Die EU als ein Ort der Würde und Vielfalt ist nicht denkbar ohne die rechtliche, soziale und kulturelle Akzeptanz sexueller Minderheiten und der Breite der Geschlechtervielfalt. Davon ist die EU allerdings noch weit entfernt: Sowohl Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle (LGBT* ) als auch intergeschlechtliche Menschen (I) erfahren in der EU immer noch Ausgrenzung und Diskriminierung. Der neueste LGBTI-Report zeigt: Rund 40 Prozent der betroffenen Personen berichten von persönlicher Belästigung oder Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, rund 60 Prozent würden sich nicht trauen, in der Öffentlichkeit die Hand ihres Partners oder ihrer Partnerin zu halten; circa 11 Prozent erfuhren in den vergangenen fünf Jahren Gewalt.
All das fußt auf Jahrhunderten der Ablehnung und Unterdrückung menschlicher Vielfalt durch kulturelle Normen, religiöse Vorstellungen und einer heteronormativen Idee von Gesellschaft und Zusammenleben. Millionenfache Schicksale stecken dahinter, schließlich verstehen sich rund 6 Prozent der EU-Bevölkerung als LGBTI*, und um die 10 Prozent ordnen sich einem Spektrum außerhalb klassischer heterosexueller Zuschreibungen zu.
Die LGBTI-Frage wird zu Europas Gretchenfrage
Dieser Beitrag ist ein angepasster Auszug aus dem Buch "Europe For Future – 95 Thesen, die Europa retten", erschienen Anfang August bei Droemer
Für die EU lässt sich vereinfacht feststellen, dass je weiter östlich, desto schwieriger die Situation für Betroffene. In Polen haben sich gar 100 Gemeinden und Landkreise zu "LGBT-ideologiefreien Zonen" (Strefa wolna od ideologii LGBT) erklärt, und in Ungarn verbietet ein neues Gesetz die nachträgliche Änderung des Geschlechts auf amtlichen Dokumenten. In vielen Teilen Osteuropas – und nicht nur da – steht die LGBTI*-Ablehnung exemplarisch für eine tiefe Verunsicherung und Uneinigkeit in zentralen Fragen des europäischen Miteinanders: Welche Werte und Normen halten die EU zusammen? Wo liegen die gesellschaftspolitischen Prioritäten? Wie umgehen mit dem (vermeintlichen) Verlust von Traditionen und Gewohnheiten in einer Welt im Wandel? Die LGBTI*-Frage ist zu Europas Gretchenfrage geworden: "Nun sag, wie hast du's mit den europäischen Werten und der Würde jedes Menschen?"
Diskriminierung ist nach den EU-Verträgen verboten
Für uns ist klar: Eine Ausgrenzung sexueller oder geschlechtlicher Minderheiten lässt sich mit dem europäischen Werte- und Würdeverständnis nicht vereinbaren. In Artikel 21 der Grundrechtecharta der Europäischen Union heißt es unmissverständlich: "Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, (…) oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten." Was die EU und die Betroffenen schleunigst brauchen, ist Akzeptanz und Verbindlichkeit. Die im November 2020 vorgestellte LGBTIQ-Strategie der EU-Kommission liefert einen wichtigen Beitrag dazu. Hier werden erstmals gemeinsame Ziele und Standards festgelegt und auch Gelder für den Einsatz gegen Diskriminierung und hate speech mobilisiert. Doch das geht noch nicht weit genug.
Insbesondere Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die in vielen Teilen Europas bis heute meinungsprägend sind, müssen sich die unbequeme Frage anhören, inwieweit sie eine menschenunfreundliche und zuweilen bigotte Sicht auf die Thematik noch beibehalten und wie dies mit eigenen Werten der Nächstenliebe in Einklang zu bringen ist. EU-Fördergelder müssen konsequent zurückgehalten werden, wenn in Regionen oder ganzen Staaten sexuelle Minderheiten diskriminiert und ausgeschlossen werden.
Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind Autoren, EU-Experten und Berater aus Berlin. Gemeinsam machen sie sich als Team HERR & SPEER für das vereinte Europa und eine geschlechtergerechtere Gesellschaft stark. Für ihr Engagement wurden sie u.a. mit dem Jean-Monnet-Preis für europäische Integration ausgezeichnet (Bild: Phil Dera)
Akzeptanz der Geschlechtervielfalt
Zu einer umfassenden LGBTI*-Akzeptanz gehört auch die EU-weite formale Anerkennung des dritten Geschlechts und der vollen Geschlechtervielfalt, also beispielsweise der gelebten Erfahrung, mit einem Körper geboren zu sein, der den normativen Vorstellungen von männlich/Mann und weiblich/ Frau nicht entspricht. EU-Staaten wie Malta, Portugal, Deutschland und Dänemark haben dafür schon Gesetzgebungen auf den Weg gebracht und ermöglichen den entsprechenden Personen Eintragungen wie "divers" oder "x" im Personenstandsregister oder in amtlichen Dokumenten. Wir schlagen vor, dass eine Anerkennung in allen EU-Staaten und auf europäischer Ebene ermöglicht wird und alle amtlichen Dokumente die Option "divers" erhalten oder es freigestellt wird, ob ein Geschlecht überhaupt eingetragen wird.
