Als mutmaßliches Missbrauchsopfer in einem Hauptverfahren auszusagen, ist kein Ponyhof. Einerseits muss man intimste Dinge immer und immer wieder in der Öffentlichkeit des Gerichts vor Publikum und Pressevertreter*innen erzählen. Das kann mit Scham, Schmerz und der Gefahr einer Re-Traumatisierung verbunden sein. Andererseits versucht die Verteidigung, die Glaubwürdigkeit des mutmaßlich Geschädigten sturmreif zu schießen, steht in solchen Verfahren doch meist Aussage gegen Aussage. So bestreitet auch in diesem Fall der angeklagte Arzt (62) die Vorwürfe von allen fünf zur Verhandlung stehenden Straftaten zur Gänze.
Was sich der Nebenkläger (45) am Donnerstag als Zeuge bei der Befragung durch die Verteidigung anhören (und ansehen) musste, sei nach Aussagen erfahrener Prozessbeteiligter allerdings beispiellos gewesen. Vielleicht war es seine ruhige und bedachte Art zu antworten, die Verteidiger Johannes Eisenberg provozierte. Wie lässt sich sonst erklären, dass er dem Zeugen energisch den gestreckten Mittelfinger entgegenhält, um die Frage nach einer Analuntersuchung optisch zu untermauern. Dass er diese obszön zu verstehende Geste (Stichwort Stinkefinger) nach einer Verhandlungspause zu relativieren versucht, macht es nicht besser.
Anwalt König hat von der Prostata keine Ahnung
Subtiler entgleitet Eisenbergs Kollege Stefan König die zu verhandelnde Thematik. So ließ er vernehmen, nicht "nachvollziehen" zu können, dass ein Berühren der Prostata mit einem Finger "ein Genuss" sein könne. Das wirft die Frage auf, ob der angeklagte Arzt mit der Erfahrung seiner oft erwähnten "schwulen Kiezpraxis" die Verteidiger überhaupt gebrieft hat, was "schwule Kiezpraxis" konkret bedeutet. Ganz abgesehen davon, dass auch nicht-schwule Männer schon von den Freuden einer Prostatamassage berichtet haben sollen.
Dabei hat der Verhandlungstag durchaus professionell begonnen. Der vom angeklagten Arzt engagierte Rechtspsychologe Günter Köhnken stellte ruhig und sachlich seine Fragen. Er soll die Aussagen des Nebenklägers auf Glaubwürdigkeit begutachten. Der Zeuge antwortete genauso wie am zweiten Verhandlungstag gegenüber Richter und Staatsanwältin, obwohl der Gutachter an verschiedenen Stellen deutlich nachbohrte und den Nebenkläger aufforderte "sich gedanklich und mental in die Szene von damals reinzuversetzen".
Wieder berichtete der Nebenkläger von der anfänglichen Irritation, als er zur Begrüßung durch den angeklagten Arzt an der Wange berührt worden sein soll. Oder von seiner Verwunderung, dass er sich bei der Untersuchung ganz ausziehen habe müssen. Auch erzählte er erneut von dem verwirrenden Gefühl der Erregung, als der angeklagte Arzt ihn nach erfolgtem Harnröhrenabstrich und der Versicherung, dass die diagnostizierte Geschlechtskrankheit abgeheilt gewesen sei, weiter am Penis manipuliert haben soll. Was dann zu einer Erektion geführt haben soll, bis hin zu einem Kussversuch durch den angeklagten Arzt.
Zweifel am Gedächtnisprotokoll gesät
Diese ambivalenten Gefühle hatte der Nebenkläger auch innerhalb einer Stunde nach dem Vorfall in einem Gedächtnisprotokoll digital auf seinem MacBook festgehalten. Es sei für ihn wichtig gewesen, es aufzuschreiben, um sich zu erinnern. Es sei damals ohne Hintergedanken gewesen, dass es einmal in einem Strafprozess von Relevanz sein könnte.
Dieses Gedächtnisprotokoll aus dem Jahr 2012 ist der Verteidigung verständlicherweise ein Dorn im Auge. Es war dem Gericht erst drei Tage vor Beginn des Hauptverfahrens zugänglich gemacht worden. Auf Nachfrage der Verteidigung, warum das Protokoll nicht schon bei der Strafanzeige 2013 vorgelegt wurde, blieb der Zeuge vage. Er könne sich nicht erinnern, warum er es damals nicht vorgelegt habe. Auch nicht, warum seine Anwältin es nicht erwähnt habe, obwohl sie davon gewusst haben soll. Der Zeuge erklärte sich jedoch bereit, sein MacBook dem Gericht zur Verfügung zu stellen. So sollen jetzt Forensiker bestimmen, wann dieses Dokument erstellt wurde und ob es zwischen 2012 und heute verändert wurde.
Der Zeuge blieb konsequent bei diesen Antworten, auch als die Verteidigung immer wieder gegen diese Aussagen Anlauf nahm. So zog sie seine Sprachkompetenz in Zweifel (der Nebenkläger ist promovierter Literaturwissenschaftler) und wollte die Namen von Freunden erfahren, die in anderen Zusammenhängen Opfer von sexuellem Missbrauch geworden seien. Der Nebenkläger verweigerte die Namen seiner Freunde preiszugeben. Je hämischer die Anwürfe von der Verteidigung vorgetragen wurden, desto verzweifelter wirkten sie.
Anwalt Eisenberg rastet mehrfach aus
Vielleicht war es diese überhitzt wirkende Emotionalität, die Johannes Eisenberg Fehler machen und Missverständnissen aufsitzen ließ. So bezeichnete er vom Nebenkläger erwähnte Gespräche über den Vorfall mit privaten Freunden als "therapeutische Gespräche", was zu Verwunderung im Saal führte, und beschimpfte das Gericht der schlampigen Aktenführung, obwohl er selbst nicht korrekt aus einem gescannten Dokument dieser Akten auf seinem Laptop vorlesen konnte.
Außerdem wetterte er lautstark, das Gericht, die Staatsanwältin und die Anwältinnen der Nebenklage würden dieses Vorlesen verhindern, obwohl es der Vorsitzende Richter Rüdiger Kleingünther schon längst zugelassen hatte. Als er dazu die Staatsanwältin nachzuäffen begann oder seinen Kugelschreiber mit den Worten "Dann macht doch was ihr wollt" auf den Tisch knallte, stellte sich beim Beobachten die Frage, wie so eine Verteidigungsstrategie eigentlich genannt werden sollte.
Am 3. Mai wird die Verhandlung mit der Befragung eines weiteren Nebenklägers und mutmaßlich Geschädigten fortgesetzt.
Die fehlende Ahnung, das ungebührliche Verhalten im Saal, das alles deutet für mich auf eine mangelnde Verteidigungsstrategie hin und ist ein Armutszeugnis für einen Juristen, von seinen Entgleisungen ganz zu schweigen.