, aus dem ich im Folgenden zitiere. Im ersten Heft wird hervorgehoben, dass der "Uranos" zum "fünfzigjährigen Jubiläum der Lieblingsidee Ulrichs" herausgegeben wurde (S. 2). Sabine Schmidtke bietet im Nachwort eine gute Erklärung, warum der "Uranos" mit einem "o" geschrieben wird: "Bei einem Sprachpuristen wie Karsch-Haack ist es kaum verwunderlich, daß er die griechische Form gewählt hat und nicht, wie Ulrichs, die latinisierte" (S. 274). Die Artikel des Mitherausgebers René Stelter erwecken zunächst den Anschein, als würde auch er Begriffe wie "Uranismus" favorisieren ("Ueber den Sinn des Uranismus", S. 153-155; "Die soziale Bedeutung des Uranismus", S. 185-189). In seinem Artikel "Uranismus und Internationalität" (S. 257-258) kritisiert er jedoch, dass es immer noch keine passenden Bezeichnungen gebe: "Beim Schreiben kommt es einem sauer an, so oft 'Uranismus', 'Uranität', 'Uranier' zu gebrauchen", und dem Leser gehe es "bestimmt noch schlimmer". In der Zeitschrift erfährt man zwar viel über Ulrichs und die Homo­sexuellenbewegung, aber leider nichts über den Planeten Uranus oder den Gott Uranus. Der zweite Jahrgang (1922/1923) mit seinen sechs Heften gilt seit diesem Jahrtausend als verschollen; in den Neunzigerjahren wurde das letzte Mal aus ihm zitiert (S. 292-293).

"Urninge" in der Politik (1989)

Als Jurist hätte sich Karl Heinrich Ulrichs über die Bundestags-Drucksache mit der Nummer 11/3901 von 1989 bestimmt sehr gefreut. Die Grünen wählten für eine sogenannte "Große Anfrage" an die Bundes­regierung sein Wort "Urninge".


Die Grünen verwenden aus Protest die Formulierung "Urninge" (1989)

Der Hintergrund dieser merkwürdig erscheinenden Namenswahl war politisch: Die Grünen wollten das Wort "Homo­sexuelle" vermeiden und waren zu Recht verärgert, dass sie in Parlaments-Drucksachen in dieser Zeit das Wort "Schwule" nicht verwenden durften. Diese Drucksache von 1989 ist damit nicht nur eine Reminiszenz an Karl Heinrich Ulrichs. Es ist ein kreativ-konstruktiver Weg, mit einem Sprachverbot umzugehen, und auch Ausdruck der Einstellung und indirekten politischen Forderung, dass jede Person das Recht hat, so genannt zu werden, wie sie genannt werden will.

Der Planet Uranus

Bei den bisherigen Quellen ging es um den Gott, den antiken Mythos und die Rezeption. Parallel dazu – und offenbar damit im Zusammenhang – gibt es auch eine schwule Rezeption des gleichnamigen Planeten Uranus. Es erscheint eine nachträgliche Verknüpfung zu sein, die sich in der Trivialkultur der neueren Zeit und in der Astrologie aufzeigen lässt.

Uranus in neueren Spiel- und Kurzfilmen

Der Planet Uranus bzw. der Gott Uranus sind weit davon entfernt, in schwulen Filmen ein bedeutendes Thema zu sein. Zu den wenigen Ausnahmen gehört "Priscilla – Königin der Wüste" (1994), in dem drei queere Personen in Drag auf die Landbevölkerung wie Außerirdische wirken und – durchaus mehrdeutig – die Frage geäußert wird, ob sie vom Uranus kommen. Es gibt Filme, in denen sich queere Männer in dieser Gesellschaft manchmal wie Außerirdische vorkommen ("Außerirdische", 1993) oder sogar tatsächlich Außerirdische sind ("Rocky Horror Picture Show", 1975). Mit der Äußerung in "Priscilla" wird das Außerirdische mit einer sexuellen Anspielung verbunden.

