Das, was wir von Catharina Margaretha Linck wissen, wissen wir vor allem durch die Autorin Angela Steidele, die schon 2004 ihr Buch "In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721" (Amazon-Affiliate-Link ) publizierte. Nach der Veröffentlichung sammelte sie weitere Hinweise, zum Beispiel zu Lincks Ehefrau, der damals 19-jährigen Catharina Margaretha Mühlhahn. Zum 300. Jahrestag der Hinrichtung Lincks ist im Insel-Verlag Anfang November eine erweiterte Neuausgabe erschienen. Ein guter Anlass, um Angela Steidele einige Fragen zu stellen.
Wann hast du eigentlich das erste Mal von Catharina Margaretha Linck erfahren?
Während der Recherchen zu meiner Dissertation "Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" (2003) bin ich durch eine beiläufige Fußnote in einer US-Publikation auf den Zeitschriftenaufsatz von Franz Carl Müller "Ein weiterer Fall von conträrer Sexualempfindung" (1891, S. 279-300) aufmerksam geworden, den ich mir dann über Fernleihe bestellt habe. Schon beim ersten Lesen merkte ich, wie unglaublich diese Geschichte ist. Dieser Aufsatz führte mich zur Strafjustizakte von 1721, die ich dann im Berliner Geheimen Staatsarchiv einsah. Der Archivar erkannte anhand des Knotens, mit dem der Packen zugeschnürt war, dass diese Akten seit dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr bestellt hatte. Als ich sie öffnete, lag ganz oben noch der Besucherzettel des letzten Benutzers: "Dr. Müller-München 1890/91". In diesem Moment hatte ich ein Gefühl, als wehe mich der Hauch der Geschichte an. Diese Strafjustizakte war viel umfangreicher, als es Müllers Text vermuten ließ, und mir wurde bald klar, dass ich das Thema für das nächste Buch nach meiner Dissertation gefunden hatte.
Wie kam es zu diesem Foto von einem zeitgenössischem Herrenrock auf dem Cover?
Von Catharina Margaretha Linck gibt es nur eine zeitgenössische Darstellung, das Frontispiz der Broschüre "Umständliche und wahrhaffte Beschreibung einer Land- und Leute-Betrügerin" (1720), das für das Cover der ersten Ausgabe verwendet wurde. Es ist jedoch kein echtes Porträt, sondern zeigt nur, wie sich ein damaliger Kupferstecher Catharina Linck vorstellte, die zu dieser Zeit bereits im Kerker saß. Der Justaucorps, den sie dort trägt – also die typische Oberbekleidung für Männer im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert -, sieht einem Kleidungsstück aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg verblüffend ähnlich. Der Insel Verlag hat für die Neuausgabe auf ein Foto hiervon zurückgegriffen, weil zum einen die Phantasie-Darstellung Lincks von 1720 nicht authentischer gewesen wäre und zum anderen ein Foto samt moderner Schrift wie eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit funktioniert. Denn letztendlich schauen wir immer aus der Gegenwart in die Vergangenheit und nur für unsere Zeit erzähle ich Lincks Geschichte.
Kann man nicht sogar behaupten, dass Geschichtsbücher nur etwas über heute aussagen?
Nicht alles, das wäre ungerecht, aber die Geschichtsschreibung sagt sehr vieles über das Heute aus. Durch eine Biografie erfährt die Leser*innenschaft zwar viel Verlässliches und Interessantes über die Vergangenheit, aber aus der Sicht der Biografin bzw. des Biografen. Es sind die Fragen unserer Zeit und unserer Generation, die wir an die Vergangenheit richten, und dementsprechend sind die Antworten.
Für Franz Carl Müller war Linck 1891 in seinem oben genannten Aufsatz ein Beispiel einer perversen Sexualempfindung. Mir sagen die Akten – 130 Jahre später – anderes. Die Deutungen und Einschätzungen ändern sich ständig, und auch ich als Biografin bin der Dynamik meiner Zeit unterworfen. Wenn in 200 Jahren noch mal jemand auf Catharina Margaretha Linck aufmerksam wird, werden die Fragestellungen und dementsprechend auch die Antworten wiederum anders ausfallen. Trotz aller meiner Recherchen bleibt für mich die Frage offen, ob Linck eine Lesbe oder ein trans Mann war. Nicht nur die Antworten, sondern auch unsere Fragen sagen mehr über uns als über unsere Vergangenheit aus.
Ab und zu sprichst du von Catharina als Mann, der eine Frau begehrt...
Im Vergleich zur ersten Ausgabe des Buches bin ich vorsichtiger geworden, die Quellen vornehmlich als Zeugnisse des lesbischen Begehrens zu deuten. Trans Menschen rezipieren das Leben von Catharina Linck anders als ich. Obwohl ich als Lesbe die Lesbe in ihr sehe, habe ich sprachlich stärker berücksichtigt, dass trans Menschen hier legitimerweise einen trans Menschen erkennen. Aus diesem Grund habe ich es im Erzählduktus der Neufassung bewusst offener gelassen, wer er/sie eigentlich war. Es war erzählerische Absicht, dass sich der Wechsel der Geschlechter auch sprachlich abbildet, und deshalb habe ich von einem Mann geschrieben, wenn Catharina Linck für andere als Mann erkennbar war. Durch Zitate kommt es trotzdem zu Ungereimtheiten, so dass zwischen "er" und "sie" das Geschlecht der Person als fluid erscheint. Diese Fluidität eröffnet mehr Raum für Interpretation und Identifikation und macht Linck zudem zu einer sehr modernen Figur.
