Der Negativpreis der Neuen deutschen Medienmacher*innen, die "Goldene Kartoffel", geht in diesem Jahr an die Diskussion über "Identitätspolitik" in bürgerlichen Medien. Das teilte die Journalist*innen-Organisation am Donnerstag in Berlin mit.
"Die Debatte über 'Identitätspolitik' in deutschen Medien 2021 war überzogen, unsachlich, polarisierend und hat rechtsradikale Erzählungen salonfähig gemacht", heißt es in der Begründung der Jury. "Deshalb gebührt ihr die 'Goldene Kartoffel' und damit, herzlichen Glückwunsch, so gut wie allen Medien des bürgerlichen Spektrums, von der taz bis zur FAZ, von ARD bis ntv, von Deutschlandradio bis Radio Energy. Das war wirklich ein Gemeinschaftswerk."
Debatte wll Stimmen von Minderheiten "delegitimieren"
Obwohl das Thema "Identitätspolitik" niemand so wirklich verstehe, sei es "in den meisten Medien rauf und runter diskutiert" worden, "mit Stichworten wie 'Cancel Culture', 'bedrohte Meinungsfreiheit' und 'Rassismus gegen Weiße'", kritisierten die Neuen deutschen Medienmacher*innen. "Die Wahnvorstellung, dass Ausländer*innen die Diskurshoheit übernehmen, autoritäre Minderheiten Sprechverbote erteilen und linke Aktivist*innen an den Schaltstellen der Macht sitzen, könnte man getrost als neurechtes Geschwafel abtun. Nicht so das deutsche Feuilleton: Um die verlorene Ehre des alten weißen Mannes wiederherzustellen, fuhr es 2021 journalistisch schwere Geschütze auf."
Ausgerechnet nach den rechtsterroristischen Anschlägen von Halle und Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem Einzug von Rechtsextremen in sämtliche deutsche Parlamente hätten viele Medien "ernsthaft darüber sinniert, ob 'linke Identitätspolitik' das harmonische Zusammenleben bedrohe", kritisierte die Jury. Diese Frage nach einer angeblichen Spaltung der Gesellschaft sei "alles andere als harmlos", warnt sie in ihrer Begründung. "Sie dient dazu, die Stimmen von Feminist*innen, Schwarzen Menschen, Migrant*innen, behinderten oder queeren Menschen usw. zu delegitimieren." In rechtsextremen Foren werde schon lange gegen angeblich allmächtige, "identitätspolitische" Minderheiten gehetzt. "Dass sich diese Wahrnehmungsstörung 2021 auch in bürgerlichen Medien breit gemacht hat, ist bedenklich."
Wolfgang Thierse startete die Debatte in der "FAZ"
Maßgeblich angestoßen wurde die breite Debatte über "linke Identitätspolitik" von dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse, der im Februar den Text "Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft" in der "FAZ" veröffentlichte (queer.de berichtete). Darin beklagte er, dass "Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität dominieren" und entsprechende Debatten zu aggressiv geführt würden. Minderheiten forderte Thierse auf, "geschichtlich geprägte kulturelle Normen, Erinnerungen, Traditionen" anzuerkennen: "Der unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein ist nicht alles. Er muss vielmehr eingebettet sein in die Anerkennung von Regeln und Verbindlichkeiten, übrigens auch in die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen."
Die "Goldene Kartoffel" 2021 wird am 23. Oktober in Köln verliehen. Die Negativ-Auszeichnung "für besonders unterirdische Berichterstattung" gibt es seit 2018. Zu den früheren Preisträger*innen zählt u.a. der ehemalige "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt. (mize)