Daniel Nolascos Kurzfilm "Urano" bzw. "Uranus" (2013, 7 Min.) ist ein schwuler Episodenfilm, der in einer Uranus-Episode assoziative Bilder bietet, mit denen der Regisseur die Gegenwart mit der Vergangenheit und die männliche Erotik mit mythologischen Elementen zu verbinden versucht. Diego Santos Vieira de Jesus schreibt in seinem Aufsatz "Beyond Venus and Mars" (= "Jenseits von Venus und Mars", in: "Psychology Research", Jg. 2020, Nr. 11, S. 459-463), in dem er die drei homo­erotischen Kurzfilme des Regisseurs behandelt ("Uranus", "Neptun" und "Pluto"), dass in seinem "Uranus"-Film die Idee einer "Kastration", wie sie zum Mythos vom Gott Uranus gehört, zwar noch vorhanden sei, allerdings nicht im engeren Sinne einer Entfernung des Geschlechtsteils, sondern im weiteren Sinne, dass einem Mann die Macht, Vitalität und Begierde entzogen werde.

Uranus in neueren Pornofilmen


"Planet Penis. Your Destination ... Uranus!!" (2007)

Mindestens vier schwule Pornos beziehen sich mit ihren Titeln bzw. Untertiteln auf den Planeten Uranus. Der Porno "Invaders from Uranus. Aliens have landed and your butt's in danger" (1997, 86 Min.) ist offenbar der einzige dieser Filme, den es online gibt (auf der Pornoseite "xhamster", die hier nicht verlinkt werden darf). Er enthält viele witzige Zwischensequenzen mit Außerirdischen, die telekinetische und sonstige Kräfte haben. Ein schwuler Sci-Fi-Trash-Film, der Erotik mit Humor verbindet. Der Porno "Butt Boys in Space. Blasting off to Uranus" (2001, 74 Min.) handelt, wie in einem Trailer zu sehen ist, von einer harten Invasion, bei der zu den Eyecatchern nicht nur die Männer gehören, sondern auch das "Star Trek"-Design. Leider deutet bei den Trailern bzw. den Inhaltsbeschreibungen zu "Planet Penis. Your Destination … Uranus!!" (2007) und "Uranus needs Dads" (2011) nichts darauf hin, dass die Filme inhaltlich mehr als die erwartbaren sexuellen Aktivitäten zu bieten haben. Die Filmcover sind – bis auf den letzten Film – nicht nur ansprechend und kreativ gestaltet, sondern wirken dabei auch humorvoll und selbstironisch.

Uranus in neuerer Literatur

Auf einige schwule Bücher zum Thema Uranus möchte ich eingehen, auch wenn sie weder als informative Sachliteratur noch als anspruchsvolle Unterhaltungslektüre einzustufen sind. Im Selbstverlag ist vom Autor Ridley Q. Meeker R.D.R.R. das Buch "Lesbians are from Mercury and Gay Men are from the Rings of Uranus: Gay and Lesbian Legends from across Time and Space" (2014) erschienen. Das Buch erhebt den Anspruch, die gesamte Mythologie von Schwulen und Lesben zusammenzufassen, womit die Leser*­innenschaft "das gesamte Universum" verstehen könne. Weil von Amazon über "Blick ins Buch" viele Seiten als Leseprobe angeboten werden, merkt man schnell, wie weit das Buch von diesem Anspruch entfernt ist. Bei dem ebenfalls nur in englischer Sprache vorliegendem Buch von SM Ryders "Alien Breeders from Uranus" (2016) handelt es sich wohl um klassische Einhandliteratur: Der Außerirdische Orion wird zur Erde geschickt, um einen Menschen zu finden, mit dem er sich paaren kann. Er trifft auf Damien und verliebt sich in ihn. Der Rest ist absehbar.

