Protest gegen das Gesetzespaket am Montag vor dem Parlament in Budapest (Bild: AI Ungarn / FB)
Das Einkammerparlament Ungarns hat am Dienstag ein Gesetz mit queerfeindlichen Zusatzanträgen beschlossen, die von LGBTI-Organisationen als ungarische Version des russischen Gesetzes gegen "Homo-Propaganda" und als Verstoß gegen EU-Recht und Menschenrechte kritisiert werden.
Für das Vorhaben, das mit dem Jugendschutz begründet wird, aber die Informationsrechte und den Schutz von queeren Jugendlichen einschränken würde, stimmten im Rahmen eines umfassenderen Gesetzespakets 157 Abgeordnete aus den Regierungsparteien Fidesz und Christlich-Demokratische Volkspartei sowie aus der rechten Oppositionspartei Jobbik. Es gab eine Gegenstimme. 41 Abgeordnete aus Oppositionsreihen hatten – wie teilweise zuvor angekündigt – nicht an der Abstimmung teilgenommen.
Vertreter*innen der Partei Fidesz des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban hatten die entsprechenden LGBTI-feindlichen Entwürfe erst in der letzten Woche eingebracht – als Zusatzanträge zu einem bereits länger debattierten Gesetzespaket, das sich gegen sexuelle Gewalt und "pädophile Täter" richtet und in diesem Ansinnen ursprünglich auch von der Opposition befürwortet wurde. Homo- und Transsexualität werde nun mit diesen Themen in Verbindung gebracht, kritisierten queere Organisationen, zugleich versuche die Regierung im Vorfeld der Parlamentswahl im nächsten Jahr, die Opposition zu spalten.
Eine von queeren Verbänden zusammen mit Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International erstellte Online-Petition gegen das queerfeindliche Vorhaben erzielte bislang über 100.000 Unterschriften. Am Montagabend hatten dazu tausende bis zehntausende Menschen vor dem Parlament demonstriert (queer.de berichtete).
Die Vorhaben konkret
Die nun angenommenen Zusatzanträge (PDF) ändern Gesetze zum Kinderschutz und Familienrecht, zum Bildungsbereich und zur Regulierung von Medien und Werbung. So ist ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Medien vorgesehen, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und in denen "Geschlechtsidentität abweichend vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, Geschlechtsoperationen und Homosexualität dargestellt und beworben" würden. Eine weitere neue Regelung würde Firmen und Institutionen entsprechende Inhalte in der Werbung verbieten – "wenn bestimmendes Element die Förderung, Zurschaustellung oder Selbstdarstellung der Geschlechtsidentität, Geschlechtsanpassung oder Homosexualität ist".
Das Portal "Freie Welt" aus dem Haus der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch und ihres Ehemanns Sven begrüßte bereits das Vorhaben Ungarns, "welches Kinder vor jeglicher LGBTQ-Propaganda schützt"
Entsprechende Inhalte dürften zudem nicht im Schulunterricht "beworben" werden – in der Praxis wird damit eine akzeptierende Schulaufklärung über LGBTI unmöglich gemacht. Sexualaufklärung und -pädagogik dürfte in und außerhalb von Schulen zudem nur noch durch Lehrer*innen und registrierte Organisationen durchgeführt werden, was wohl unter anderem zu einem Ausschluss queerer Schulprojekte führt.
Das Gesetz würde die öffentliche Debatte für LGBTI weiter "vergiften" und vor allem queere Jugendliche gefährden, kritisierte die queere "Hatter Society". Umfragen zufolge hätten 42 Prozent der ungarischen LGBTI einmal über Suizid nachgedacht und 30 Prozent einen entsprechenden Versuch begangen. Fast zwei Drittel queerer Schüler*innen seien verbalen Angriffen, 13 Prozent körperlichen Angriffen ausgesetzt gewesen.
Kritik kam auch aus den Medien. Das neue Gesetz würde eine Ausstrahlung von Filmen wie "Billy Eliott" oder "Philadelphia" und Episoden von "Modern Family" oder "Friends" erst nach Mitternacht ermöglichen, verdeutlichte RTL Klub, der größte Privatsender. Das führe zu wirtschaftlichen Schäden, aber schlimmer zu einem "Ausschluss sexueller Minderheiten aus den Massenmedien, was einen Kampf gegen Vorurteile gegen sie unmöglich macht". Man sei stolz auf ein diverses Mitarbeiter*innen-Team. Nun würden queere Menschen "wie Figuren aus Horrorfilmen" in das Spätabendprogramm verdrängt. Die ungarische Medienaufsicht war bereits im Frühjahr gegen den zur RTL Group gehörenden Sender vorgegangen, weil er einen Spot über Regenbogenfamilien ausgestrahlt hatte (queer.de berichtete).
Wie reagiert Europa?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 2017 regionale Vorläufer zum russischen Gesetz gegen "Homo-Propaganda" als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention bewertet (queer.de berichtete). Minderjährige hätten ein Recht auf objektive Informationen und auf einen Schutz vor Homophobie, so das Gericht des Europarates. Das ungarische Gesetz könnte zudem gegen diverse EU-Regelungen verstoßen, darunter die Grundrechtecharta und den Vertrag über die Europäische Union.
Ungarn war bereits Ende vergangenen Jahres mit mehreren Gesetzen und Verfassungsänderungen gegen LGBTI vorgegangen, was international auf Kritik stieß. Die Regelungen verbieten homosexuellen Paaren u.a. die Adoption und betonen in der Verfassung das "Geschlecht zur Geburt", das nun im Personenstandseintrag alleine maßgeblich und nicht mehr änderbar ist (queer.de berichtete).
Das neue Vorhaben stelle "nun einen weiteren Rückschlag gegenüber Grund- und Freiheitsrechten von LGTBIQ-Personen in Ungarn dar", kommentierte der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen. Er fordere EU-Institutionen dazu auf, "die anhaltenden und systematischen Angriffe der ungarischen Regierung auf die Menschenrechte von LGBTIQ-Menschen nicht nur scharf zu verurteilen, sondern auch rechtlich dagegen vorzugehen, wo es das EU-Recht zulässt. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen- und Freiheitsrechte mitten in der Europäischen Union mit Füßen getreten werden."
Auch der LSVD sprach von einem "weiteren Schritt zur Entrechtung und Ausgrenzung von LSBTI in Ungarn". Der "weitere unverhohlene Angriff des ungarischen Parlaments auf europäische Grundwerte und Grundrechte" müsse Folgen haben, so Vorstandsmitglied Alfonso Pantisano. "Die Möglichkeiten des Dialogs sind ausgeschöpft, nun müssen finanzielle Sanktionen ernsthaft geprüft und dann umgesetzt werden. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) fordert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu auf, sich und der Europäischen Union nicht länger auf der Nase herumtanzen zu lassen und den Rechtstaatsmechanismus der EU endlich gegen ungarische Regierung anzuwenden." (nb)
Update 16.10h: Kundgebung vor der ungarischen Botschaft
QueerGrün Berlin hat in sozialen Netzwerken für Dienstag um 18.30h zu einer Kundgebung vor der ungarischen Botschaft in Berlin (Unter den Linden 76) aufgerufen – "in Solidarität mit den ungarischen Queers & gegen das queerfeindliche 'Propagandagesetz'".