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Queerer Heimatfilm
Die Sehnsucht nach der queeren Hauptstadt
Uckermark oder Berlin? Fürsorge für die Omas oder Befreiung von allen sexuellen und geschlechtlichen Erwartungen? Diese Fragen beschäftigen Markus im Spielfilm "Neubau" von und mit Tucké Royale.

Markus (Tucké Royale) ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinen pflegebedürftigen Omas in der Uckermark und der Sehnsucht nach einem anderen Leben in Berlin (Bild: Salzgeber)
5. April 2021, 05:59h 3 Min. Von
Es ist fast immer eine gute Idee, einen Film mit einer Sexszene zu beginnen. Markus (Tucké Royale) und sein Bettgefährte kommen sich nahe, aber nicht so, dass es zu routiniert wirkt. Es ist leidenschaftlich, neugierig und alles andere als 08/15. Doch ist es einmalig? Der Mann wird nicht mehr auftauchen. Und der Sex wird unterbrochen von einem Anruf, den der junge Mann annehmen muss.
Manche werden "Neubau" vorwerfen, nach wenigen Minuten schon all sein Pulver verschossen zu haben. Doch die Sexszene ist keine Effekthascherei, kein voyeuristisches Zwischenspiel. Ja, auch, aber eben nicht nur die Sexualität definiert Markus' Lebensentwurf.
Ein bescheidenes, prekäres Leben in der Provinz
Da ist viel mehr, und einiges widerspricht sich und schließt sich sogar aus. Markus ist irgendwo zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Er lebt in der Uckermark, im Inbegriff deutscher Provinz. Er hat zwei Omas, die wohl ein Paar sind. Alma ist dement, gemeinsam mit Sabine kümmert er sich um sie. Er füttert Emus und bekommt doch Post vom Jobcenter. Es ist ein bescheidenes, prekäres Leben – nicht nur finanziell, sondern auch emotional.
Markus hat ein Ziel am Horizont: Berlin. Er sehnt sich nach der Queerness der Hauptstadt, will sein Stück vom Kuchen haben, so der Einsamkeit entfliehen. So sehr, dass ihm irgendwann queere Menschen beinahe apotheotisch erscheinen – was ihn verunsichert und anzieht zugleich. Eine Ambivalenz, die den ganzen Film beherrscht.
Die Koffer sind schon gepackt
"Neubau" ist der erste Spielfilm von Regisseur Johannes Maria Schmitt. Er basiert auf dem Drehbuch von Tucké Royale, der auch die Hauptfigur Markus verkörpert. Sie nennen ihren Film "Heimatfilm": Sie kehren dieses ursprünglich kitschig-verklärende Heile-Welt-Nachkriegsgenre um in eine Geschichte, die authentisch vom Leben einer besonderen Figur erzählt.
Authentisch, weil die Weite der Natur tatsächlich sehr nah dran ist an der heilen Welt, weil die Fürsorge bis Aufopferung für die Omas rührend und bestärkend ist, und weil da dennoch der nachvollziehbare Drang nach mehr in Markus ist. Als er sich schließlich verliebt, macht das die Entscheidungen noch schwieriger. Dabei sind die Koffer schon gepackt.
Verzicht auf Schnickschnack
"Neubau" überzeugt, weil der Film vieles anders macht als herkömmliche Produktionen. Es gibt keine vorhersehbare Narration, nicht mal einen richtigen Spannungsbogen. Der Film verzichtet auf klar verteilte Rollen oder Sympathien sowie auf filmischen Schnickschnack. Er sei "inspiriert von der Zeitlichkeit der Landschaft", schreibt Regisseur Johannes Maria Schmitt.
Das inszenatorische Konzept ist meist wohltuend reduziert, doch beim Tempo der Uckermark eben auch entsprechend langsam. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass "Neubau" streckenweise seinem eigenen, sehr hohen Anspruch nicht gerecht wird. Da wirkt alles ein Ticken zu steif.
Beim Max Ophüls Preis gewann "Neubau" im vergangenen Jahr Auszeichnungen für den besten Spielfilm und für den gesellschaftlich relevanten Film. Nach dem wegen der Coronakrise abgesagten Kinostart läuft das Drama nun im April 2021 in der queerfilmnacht online.
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Neubau. Drama. Deutschland 2020. Regie: Johannes M. Schmit. Buch: Tucké Royale. Darsteller*innen: Tucké Royale, Monika Zimmering, Jalda Rebling, Minh Duc Pham. Laufzeit: 81 Minuten. Sprache: deutsche Originalfassung. FSK 16. Verleih: Salzgeber. Im April 2021 in der queerfilmnacht online sowie über die Seiten der Partnerkinos.

Links zum Thema:
» "Neubau" in der queerfilmnacht online
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