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"Skurrile Minderheiten"
Warum Sahra Wagenknecht nicht aus der Partei geworfen wurde
Die Landesschiedskommission der Linken NRW attestiert Sahra Wagenknecht in ihrem Bericht eindeutig parteischädigendes Verhalten. Da der Vorstand sie jedoch gewähren ließ, wurde sie nicht ausgeschlossen.

Sahra Wagenknecht bei einem Wahlkampfauftritt in Gelsenkirchen (Bild: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen / flickr)
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18. Oktober 2021, 05:34h 5 Min.
Der jetzt veröffentlichte Bericht der Landesschiedskommission (LSchK) der Linken in Nordrhein-Westfalen zum abgelehnten Parteiausschluss von Sahra Wagenknecht dürfte bei den Sozialist*innen für reichlich Zündstoff sorgen. Anfang September hatte das Gremium einstimmig entschieden, dass die Bundestagsabgeordnete trotz ihres Fischens am rechten Rand in der Partei bleiben darf (queer.de berichtete). Die 43-seitige Begründung entlastet Wagenknecht jedoch keineswegs, sondern wirft der 52-Jährigen nun eindeutig parteischädigendes Verhalten vor. Auszüge aus dem Papier hat das Landesvorstandsmitglied Edith Bartelmus-Scholich am Sonntag auf scharf-links.de veröffentlicht.
Mit ihrem Buch "Die Selbstgerechten" war Sahra Wagenknecht im Frühjahr massiv in den eigenen Reihen in die Kritik geraten. Darin beklagt die ehemalige Oppositionsführerin im Bundestag unter anderem, dass die politische Aufmerksamkeit auf "immer skurrilere Minderheiten" gelenkt werde, "die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein." Als Beispiel für solche "Marotten" nennt sie sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Ethnie (queer.de berichtete).
Die Landesschiedskommission übt deutliche Kritik an Wagenknechts Wortwahl:
Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie, Homo-, Bisexualität oder Transgeschlechtlichkeit tatsächlich zu Opfern von Diskriminierung werden, bezeichnet sie als "skurrile Minderheiten mit Marotten". Nicht die Diskriminierung sieht sie als Problem, sondern dass diese Menschen daraus "den Anspruch ableiten, Opfer zu sein." Verständlich, dass sich diejenigen Parteimitglieder, die sich auch oder bevorzugt in Bewegungen und sogar Parteigliederungen engagieren, welche Antidiskriminierungsarbeit leisten, unsolidarisch getroffen, bzw. verhöhnt fühlen.
Während Sahra Wagenknecht in ihrem Buch kein gutes Haar an der eigenen Partei lässt, lobt sie die "couragierte Sozialpolitik" der queerfeindlichen polnischen Regierungspartei PiS. Außerdem macht sich die Politikerin über Teilnehmer*innen von CSD-, "Fridays for Future"- oder "Black Lives Matter"-Demos lustig: Es sei "nicht erstaunlich, dass Lifestyle-Linke fast immer unter sich bleiben, wenn sie auf die Straße gehen. Und zwar ganz gleich, ob sie für das Klima, für LGBTQ+ oder gegen Rassismus demonstrieren". Bei Demos der Corona-Leugner*innen, bei denen schon mal Regenbogenfahnen zerrissen werden, sieht Wagenknecht hingegen eine große Zahl "unzufriedener Normalbürger". Lob für ihre Thesen erhielt sie von der AfD (queer.de berichtete).
Wagenknechts Äußerungen widersprechen in mehreren Punkten den programmatischen Aussagen der Partei, urteilt die Landesschiedskommission:
Nach der Überzeugung der LSchK lassen sich dem aktuellen Programm der Partei DIE LINKE in Verbindung mit den Gründungsdokumenten zumindest die von den Antragstellern genannten Grundsätze einer solidarischen Einwanderungsgesellschaft mit offenen Grenzen für Flüchtlinge, der Anerkennung von Vielfalt und Selbstbestimmung diskriminierter Minderheiten sowie der Grundsatz des Internationalismus entnehmen. Die Äußerungen der Antragsgegnerin widersprechen in allen drei Fällen den programmatischen Aussagen der Partei zu diesen Themen. Allein darin liegt indes noch kein "Verstoß" gegen die Grundsätze, denn die Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch innerhalb der Partei. Vielmehr besteht der Verstoß darin, dass die Antragsgegnerin ihre Ansichten in einer Art und Weise medienwirksam verbreitet, die die ihr obliegenden Loyalitäts- und Solidaritätspflichten in einem nicht mehr durch das Recht auf innerparteiliche Meinungsfreiheit gedeckten Maße verletzt.
