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Podcast
"Die Revolutionäre von gestern sind die Konservativen von heute"
Im neuen QUEERKRAM-Podcast spricht Johannes Kram mit der Berliner Künstlerin Sigrid Grajek über queere Selbstdefinitionen und Generationenkonflikte, die Aktion #Allesdichtmachen, natürlich Claire Waldoff und was wir von den 1920er Jahren lernen können.
9. Mai 2021, 09:00h 4 Min. Von
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Wer Sigrid Grajek einmal live erlebt, wird sofort ein Fan. Ihre Interpretationen von Liedern der 1920er Jahre sind eine absolut mitreißende und hochemotionale Zeitreise. Wenn die lesbische Berliner Künstlerin, Jahrgang 1963, die großen Weimarer Hymnen schmettert, tobt die queere Szenekneipe in Kreuzberg ebenso wie das Hohenschönhausener Senior*innenheim.
Das Coronavirus macht ihren Auftritten seit über einem Jahr einen Strich durch die Rechnung, aber so hatte Grajek immerhin Zeit für ein längeres Gespräch mit Johannes Kram. Von einem "Berufsverbot", wie es andere Künstler*innen nennen, will die Sängerin, Kabarettistin und Schauspielerin im neuen QUEERKRAM-Podcast allerdings nichts wissen. "Ich sitze lieber noch ein Jahr zu Hause, als dass ich einen Menschen gefährde", verteidigt sie die Kontaktverbote. Hin und wieder gebe sie Wohnzimmerkonzerte via Zoom. Die Aktion #Allesdichtmachen erklären Grajek und Kram auch mit einer "narzisstischen Kränkung" einiger auftrittsverwöhnter Künstler*innen in der Pandemie.

Sigrid Grajek und Johannes Kram vor dem Tonstudio
Die Sängerin, die mit ihrem Claire-Waldoff-Programm fast 500 Mal auf der Bühne stand, wird im Podcast sehr persönlich. Sie berichtet von ihrem dramatischen Coming-out in Lünen, das dazu führte, dass sie mit 16 Jahren ihre geschockte homophobe Mutter verließ, die Schule abbrach und in ein besetztes Haus in Dortmund zog. Den Begriff "Lesbe" habe sie sich damals erst erarbeiten müssen. "Ich komme aus einem katholischen Elternhaus, da gab es das Wort nicht."
"Wenn ich heute 17 wär', dann wäre ich vielleicht nonbinär"
Heute sei ihre Mutter ihr größter Fan und widerspreche jeder queerfeindlichen Äußerung, berichtet Grajek. Verständnis brauche Zeit. Überhaupt gibt sich die Künstlerin sehr gelassen, egal ob es um Queerpolitik, Generationenkonflikte oder den Streit um Selbstdefinitionen geht. Zu Wolfgang Thierses Attacken gegen "linke Identitätspolitik" meint sie nur: "Die Revolutionäre von gestern sind die Konservativen von heute. Das war schon immer so."
Dass lesbische Identitäten in der jungen queeren Generation eine geringere Rolle spielen, findet Grajek nicht schlimm. "Ich habe als junge Lesbe für meine Zukunft, wie ich sie mir vorgestellt habe, gekämpft und bin damit angeeckt bei der damaligen Mehrheitsgesellschaft." Nun gestalteten viele junge Menschen "mit komplett anderen Begriffen" ihre Zukunft. "An mancher Stelle geht es einfach darum, denen das Feld zu überlassen", rät Grajek. Jede sei nun mal ein Kind ihrer Zeit: "Wenn ich heute 17 wär', dann wäre ich vielleicht nonbinär."
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Immer wieder kommen Johannes Kram und Sigrid Grajek im Podcast auf die 1920er Jahre zu sprechen, auf die große queere Freiheit nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als es weitaus mehr Szenekneipen gab als heute und bereits dieselben Debatten über Anderssein und "Normalität" geführt wurden. Was wir aus dieser Zeit lernen können, fragt Kram am Ende des Gesprächs. Grajeks Antwort: "Wir können auf jeden Fall lernen, dass das Leben weitergeht."
Noch ein Hinweis in eigener Sache: Der QUEERKRAM-Podcast wurde für den Grimme Online Award 2021 nominiert (queer.de berichtete). Noch bis zum 10. Juni kann jede*r bei einem Online-Voting für den Publikumspreis abstimmen und an der Verlosung zweier Tablets teilnehmen.
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Zu Gast bei QUEERKRAM
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» Homepage von Sigrid Grajek
Mehr zum Thema:
» QUEERKRAM für Grimme Online Award 2021 nominiert (23.04.2021)