In Paul B. Preciados Kolumnen-Sammlung "Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs" (2020) wandelt der Autor auf den Spuren von Karl Heinrich Ulrichs und träumt von einem Apartment auf dem Uranus, einem Ort fern der irdischen Kategorisierungen und Festlegungen. Nach der Rezension auf queer.de ist die Sprache dieses Autors, Philosophen und queeren Vordenkers "bildhaft, dann wieder mysteriös, verklausuliert, radikal und pathetisch", seine "moralische Rhetorik" allerdings auch "zutiefst fragwürdig". Das Gute an diesen 71 Kolumnen sei: "es dauert nicht lange, bis die nächste kommt".

"Macht mich Uranus schwul?" – ein Astrologie-Seminar

Im November 2020 hielt Christopher Renstrom unter dem Titel "Does Uranus Make Me Gay?" in den USA ein Webinar ab, von dem einige Minuten auch online verfügbar sind. Das Webinar gehört zum Online-Angebot der "International Academy of Astrology" (IAA), die als älteste Online-Astrologieschule der USA bezeichnet wird. Diverse Quellen zeigen, dass Renstrom ein Vertreter der populären – man könnte auch sagen unseriösen – Astrologie ist, der auch Tageshoroskope veröffentlicht. Einen gleichlautenden Vortrag hielt Christopher Renstrom auch schon auf der "United Astrology Conference" von 2018, darin bezog er sich ausdrücklich auf Karl Heinrich Ulrichs. Für Renstrom zeigt die Geschichte bzw. Rezeption von Uranus einen "transgender archetype". Auch beim Bewerben von diesem Vortrag verweist Renstrom – in Verbindung mit einer Zeichnung von Karl Heinrich Ulrichs – auf den Archetyp eines "göttlichen Hermaphroditen".


Ein astrologisches US-Seminar über den Uranus, der angeblich schwul macht

Fazit

Die queere Rezeption vom Gott, dem Mythos bzw. seiner Rezeption und die Rezeption des Planeten lassen sich nicht klar voneinander trennen. Die Beispiele aus der Populär- bzw. Trivialkultur der letzten Jahrzehnte – von Pornos bis zu Astrologie – belegen zumindest, dass die Vorstellung von einem irgendwie schwulen Planeten bis heute zu faszinieren scheint. Das lässt sich auch an Grußkarten ("What happens in Uranus stay in Uranus") und T-Shirts ("Too Gay for this world. I'm going to visit Uranus") erkennen.


Ein T-Shirt und der Wunsch nach einem eigenen schwulen Planeten

Wesentlich spannender finde ich die älteren Quellen. Bei Platons "Gastmahl" handelt es sich um bedeutende Weltliteratur, was mich nicht daran hindert, zu betonen, dass ich das im "Gastmahl" angebotene Konstrukt einer "himmlischen" Liebe nicht überzeugend finde. Warum werden bei einem geliebten Menschen das Alter und eine als attraktiv wahrgenommene Form der Männlichkeit hervorgehoben, wenn es doch gar nicht um die körperliche, sondern um die Liebe zur Seele geht?

Dass sich Karl Heinrich Ulrichs bei seiner Terminologie auf dieses "Gastmahl" bezog, bleibt für mich in mehrfacher Hinsicht unverständlich. Zum einen irritiert mich, dass Ulrichs begrifflich ausdrücklich nach einer Alternative zur missverständlichen "Knabenliebe" suchte und sich dann ausgerechnet von einer Textpassage aus dem "Gastmahl" inspirieren ließ, wo von der "himmlischen Liebe" zu "Knaben" die Rede ist. (Diese Kritik gilt auch unter Berücksichtigung, dass Ulrichs Zeitgenoss*­innen die griechische Antike, vor allem den gebildeten, als kulturell vorbildlich galt).

