"Das schönste Kleid der Welt" ist ein Kinderbuch, das Licht auf die Gefühlswelt transgeschlechtlicher Kleinkinder wirft. Doch für wen? Die Heldin der kleinen Familiengeschichte heißt Anna. Anna hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer sie ist. Doch eine derlei philosophische Frage spielt im Alltag eines kleinen Kindes eine untergeordnete Rolle. Verständlich, geht es doch eher darum, etwa zu entscheiden, welche Spielsachen am meisten Freude bereiten.
Tatsächlich ist Anna ein ziemlich argloses Kind: Sie versteht nicht, dass in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, seltsame Regeln gelten. Es sind Regeln, die mit ihrem nicht in Worte zu fassenden Selbstverständnis über Kreuz liegen. Darum nennen die Leute Anna auch nicht Anna, sondern "Paul". Denn schon bei der Geburt "passiert etwas Seltsames", wie uns der Begleittext wissen lässt: Anna ist ein Junge. Sagt zumindest die Ärztin nach einem Blick zwischen Annas Beine. Komisch.
Implizites Körpergedächtnis
Als transgeschlechtliche erwachsene Person ein Buch über ein trans Kind zu lesen, ist eine Herausforderung. Annas Familie will wahrlich nur das Beste für sie. Die verwirrenden Erfahrungen, die Anna dennoch mit ihren Eltern, anderen Erwachsenen und Kindern macht, wecken Erinnerungen. Es sind Erinnerungen an kindliche Zeiten, in denen sich das Gedächtnis weniger in Worten abgefasst hat.
Die Bilder und die sie begleitenden Gefühle, die bei "Das schönste Kleid der Welt" aufkommen, sind von einer anderen, impliziten und darum existentiellen Qualität. Sie beschwören einen dieser unangenehmen Momente herauf, in denen man sich – pardon, in denen ich mich – erinnere, als läge das Erinnerungsvermögen nicht im Kopf, hinter der Stirn. Ich erinnere mich; mit meinem ganzen Körper. Und das tut ganz schön weh.
Jungs tragen keine Kleider!
Das gemeinnützige queere Projekt 100% Mensch hat "Das schönste Kleid der Welt" im Eigenverlag herausgebracht
Egal ob Puppen, Bagger, Bälle oder Spielzeugautos: Zunächst findet die Bilderbuchheldin all diese Dinge toll und aufregend. Tim bringt bunte Bauklötze, aber irgendwann verliert Anna die Lust an Tim und seinen Klötzen. Sie spielt lieber mit Mara und Zola Tierärztinnen. Eine Weile beobachtet das Umfeld Annas Treiben interessiert, bis es ihnen, schlussendlich, zu bunt wird. Anna möchte im Sommer ein hübsches Kleid tragen. Wie ihre Freundinnen. Doch ihre Eltern sagen: "Nein Paul, du bist ein Junge, und Jungen tragen keine Kleider!"
Annas Martyrium beginnt, und spätestens mit der Schule gerät sie immer wieder in Situationen, in denen sie nicht weiß, wie sie sich einfügen soll. Das, was die Menschen von Anna wollen, ergibt keinen Sinn. Im Sportunterricht sollen sich Mädchen und Jungs getrennt aufstellen. Anna stellt sich dazu. Es ist wieder falsch. Andere Kinder fangen an, das "komische" Kind zu ärgern. Und auf einmal wollen Mara und Zola nicht mehr mit Anna spielen, denn Jungs sind total doof.
Anna ist isoliert und allein. Sie ist traurig, hört auf zu lachen. Von Seite zu Seite tauchen vorher farbige Bilder in Grau. Dunkle Wolken ziehen auf, setzen sich tiefschwarz im Bildhintergrund fest. Anna sitzt als kleiner Grautonmensch auf der Schaukel. Und starrt den Boden an.