Kannst du dich mit Catharina Margaretha Linck – diesem "durchtriebenen Luder" (S. 64) – überhaupt identifizieren?
Seit dem ersten Archivkontakt vor rund 20 Jahren bin ich in Catharina Margaretha Linck verliebt. Sie hat mich unendlich vieles gelehrt, über Frau-Sein, Mann-Sein, Dazwischen-Sein, über die Transkription historischer Handschriften wie auch über die Problematik der Biografie als Gattung. Als Biografin muss ich neben vielem anderen auch meine eigene persönliche Nähe zu meiner Heldin reflektieren. Weitläufiger habe ich darüber in meiner kleinen "Poetik der Biographie" (2019) nachgedacht.
Im Buch wendest du dich mehr oder weniger gegen den Begriff "queer".
Der Begriff "queer" funktioniert als Möglichkeit der heutigen Positionsbestimmung. Mit ihm lassen sich komplexe historische Zusammenhänge jedoch nicht darstellen. Um das Leben und die Identität von Frauen aus vorigen Jahrhunderten nachzuvollziehen – das habe ich auch bei meiner Doppelbiografie über Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens gemerkt -, ist der Begriff "queer" unbrauchbar, da er eine verquere Haltung der so Bezeichneten zur Mehrheitsgesellschaft beinhaltet, die sich so nicht in jeder Epoche findet – man denke etwa an die staatstragende Männerliebe im alten Griechenland.
Wie waren die bisherigen Reaktionen auf deine Veröffentlichungen zu Linck?
Wo immer ich Catharina Linck vorstelle, löst sie Faszination aus. Halberstadt, wo die Todesstrafe gegen Linck vollstreckt wurde, ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Dort habe ich 2005 den Gleim-Literaturpreis erhalten, der vom Förderkreis des Gleimhauses in Verbindung mit der Stadt Halberstadt vergeben wird. Die Direktorin des Gleimhauses engagiert sich für eine Gedenkplakette, die allerdings wohl zum 300. Todestag nicht mehr angebracht werden wird. Die Franckeschen Stiftungen in Halle haben mich ebenfalls zu Lesungen eingeladen und sind sich bewusst, welchen Zögling sie dort hatten.
Ich habe schon oft zu hören bekommen, wie filmreif diese Geschichte ist – mal sehen, ob wir Lincks Geschichte noch auf der Kinoleinwand oder im Fernsehen erleben. Es gab auch schon zwei Bühnenadaptionen, ein Hörspiel und einen Comic.
Ich vermute, dass Catharina Linck zukünftig noch stärker rezipiert werden wird. Meine Lektorin meinte, dass die mit Linck verbundenen Themen heute besser in die Zeit passen als bei der ersten Ausgabe 2004. Denn nach der Homosexualität bekommt nun auch das Trans-Thema in der Öffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit. Es ist spannend zu beobachten, wie anknüpfungsfähig sich Linck in Bezug auf aktuelle Fragestellungen von Geschlecht, sexueller Orientierung und Identität erweist.
Kannst du dir vorstellen, dass durch Digitalisierungen neue Quellen zu Linck gefunden werden?
Es wäre schön, wenn ja, aber ich glaube nicht, dass noch essenziell neue Quellen auftauchen werden. Über Jahre war ich eine Art Sammelstelle für neue Funde zu Linck. Mehrere Personen haben mich mit weiteren Informationen und Dokumenten unterstützt, etwa zu Lincks Ehefrau, die in der Neuausgabe berücksichtigt wurden. Zu den noch offenen Fragen gehört Lincks Rolle in der radikal-pietistischen Sekte ab 1714 in Halle. Aber vielleicht stößt jemand anderes mit anderen Fragestellungen auf neue Funde – nur zu!
Hintergrundbericht: Europas letzte Hinrichtung für "Unzucht mit einer anderen Frau"
TermineBundesweit: Montag, 8. November 2021, 9.45-10 Uhr im WDR 5 und 17.45-18 Uhr im WDR 3
Am 300. Hinrichtungstag, dem 8. November, widmet der WDR sein "Zeitzeichen" Catharina Margaretha Linck. Der Beitrag wird auch als Podcast verfügbar sein.
Halberstadt: Montag, 8. November 2021, 19.30 Uhr
Buchpräsentation anlässlich des 300. Hinrichtungstages von Catharina Linck/Anastasius Rosenstengel in Halberstadt. Gleimhaus. Museum der deutschen Aufklärung, Domplatz 31, 38820 Halberstadt.
Hamburg: Dienstag, 9. November 2021, 19.30 Uhr
Buchpräsentation "Der Fall Linck – Queer im 18. Jahrhundert". Mit Karin Hanczewski ("Tatort"), Stephanie Weber (Drag King) und Julia Westlake (Moderation). Im Rahmen von "Der Norden liest" (NDR). Kampnagel, Jarrestraße 20, 22303 Hamburg. Die Veranstaltung wird live gestreamt auf:
ndr.de/dernordenliest.
Köln: Mittwoch, 17. November 2021, 17 Uhr
Justizgebäude am Appellhofplatz. Sitz des Verwaltungs- und des Finanzgerichts Köln. Lichthof, Eingang von der Burgmauer, 50667 Köln. Der Eintritt ist frei. (Der Anmeldeschluss war bereits am 3. November 2021. Bitte unter
75-jahre-justiz@vg-koeln.nrw.de erkundigen, ob noch Plätze zur Verfügung stehen.)
Münster: Montag, 29. November 2021, 20 Uhr
Buchpräsentation in der Aula der Katholischen Studierenden- und Hochschulgemeinde, Frauenstraße 3-6, 48143 Münster. In Kooperation mit der Queergemeinde Münster.