Seit Ende 2018 dürfen Menschen in Deutschland auch offiziell "divers" sein (queer.de berichtete). Jetzt wurde bekannt: Wenn die Polizei in Sachsen diverse Menschen durchsucht, bestimmt sie deren Geschlecht einfach selbst – und legt ein "biologisches Geschlecht" zugrunde. Wie sie das genau tut, geht aus einer Antwort des sächsischen Innenministers Roland Wöller (CDU) auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel nicht genau hervor.
Im Antwortschreiben (PDF) beschreibt Wöller die Polizeipraxis im ostdeutschen Freistaat, der regelmäßig mit seiner kreativen Auslegung demokratischer Gepflogenheiten für bundesweites Aufsehen sorgt. Demnach "orientiert sich die sächsische Polizei am biologischen Geschlecht als eindeutig feststellbarem Unterscheidungsmerkmal". Durchsuchungen von Personen würden dann "entsprechend der gesetzlichen Regelungen durch Personen gleichen Geschlechts bzw. durch Ärzte durchgeführt". Der Hintergrund ist, dass bei solchen Eingriffen in die Intimsphäre das Prinzip gilt, dass Personen nicht von Personen des "anderen" Geschlechts durchsucht werden sollen.
Bundesverfassungsgericht wollte Diskriminierung abschaffen
Dabei folgte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil, das letztlich den Weg für den Geschlechtseintrag "divers" freigemacht hat, dem längst etablierten, wissenschaftlicher Konsens: Das Geschlecht einer Person lässt sich nicht von außen objektivieren, also ohne Auskunft der Person feststellen. Intergeschlechtliche Neugeborene einfach als "männlich" oder "weiblich" einzuteilen oder den Geschlechtseintrag freizulassen, verstoße gegen ihre Persönlichkeitsrechte und sei diskriminierend. Daher musste ein neuer, positiver Geschlechtseintrag neben den bestehenden Optionen "männlich" und "weiblich" geschaffen werden.
"Biologisches Geschlecht" verstößt gegen Grundrechte
Juliane Nagel, deren Kleine Anfrage die Polizeipraxis ans Licht gebracht hat, kritisierte, dass offenbar "Vorurteile über das Aussehen von Menschen zum Maßstab polizeilichen Handels erhoben" würden. Mit seiner "Ignoranz" gegenüber den Grundrechten von trans- und intergeschlechtlichen Menschen beweise Wöller, "dass er als Innenminister vollkommen ungeeignet ist".
Sarah Buddeberg, Sprecherin für Gleichstellungs- Inklusions- und Queerpolitik der Linken in Sachsen, warnte davor, dass die polizeiliche Praxis auch die Rechte von binären transgeschlechtlichen Männern und Frauen gefährde. Beamte könnten sich mit Rückendeckung durchs Ministerium veranlasst sehen, "das vermeintlich 'echte' biologische Geschlecht entgegen des im Ausweis dokumentierten Geschlechtseintrags" feststellen zu wollen. Entsprechend würden dann Frauen von Männern und Männer von Frauen durchsucht. Dabei kann die Durchsuchung einer Person in der polizeilichen Praxis bis hin zur Inaugenscheinnahme von Körperöffnungen reichen. Die beiden Landtagsabgeordneten kritisierten zudem, dass so etwas wie ein "biologisches Geschlecht" eigentlich weder dem Grundgesetz noch dem Personenstandsgesetz noch dem Polizeigesetz bekannt seien.
Großes Misstrauen in sächsische Beamte
Im Gespräch mit queer.de weist Kuku Lueb vom Verein Trans-Inter-Aktiv in Mitteldeutschland darauf hin, dass die Landesarbeitsgemeinschaft Queeres Netzwerk Sachsen vor drei Jahren queerfeindliche Gewalt im Freistaat mit Hilfe einer Dunkelfeldstudie näher ausgeleuchtet hat. Man habe in Sachsen eine extrem geringe Anzeigebereitschaft vorgefunden, vor allem auch, weil die Betroffenen Diskriminierung durch Polizist*innen befürchten würden: "Da wirken dann solche Aussagen wie jetzt von Innenminister Wöller natürlich noch verstärkend."
Der Minister habe in seiner Antwort öffentlich einen Rechtsbruch zugegeben, sagt Lueb. Die Praxis verstoße nämlich gegen das geltende Polizeigesetz, das in dieser Frage sehr eindeutig sei. Der Verein rief auch in einer Pressemitteilung dazu auf, diverse Menschen der Praxis anderer Bundesländer folgend das Geschlecht der durchsuchenden Person aussuchen zu lassen – für den Fall, dass gerade keine diversen Beamt*innen zur Verfügung stehen.
Gesetz hat Diversen kaum genützt
Die Bundesregierung hatte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ende 2018 mit einem neuen Gesetz umgesetzt (queer.de berichtete), jedoch transgeschlechtliche Menschen, die nicht intersexuell sind, vom neuen Geschlechtseintrag ausgeschlossen. Weil die gesetzlichen Bestimmungen jedoch überhaupt nicht zu medizinischen Begrifflichkeiten passten, konnten einige transgeschlechtliche Menschen, die keine Intersexualität nachweisen können, ihren Namens- und Geschlechtseintrag trotzdem ändern lassen. Insbesondere einige Nichtbinäre wählten dabei, neben Intersexuellen, den neuen Geschlechtsmarker.
Bis Ende 2020 wurden allerdings insgesamt erst 300 diverse Personen in Deutschland registriert, wohl auch wegen der hohen gesetzlichen Hürden. Kritiker*innen verlangen seit Jahren, Menschen über ihren amtlichen Geschlechtseintrag endlich selbst entscheiden zu lassen. Ein entsprechendes Gesetzesvorhaben der Opposition scheiterte zuletzt im Mai im Bundestag an der Großen Koalition (queer.de berichtete).