Liebe in Verantwortung? Fehlanzeige
Auch bei der Frage der Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare in Ost und West gespalten. Wer in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen und dafür eine Ehe schließen will, kann dies aktuell nur in zwölf EU-Mitgliedsstaaten tun. In sieben weiteren ist immerhin alternativ die eingetragene Lebenspartnerschaft eine Option, während ein formaler Verbund eines gleichgeschlechtlichen Paares in Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und der Slowakei explizit ausgeschlossen ist.
Uns selbst betrifft das Thema unmittelbar: Martin lebt mit einem Mann zusammen, Vincent mit einer Frau. Bis 2017 wurden wir auch in Deutschland vor dem Gesetz unterschiedlich behandelt. Diese Ungerechtigkeit hat uns dazu bewegt, 2015 einen offenen Brief an die deutsche Bundesregierung zu schreiben. Unter dem Titel #EsIstZeit haben den Brief rund 150 prominente Personen des öffentlichen Lebens und weitere 50.000 per Online-Unterschriften mitgetragen. Im Brief hieß es damals: "Für immer mehr von uns, mittlerweile eine überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft, ist Gleichheit nur möglich, wenn die Liebe zwischen zwei Menschen nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Ist Freiheit nur erreicht, wenn Familie und Ehe keine Frage des Geschlechts, sondern der gelebten Verantwortung füreinander sind." Was für Deutschland gilt, gilt mittlerweile auch für die EU. Rund 76 Prozent der EU-Bürgerinnen unterstützen heute die Forderung nach der Ehe für alle.
Das Gebäude der EU-Kommission am IDAHOBIT 2020 (Bild: EU / /Claudio Centonze)
Ein Solidaritätspakt europaweit
Dass es Menschen in einigen EU-Staaten bis heute grundsätzlich nicht möglich ist, eine rechtlich geschützte Partnerschaft einzugehen, steht im Widerspruch zu den Grundwerten der EU. Um diesen Widerspruch aufzuheben, schlagen wir zweierlei vor: Zum einen soll es allen Paaren – unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung – in der EU ermöglicht werden, eine solche verbindliche Partnerschaft einzugehen. Das Vorbild dafür findet sich in Frankreich. Hier wurde 1999 der sogenannte Zivile Solidaritätspakt (Pacte civil de solidarité, kurz PACS) eingeführt. Diese zivilrechtliche Partnerschaftsform ermöglicht es Paaren, egal ob hetero-, bi- oder homosexuell, Verantwortung füreinander zu übernehmen und beispielsweise steuerliche oder Erbschaftsfragen gemeinsam zu regeln. Der Solidaritätspakt wird von lokalen Behörden und nicht, wie bei der Ehe üblich, vom Amtsgericht geschlossen – und wird auch als "Ehe light" bezeichnet. Das Modell erfreut sich großer Beliebtheit. Rund 190.000 Partnerschaften, davon 96 Prozent zwischen heterosexuellen Paaren, werden mittlerweile pro Jahr geschlossen. Geheiratet wird in Frankreich mit 230.000 Mal pro Jahr nur ein wenig öfter. Der Pakt scheint zur Lebensrealität und zu den Wünschen vieler Bürgerinnen zu passen. Mittlerweile gibt es den Solidaritätspakt auch in Luxemburg, andere Länder wie Österreich oder die Schweiz denken über die Einführung nach.
Die Eheöffnung ist für Europas Wertekanon unverzichtbar
Wir schlagen vor, dass der Zivile Solidaritätspakt nach französischem Vorbild eine Option für alle Paare in der Europäischen Union wird. Allen Paaren in der EU soll darüber hinaus der Zugang zur Ehe ermöglicht werden. Abgeleitet vom Grundverständnis der Gleichheit, unabhängig vom Geschlecht und der sexuellen Orientierung, ist auch dieser Schritt für eine EU der Würde und Gerechtigkeit unverzichtbar. Um einen gesellschaftlichen Konsens für die Eheöffnung in den skeptisch eingestellten Staaten herzustellen, soll den betreffenden Ländern eine Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren gewahrt werden. Folgt nach der Frist keine umfassende rechtliche Gleichstellung für gleich- geschlechtliche Paare, sollen Kürzungen der EU-Fördergelder oder der Ausschluss von Bewerbungen auf diese folgen. Die Schaffung beider Optionen, der zivilen Partnerschaft nach französischem Vorbild und der Ehe für alle, kann es mehr Paaren in der EU ermöglichen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Das wäre nicht nur ein Segen für Europas Paare, sondern auch für Europas Gesellschaft(en). Weil Verantwortung füreinander im Kleinen beginnt und dann ins Große ausstrahlt.
Infos zum Buch
Vincent-Immanuel Herr, Martin Speer: Europe For Future – 95 Thesen, die Europa retten. Das europäische Manifest im Wahljahr 2021. 336 Seiten. Droemer. München 2021. Paperback: 16,99 € (ISBN 978-3-426-30268-2). E-Book: 14,99 €
Der Eintrag eines Geschlechtes überhaupt stellt schon die Grundlage der Ungleichbehandlung dar. Wo dieser Eintrag sinnvoll wäre ist bei der Krankenversicherung, aber staatlichen Belangen muss diese Information eigentlich nicht zur Verfügung stehen.
Oder weiß jemand ein Beispiel dafür?