Wo wir hier doch unter uns sind: Mit "Sex and the City" Ende der Neunzigerjahre sozialisierte Homosexuelle wissen, dass es sich bei Carrie Bradshaw im Grunde um einen schwulen Mann handelt. Ein Indiz unter vielen: Mr. Big (hetero!) konnte sich nicht zu einer Beziehung committen, weil das einem Coming-out gleichgekommen wäre.
So ist es eine charmante Idee des Drehbuchautors und Regisseurs Benjamin Gutsche in einem deutschen "Sex and the City"-Setting eine Serienhauptfigur zu schaffen, die von schwulen Zuschauern keine Übersetzungsarbeit erfordert. Lange hat Deutschland darauf warten müssen. Vorhang auf für Vince in "All you need"!
Der egoistische "Nachtschwärmer"
Poster zur Serie; "All you need" gibt es ab 7. Mai 2021 in der ARD-Mediathek sowie am 16. und 17. Mai auf ONE
Der 29-jährige Berliner ist noch Medizinstudent und wird im Pressetext der ARD-Dramedy-Miniserie als "Nachtschwärmer" vorgestellt. Wie Carrie ist er ein Darling zum Liebhaben in seinem Freund*innenkreis: smart, verpeilt, attraktiv und ein bisschen selbstzweifelig. Außerdem teilt er mit Carrie diesen Hauch von Egoismus.
Gleich in der ersten Folge verschläft er seine zugesagte Hilfe beim Umzug des besten Freundes. Die Ausrede? Sorry, ich habe die Nacht durchgefeiert. Das kennen wir auch von Carrie. Für Männer und Affären priorisierte sie ihre Freundinnen rasch ein paar Stufen hinunter. Entschuldigung? Wenn überhaupt, dann halbherzig. Oft gab es nur ein "I got carried away".
Genau dieser Makel macht Vince jedoch zu einer sehenswerten Figur. Legt Benjamin Gutsche diese Charakterschwäche mit seinem charismatischen Darsteller Benito Bause in der ersten Folge bereits an, entwickelt er sie am Staffelende zum spannenden Cliffhanger. Zum Glück hat die ARD bereits grünes Licht für eine zweite Staffel gegeben, sonst würden wir ein wenig frustriert zurückbleiben.
Vier unterschiedliche schwule Männer in Berlin
Doch der Reihe nach: Vince und Webdesigner Levo (Arash Marandi) sind beste Freunde und wohnen in einer WG. Für Levo beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Er zieht zu seinem Partner Tom (Mads Hjulmand) in einen Berliner Villenbezirk. Dorthin, wo sich Vorstadt-Ehefrauen gegenseitig gedeckten Apfelkuchen vorbeibringen. Noch obendrauf: Tom hat für Levo Ehefrau und pubertierenden Sohn verlassen.
Levo (Arash Marandi, li.) und Tom (Mads Hjulmand) ziehen zusammen (Bild: ARD Degeto / Andrea Hansen)
Levo hat als Single nichts ausgelassen und glaubt jetzt an die Exklusivität in Beziehungen. Das bringt Vince zum Nachdenken, hatte er doch nie längerfristig einen Partner. Stattdessen aber jede Menge Männerbekanntschaften via Grindr. Das scheint sich zu ändern, als er in einem Club (klasse, dass auch das Berliner SchwuZ mitspielen darf) den arbeitsuchenden Fitnesstrainer Robbie (Frédéric Brossier) kennenlernt. Robbie ist Erotik auf zwei Beinen, kann liebevoll und fürsorglich sein, offenbart im Laufe der Folgen aber auch ziemlich unangenehme Seiten.
Alltagsdiskriminierung und authentische Sexszenen
Viel Stoff für Drama also, das Benjamin Gutsche auch um Themen wie Alltagsdiskriminierung erweitert. Dazu originale Drehorte aus Berlins schwuler Szene (wer hätte gedacht, dass es im Dampflabyrinth der "Boiler"-Sauna eine Spiegeldecke gibt?) und ein wunderschön gefilmtes Intro. Bei den intimen Szenen wird auch nicht verschämt weggeschwenkt. Zuschauer*innen können sich durchaus ein Bild machen, welche Sexpraktik gerade stattfindet. Auf der Habenseite ist auch zu verbuchen, dass die Figuren mehr als bloß den Charakterzug schwul haben dürfen. Dem gesamten Ensemble ist die Spielfreude anzusehen.
Mehr als nur ein One-Night-Stand? Vince (Benito Bause, li.) und Robbie (Frédéric Brossier) verstehen sich gut (Bild: ARD Degeto / Andrea Hansen)
Was wir uns für die zweite Staffel anders wünschen? Eigentlich nicht viel, aber doch ein wenig. Dass es nicht wieder eine fünf Folgen lange Exposition braucht, um den Basiskonflikt von Vince zu bearbeiten. Dass die Figur der besten Freundin Sarina ein bisschen mehr an Kontur gewinnt, sie schrammt haarscharf am Stereotyp der Schwulenmutti vorbei (auch Gabis haben ein Recht auf eigenes Drama). Und dass keine Dialogsätze mehr wie "Ich habe heute Abend Lust zu dancen" zu hören sind. Seit Deichkinds "Remmidemmi" sollte "dancen" ausschließlich ironisch eingesetzt werden, wenn überhaupt.
Zu guter Letzt: Wir wollen mehr von Levos homophobem Vater sehen. Ihn mit Matthias Freihof zu besetzen, ist ein smarter Move und der Beweis, dass offen queere Schauspieler*innen ja doch alles super spielen können.
Infos zur Serie
All you need. Dramedy-Miniserie. Deutschland 2020. Buch und Regie: Benjamin Gutsche. Darsteller*innen: Benito Bause, Arash Marandi, Frédéric Brossier, Mads Hjulmand, Christin Nichols, Julius Feldmeier, Karsten Speck, Dennis Hofmeister, Mona Pirzad, Matthias Freihof, Jale Arikan, Martin Bruchmann. Laufzeit: 5 Folgen à 28 bis 34 Minuten. Ab 7. Mai 2021 in der ARD-Mediathek und am 16. und 17. Mai auch auf ONE