Stell dir vor, die Kreativen von "Kroymann" entwickelten eine queere Serie samt der grandiosen Maren! Oder die Jugendserie "Druck" erzählte die bewegende Liebesgeschichte zwischen einem trans Mann und seinem sensiblen Lover weiter, natürlich wieder mit Michelangelo Fortuzzi, jenem übercoolen River Phoenix aus Moabit. Denkste: Die mediale Wirklichkeit sieht weniger traumhaft aus.
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem ersten schwulen TV-Kuss in der "Lindenstraße" gibt es nun mit "All you need" immerhin die erste queere Serie im GEZ-Fernsehen. Sogar mit einem "Intimacy Coach", wie der Abspann notiert. Damit die öffentlich-rechtliche Diversität nicht allzu sehr auffällt, läuft die fünfteilige Serie bei ONE um Mitternacht, sonst versendet man sie ausschließlich in der ARD-Mediathek.
Ein schwules Quartett wie aus einem Ralf-König-Comic
Poster zur Serie; "All you need" gibt es seit 7. Mai 2021 in der ARD-Mediathek sowie am 16. und 17. Mai auf ONE
Erzählt wird von einem schwulen Quartett in Berlin, das geradewegs aus einem Comic von Ralf König entsprungen sein könnte. Da ist der attraktive Medizinstudent Vince, der sich überraschend in seinen One-Night-Stand Robbie verknallt hat. Derweil sein WG-Mitbewohner Levo sein Liebesglück bei dem spät geouteten Familienvater Tom findet – sehr zum Verdruss von dessen eifersüchtigem Teenagersohn.
"Willkommen in meinem Leben", begrüßt der coole Vince (Benito Bause) zum Auftakt fröhlich das Publikum und zieht die Zuschauer*innen grinsend ins Vertrauen. Für Ich-Erzähler gibt es automatisch dramaturgische Pluspunkte, ein charismatischer Charmeur in der Hauptrolle sorgt schnell für Sympathiewerte. Ganz so entspannt, wie es zunächst scheint, läuft das Leben des Helden freilich nicht. Mit offener Homophobie und latentem Rassismus sieht sich der schwarze Student fast täglich konfrontiert. Die Ansprüche des neuen Lovers sorgen für ungeahnte Beziehungsprobleme. Zudem muss sich Vince auch noch ständig den chronischen Liebeskummer seines besten Freundes Levo anhören.
Mangel an Glaubwürdigkeit und Empathiepotenzial
Mit den Figuren aus dem Klischee-Baukasten hat die Serie eine große Chance vergeigt. Was im Comic klappt, wirkt im Film befremdlich. Der Stereotypen-Stadl ist der klare Schwachpunkt und kann in dieser Anhäufung auch kaum noch als Selbstironie durchgewunken werden. Den Jungs mangelt es spürbar an Glaubwürdigkeit und Empathiepotenzial. Der schwule Familienvater beim ersten Sauna-Besuch oder im Leder-Laden – nicht wirklich witzig. Die zickige Tunte, die pampig auf die freundliche Bitte der Nachbarn reagiert, beim Sex den Vorhang im Schlafzimmer zu schließen – so viel zu Toleranz? Auch das Plädoyer gegen Homophobie und Rassismus bleibt platt und bieder auf "Lindenstraße"-Level.
Figuren wie im Comic: Sarina (Christin Nichols) und Levo (Arash Marandi) beim Umzug (Bild: ARD Degeto / Andrea Hansen)
Warum man sich die Serie trotz Klischeegestrüpp und holpriger Dramaturgie dennoch anschauen kann? Weil manche Dialoge durchaus mit Comedy-Potenzial punkten. Ob bewusst läppisch à la: "Kaum gibt man dir den kleinen Finger, nimmst du gleich den ganzen Schwanz". Oder ziemlich gekonnt mit Klassiker-Qualitäten: "Ich bin doch nur ein Junge, der vor einem Jungen steht und ihn bittet, ihn zu lieben!" – "Hast du gerade "Notting Hill" zitiert?". Überzeugen kann zudem Jungstar Benito Bause, der den coolen Lover mit sensiblem Kern mit großer Lässigkeit präsentiert.
Von der routinierten Queerness britischer Serien ist der deutsche Anfänger aus der Ufa-Fabrik von Nico Hofmann naturgemäß meilenweit entfernt. Aber immerhin ein Anfang ist gemacht. Die letzte Folge gerät zudem noch so gut, dass man sich tatsächlich auf die bereits angekündigte Fortsetzung freut.
Hoffentlich mit realistischeren Figuren. Vielleicht können für Staffel zwei die "Kroymann"-Kreativen mitmischen und den River Phoenix von Moabit gleich mitbringen…
Infos zur Serie
All you need. Dramedy-Miniserie. Deutschland 2020. Buch und Regie: Benjamin Gutsche. Darsteller*innen: Benito Bause, Arash Marandi, Frédéric Brossier, Mads Hjulmand, Christin Nichols, Julius Feldmeier, Karsten Speck, Dennis Hofmeister, Mona Pirzad, Matthias Freihof, Jale Arikan, Martin Bruchmann. Laufzeit: 5 Folgen à 28 bis 34 Minuten. Seit 7. Mai 2021 in der ARD-Mediathek und am 16. und 17. Mai auch auf ONE