Wagenknecht habe darüber hinaus Genoss*innen vergrault und Wähler*innen verschreckt, so das Gremium in seinem Bericht:
Der Schaden, der der Partei durch das Verhalten der Antragsgegnerin entstanden ist, liegt wie gezeigt darin, dass der Partei die Durchsetzung ihrer politischen Ziele erschwert wird, weil Mitglieder, die sich für diese Ziele einsetzen, die Partei verlassen, weil zivilgesellschaftliche Gruppen, die für die gleichen Ziele kämpfen, DIE LINKE nicht mehr als Bündnispartner wahrnehmen, und weil Wähler, denen diese Ziele wichtig sind, abgeschreckt werden.
Einen Parteiausschluss von Sahra Wagenknecht lehnt die Komission dennoch ab – mit der Begründung, dass der Vorstand der Linken sie seit Jahren gewähren ließ:
Die Antragsgegnerin hat über lange Zeiträume hinweg und mit erheblicher medialer Wirkung die Grundsätze der Partei angegriffen, ohne dass eine adäquate Reaktion erfolgte. Spätestens nachdem das vorliegende Parteiausschlussverfahren eingeleitet wurde, wäre es angebracht gewesen, dass der Parteivorstand die inhaltlichen Positionen des Parteiprogramms gegen die Angriffe der Antragsgegnerin verteidigt – umso mehr vor einer Bundestagswahl. Da vorliegend der wesentliche, zu der Annahme von Grundsatzverstößen führende Vorwurf gegen die Antragsgegnerin darin besteht, dass sie ihre Thesen in illoyaler, unsolidarisch, herablassend und diffamierend empfundener Art und Weise verbreitet, hätten die von der Antragsgegnerin kritisierten Parteimitglieder, Betroffenen und Interessenvertreter von der Partei erwarten dürfen, dass sie die scharfen Äußerungen und Etikettierungen in den "Selbstgerechten" zurückweist und die so Kritisierten vor Diffamierung und Herabsetzung in Schutz nimmt. Stattdessen ließen sich Mitglieder der Parteivorstände auf Bundes- und Landesebene wie auch viele andere führende Genossen mit wenig hilfreichen Äußerungen zum vorliegenden Verfahren vernehmen.
Tatsächlich hatten sich nicht nur die beiden Parteivorsitzenden Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, sondern auch Berlins Spitzenkandidat Klaus Lederer – einer der schärften Wagenknecht-Kritiker*innen in der Linken – öffentlich gegen einen Parteiausschluss ausgesprochen (queer.de berichtete). Diese "Untätigkeit" habe "den Schaden möglicherweise vergrößert", so die Landesschiedskommission:
Diese Unentschlossenheit und der dadurch verursachte Eindruck, der Partei sei die Maximierung ihrer Wählerstimmen wichtiger als die Durchsetzung ihrer programmatischen Ziele, beschädigt erheblich die Glaubwürdigkeit der Partei. Wähler können – offenbar zu Recht – nicht darauf vertrauen, dass die Partei ihre im Programm niedergelegten inhaltlichen Positionen auch offensiv vertritt. Vielmehr geben die Stellungnahmen der Parteiführungen etc. denjenigen Wählern, die mit dem im Programm enthaltenen Aussagen übereinstimmen, das Signal, diese Grundsätze könnten geopfert werden, um weitere Auseinandersetzungen innerhalb der Partei zu vermeiden. Durch dieses Verhalten stößt die Partei nicht nur diejenigen Wähler ab, die sich eine klare Abgrenzung von den Thesen der Antragsgegnerin wünschen, sondern letztlich auch diejenigen, die die Ansichten der Antragsgegnerin unterstützen, sowie all jene, die keiner Seite zuzurechnen sind, von der Partei aber eine Klärung der umstrittenen Punkte erwarten. Gemessen an der Wählerzustimmung haben die verantwortlichen Vorstände durch Untätigkeit den Schaden möglicherweise vergrößert."