Auf Grundlage der Erinnerungen von trans Menschen
Annas Geschichte ist die spezifische Geschichte eines spezifischen trans Kindes. Doch das Bilderbuch über Anna hat Gespräche und Geschichten von transgeschlechtlichen Menschen zur Grundlage, die sich an ihre Kindheit erinnert haben. All diese Kindheiten sind einzigartig, die Wege und Gefühle unterschiedlich und nicht immer eindeutig. Und obwohl Annas Kindheitsgeschichte gravierende Unterschiede zu meiner eigenen aufweist, berührt mich das kleine Mädchen nicht einfach aus Mitleid mit einem anderen Menschen. Auch nicht so, wie man sonst vom Schmerz eines Kindes angefasst ist. Sie berührt mich, weil mich die Konflikte und Irritationen des transgeschlechtlichen Mädchens unmittelbar zu meinen eigenen führen.
Annas spezifische Geschichte steht stellvertretend für die Erfahrungen vieler trans Menschen
Ein Kinderbuch zu bewerten und zu entscheiden, ob man es empfehlen würde, ist schon prinzipiell keine einfache Sache – man ist ja kein Kind mehr. Das Buch verfolgt den Anspruch, Kinder und ihre Eltern, ob trans oder nicht, in die Gefühlswelt und die Bedrängnis transgeschlechtlicher Kids einzuführen. Ich glaube: Das gelingt ihm ziemlich gut.
Anna hat schließlich Glück. Als sich die Falschheit in ihrem Leben immer weiter zuspitzt, überwindet sie eines Tages ihre Angst. Es ist die Angst davor, dass Mama und Papa sie nicht mehr lieben könnten, wenn Anna sich nicht mehr so gibt, wie ihre Eltern sie gerne hätten. Anna sagt: "Mama, weißt du denn nicht, dass ich ein Mädchen bin?" Annas Eltern erkennen ihren Irrtum. Den meisten transgeschlechtlichen Menschen ist das verwehrt geblieben. Bücher wie "Das schönste Kleid der Welt" können daran in der Zukunft etwas ändern. Ein kleines bisschen vielleicht.
Online-Release am Montag, 14. Juni, 19. Uhr
Veröffentlicht hat die Geschichte der kleinen Anna das Projekt 100% Mensch, das es seit 2014 gibt, im Eigenverlag. Am Montag, den 14. Juni wollen die Herausgeber*innen das Buch in einer kleinen Online-Premiere feiern. Ab 19 Uhr wird die Veranstaltung via Youtube und Facebook gestreamt. Die Veranstalter*innen werden über die Entstehung des Textes, die enthaltenen Bilder, die Geschichte dahinter und über die Notwendigkeit solcher Bücher sprechen. Zu Gast sind der Zeichner Kai D. Janik, Petra Weitzel von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans*, Isabelle Melcher von der TTI-Beratung Ulm sowie Bettina Schreck und Autor Holger Edmaier von 100% Mensch.
Infos zum Buch
Das schönste Kleid der Welt. Text: Holger Edmaier, Illustrationen: Kai D. Janik, Satz: Bettina Schreck. Kinderbuch. 56 Seiten. Gebundene Ausgabe mit Fadenheftung. 21 x 21 cm. Projekt 100% Mensch. Stuttgart 2021. 12,50 €. ISBN: 978-3-9819175-0-5.
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Ich halte das allerdings für äußerst gefährlich: unser Schmerz dient ja Psychomedizinern, TERFs und anderen Rechten in erster Linie dazu, uns noch mehr davon zuzufügen. Bis wir kaputt sind, bis wir nicht mehr existieren.
Da uns ja dank der SPD das Transsexuellengesetz auf unbestimmte Zeit erhalten bleibt, wird dieses Buch in den Händen von Gutachtern und Zwangstherapeuten, auch denen im Dienste der Krankenkassen, fürchterliche Dienste leisten. Kindheiten und Sexualitäten lieben sie ja.
Das ist ein Dilemma: es ist in Deutschland unmöglich, über solche Themen zu schreiben, ohne diesen Leuten zuzuarbeiten. Es kommt eben darauf an, wer es außerdem noch liest, und anders.