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Bis Ostern wollen die Grünen im Südwesten bekannt geben, mit wem sie künftig regieren wollen. Das neue Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten funktioniert schon jetzt als Denkzettel fürs Kabinett Kretschmann III.
Der Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (FHG) widmet den Themenschwerpunkt seiner jährlich erscheinenden Schriftenreihe "Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten" diesmal der queeren Vergangenheit Baden-Württembergs. "Homosexuelle im deutschen Südwesten" lautet der Untertitel der kürzlich herausgekommenen 22. Ausgabe.
Im Gegensatz zum Vorgängerband, der sich der allgemeinen "Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit" gewidmet hatte, mutet das neue Thema sehr zugespitzt an. Aber es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Während Baden-Württembergs Grüne mit ihrem ehemaligen und zukünftigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nach einem deutlichen Sieg bei der Landtagswahl am 14. März noch über die Gestalt der nächsten Landesregierung diskutieren, erinnert der neue "Invertito"-Band an die anhaltende politische Relevanz der Aufarbeitung von Erinnerungen an die Verfolgungs- und Emanzipationsgeschichte von Homosexuellen.
Die angebliche "Asozialität" lesbischer Frauen
Die vier Hauptaufsätze des Bandes widmen sich unterschiedlichen Aspekten queerer Schicksale in Baden-Württemberg. Joachim Brüser arbeitet erstmals die Verfolgung homosexueller Männer in der Kreisstadt Kirchheim unter Teck auf, indem er die Verurteilungen dreier Männer zurückverfolgt, die unter Paragraf 175 angeklagt wurden; Claudia Weinschenk gewährt Einblicke in ein Forschungsprojekt des Landesnetzwerk LSBTTTIQ Baden-Württemberg, im Rahmen dessen sie der bislang unbestätigten Hypothese auf den Grund geht, dass lesbische Frauen während der NS-Zeit unter dem Vorwurf der "Asozialität" in Psychiatrien verbracht wurden; Julia Noah Munier erforscht die frühen Netzwerke der "Homophilenbewegung" in den 1950er und 1960er Jahren von Stuttgart bis Reutlingen; Artur Reinhard wertet die Strafakten zweier Fälle von "Unzucht zwischen Männern" in Tübingen aus.
Allen vier Historiker*innen gelingt es, anhand regionaler Fälle ein Bild der generellen Feindlichkeit gegenüber Lesben und Schwulen in Nazideutschland und der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zu zeichnen. Ergänzt wird das Ganze durch einen Werkstattbericht über das "Archiv der anderen Erinnerungen", in dem Daniel Baranowski, wissenschaftlicher Referent Kultur, Geschichte und Erinnerung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld die Arbeitspraxis und Bedeutung des Oral-History-Projekts einordnet.
Mehr Bewusstseinskultur für queere Verfolgungsgeschichte
Anhand individueller Schicksale verdeutlichen die Beiträge in "Invertito" die direkten und indirekten Auswirkungen der Kriminalisierung und Marginalisierung queerer Menschen in der deutschen Geschichte. Gleichzeitig legen sie die Vernachlässigung von deren Aufarbeitung in der Vergangenheit offen. So sind sie einerseits eine Mahnung, aber auch ein Zeichen dafür, dass die Aufarbeitungsoffensive Früchte trägt, die das Landesministerium für Soziales und Integration 2016 mit der Gründung eines Forschungsprojekts und des Launchs der Website lsbttiq-bw.de lostrat (queer.de berichtete).
Sie scheint Bestand zu haben. Erst am Dienstag verkündete die Landesregierung auf ihrem Twitter-Account: "Baden Württemberg fördert Aufarbeitung von Lebenswelten, Schicksalen und Verfolgung von nicht heteronormativen Menschen in Zusammenarbeit mit der Uni Stuttgart" und verwies auf das Erscheinen des Buches "Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden-Württemberg im 20. Jahrhundert". In dem 730-Seiten-Wälzer präsentiert Julia Noah Munier die vollständigen Ergebnisse der Studien, über die sie in "Invertito" in ihrem Beitrag "Die Homophilenbewegung im deutschen Südwesten der 1950er und 1960er Jahre als Akteurin der Anerkennung" in Ausschnitten berichtet.
Twitter / RegierungBW#Diskriminierung der LSBTTIQ* #BadenWürttemberg fördert Aufarbeitung von Lebenswelten, Schicksalen und Verfolgung von nicht heteronormativen Menschen in Zusammenarbeit mit der @Uni_Stuttgart#LSBTTIQ #LGBT #LGBTQ #Vielfalt #Diversity #IDAHOT #LoveisLovehttps://t.co/yrf3wXXJdR pic.twitter.com/eeWUGo22DG
Landesregierung BW (@RegierungBW) March 30, 2021
Zwischen Unterdrückung und Selbstorganisation
Die Bedeutung der "Invertito"-Texte reicht über die Grenzen des deutschen Südwestens hinaus. Vielmehr zeichnen sie, indem sie den Fokus auf Baden-Württemberg legen, ein allgemeines Bild der Verfolgung und Diskriminierung queerer Menschen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit und ihrer Selbstorganisation. Leser*innen erfahren viel über die geheime Kontaktanbahnung und das Denunzierungsgebaren schwuler Männer unter Paragraf 175, sowie die moralische (Selbst-)Verurteilung der zwar nicht kriminalisierten, aber gesellschaftlich geächteten lesbischen Frauen.
Dem gegenüber stehen Verdienste früher Emanzipationsbewegungen wie die überregionalen Aktivitäten und "Herrenpartien" der schwulen Kameradschaft "die runde " und die Hintergründe zur Publikation "Das Schicksal der Verfemten", die 1969 über den Tübinger Katzmann Verlag anlässlich der Bundestagsdebatten zur Liberalisierung von Paragraf 175 an sämtliche Bundestagsabgeordneten versendet wurde, was den damaligen Bundesjustizminister zu einem persönlichen Dankesschreiben veranlasste.
Vielleicht sollte man auch "Invertito" an alle zukünftigen Mitglieder des Kabinetts Kretschmann III verschicken, um sie stets daran zu erinnern, wie relevant die Aufarbeitung queerer Geschichte auch heute bleibt.
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