Zum anderen muss betont werden, dass Karl Heinrich Ulrichs vor allem Jurist war, der sein Engagement darauf ausrichtete, bestimmte strafrechtlich verfolgte homo­sexuelle Handlungen in Deutschland zu legalisieren. Ulrichs kämpfte zwar auch für die gesellschaftliche Akzeptanz, aber vor allem für die Legalisierung homo­sexueller Handlungen und ging dabei ausdrücklich und deutlich auf Analverkehr ein – während Magnus Hirschfeld das Thema vermied. Außerhalb seiner Terminologie kann ich die euphemistische Verwendung von Begriffen wie "himmlische Liebe" oder "Männerfreundschaften" in seinen Schriften nicht als Teil einer emanzipatorischen Strategie erkennen. Ulrichs kämpfte stets mit offenem Visier.

Auch ich verstehe die große Faszination, die von Karl Heinrich Ulrichs ausgeht, der als erste Person des öffentlichen Lebens offen homo­sexuell auftrat. Sein Kampf für die Emanzipation von Homo­sexuellen ist bis heute beeindruckend. Der Respekt vor Ulrichs fällt auch deshalb leicht, weil es den Kampf für eine gerechte und emanzipatorische Sprache und das Recht, so genannt zu werden, wie man genannt werden möchte, bis heute gibt. Sprache lebt vom Mitgestalten – das wusste keiner so gut wie Ulrichs. Es hatte mich gereizt, von "Urning*­innen" zu schreiben und damit auf sprachlicher Ebene Ulrichs Vergangenheit mit meiner Gegenwart zu verbinden. Ulrichs hatte jedoch versucht, "Urninge" und "Urninginnen" als klare und abgrenzbare Kategorien zu definieren, was mit dem Gender-Sternchen nicht in Einklang zu bringen ist. Insofern bin ich mir nicht sicher, wie Karl Heinrich Ulrichs die Wortkreation "Urning*­innen" gefallen hätte.

Auch wenn man über einige seiner Wortschöpfungen heute vielleicht mit dem Kopf schüttelt, lässt sich anerkennen, dass er mit Begriffen wie "Urning" eine neue emanzipatorische Terminologie einführen wollte. Schon 1863 schrieb Karl Heinrich Ulrichs das Gedicht "Das Sternenbild" (hier zitiert nach seiner fünften Schrift "Ara spei", 1865, S. 93), worin er "Unsrem Geschlecht eine Sprache" wünschte. Zumindest für einige Jahrzehnte ist ihm dies tatsächlich gelungen.

#1 AtreusEhemaliges Profil
  • 01.03.2021, 21:14h
  • Erwin, immer dasselbe mit dir: zu kurz, zu selten. Davon abgesehen wiedermal ein sehr anregender und informativer Text. Das Thema hast du mir erstmalig nahegebracht. Herzlichen Dank. Zum Hausaltar reichts aber noch nicht. Da fehlen noch zwei bis drei Artikel gleicher Qualität.
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#2 Erwin In het PanhuisAnonym
  • 01.03.2021, 22:16h
  • Antwort auf #1 von Atreus
  • Gib mir noch bis Ostern Zeit. Bis dahin sind noch drei Artikel von mir in Planung - u.a. zu Dirk Bogardes 100. Geburtstag und zu einem 200 Jahre alten Text von Goethe. Ich bin schon sehr gespannt, ob diese Beiträge dann schon zu einem kleinen Hausaltar reichen. Mein Ehrgeiz ist geweckt... :-)
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#3 AtreusEhemaliges Profil
  • 01.03.2021, 23:12h
  • Antwort auf #2 von Erwin In het Panhuis
  • Hab ne Schwäche für Poesie, also Goethe klingt gut. Auch wenn ich lieber in modernem Kitsch ala Hans Kruppa bade. Aber es geht ja auch hauptsächlich um den Schriftsteller. Bogarde und die Mann's wären auch toll gewesen. Es sei denn, das ist ein anderer, den ich mit der Verfilmung von Tod in Venedig verbinde. Aber ich freue mich auf alles von dir. Das Wochenhighlight mit echtem!!! Erkenntnisgewinn.
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