Ja, die Bibel schießt ganz schon scharf, wenn es um gleichgeschlechtliche Sexualkontakte geht. Und konservativ und progressiv zeigen bei der Auslegung der wenigen Stellen hierüber eine verdächtig harmonische Einigkeit: Die Bibel sei homophob, meinen sie.
Für die einen gehört das zum Glauben an Gott dazu, und die anderen hoffen und kämpfen dafür, dass gerade durch solche "rückständigen" Texte die Bibel in der Gesellschaft und den Communitys einfach weniger relevant wird. Rütteln am Verständnis wollen, so meine persönliche Erfahrung, beide eher nicht. Jede*r hat damit eine Agenda. Für die einen wäre das ein Kontrollverlust, eine Verfälschung und eine Abkehr von der Tradition; für die anderen ein "Pinkwashing" eines doch evidentermaßen patriarchalen und heteronormativen Textes, der aus unserem öffentlichen Leben verschwinden solle.
Alle lesen sie ihr aktuelles Verständnis von Homosexualität in die Bibel hinein – einen Begriff, den es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt. Manche Bibelübersetzungen haben sogar Homosexualität an die betreffenden Stellen hineingedruckt – in Texten, die mindestens 2.000 Jahre älter sind und dieses Wort nicht kennen.
Die Demagog*innen außerhalb des westlichen Einflussbereiches reiben sich die Hände – und natürlich auch die, die die biblischen Texte eigentlich ins Fadenkreuz nehmen. Denn das, was die "homophoben" Texte der Bibel im Blick haben, ist nicht queer. Es ist straight.
Es gibt niemanden in der Antike – wir suchen immer noch auf Hochtouren – der sich selbst offen als "Homosexueller" beschreiben würde. Das, was die "homophoben" Texte der Bibel beschreiben, ist ein Verhalten, das mit Frauen verheiratete Männer aus der Elite von Ägypten über Kanaan bis nach Mesopotamien, Griechenland und Rom an den Tag legten. Es beschreibt Praktiken mächtiger Männer, die entweder für okay gehalten wurden oder die von ihren Ehefrauen einfach hingenommen werden mussten. Mächtige nehmen sich, was sie wollen. Dafür bräuchten wir gar nicht den Vergleich mit den Kulturen aus der biblischen Zeit. Ihre Erforschung brachte nur noch deutlicher zum Vorschein, worüber wir all die Jahrhunderte auch selbst eine Decke des Schweigens hüllten.
Nun wird dieses für verheiratete Macht-Männer gar nicht mal so seltene Verhalten von den biblischen Texten kritisiert; das wäre für sie ja eigentlich sehr dumm gelaufen in den Gesellschaften, die sich zumindest nominell auf die Bibel als Norm berufen. Nicht aber, wenn sich verfälschen, kleinreden und ablenken ließe. Hier, liebe*r Leser*in – wenn Du Dich als LGBTI identifizierst – kommst Du ins Spiel: Durch den Fingerzeig auf Dich und die, die Dir all die Jahrhunderte vorangegangen sind, können und konnten sie von ihrem eigenen abscheulichen Verhalten ablenken. Sie können sich "straight-washen" und Dir die eigentlich ihnen zustehende Strafe anheften.
Queere Menschen werden in vielen Familien und Communitys mit Verweis auf die Bibel als "offensichtlich" Abtrünnige behandelt. Auch die gegenwärtigen Berichte über Gewalt sind Legion. Die gleichen Familien und Communitys zeichnen sich aber nicht selten dadurch aus, massivste Formen sexueller Gewalt durch Statusträger zu decken, schönzureden oder als ganz und gar unvorstellbar verschwinden lassen zu wollen. Man könnte denken, dies beträfe nur die religiöse Welt. Aber auch im säkularen Europa wurde etwa in Gesetzen des 20. Jahrhunderts sexuelle Gewalt in der Familie "Inzest" genannt, eine "Unkeuschheit"; nicht mehr. Dies sind dieselben Rechtstexte, die noch lang "Homosexualtät" unter Strafe stellten. Im Bestimmen über unser Denken, Reden und Handeln waren die Macht-Männer sehr erfolgreich. Du bist das eine ihrer Opfer. Die anderen Opfer sind die vielen Millionen Menschen, deren Leben durch ihre halb-heimlichen Praktiken zerstört wird.
Deren Rechte hat die Bibel im Blick. Sie richtet sich mit aller Schärfe gegen Formen sexueller Übergriffigkeit an Schwächeren; zumeist von Männern an Frauen. Die gleichgeschlechtlichen Passagen sind nur ein Teil davon.
"Gangbang" – Genesis 19
Volker Grunert ist Akademischer Rat mit Schwerpunkt Exegese/Bibeldidaktik am Ökumenischen Institut der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd
Sodom, Namensgeberin für den im heutigen Diskurs verfälschten Begriff "Sodomie", ist für die Erzählungen im Alten Israel die sprichwörtliche Kombination aus Dummheit und Bosheit. Zur Zeit der Bibel steht sie nicht mehr und es werden Geschichten erzählt, warum diese antiken Schildbürger nicht mehr unter uns weilen. So auch in der Erzählung, wie drei Gäste in die Stadt kommen und bei einem Ausländer zu Gast sind (Genesis 19).
Das Gastrecht ist in vielen Kulturen der Welt heilig. Die Männer von Sodom schlagen dieses Schutzrecht in den Wind; der Ausländer muss sie daran erinnern und wird nicht gehört. Sie, die versammelten Männer der Stadt, wollen die drei Gäste vergewaltigen. "Homosexuelle Neigung"? Fehlanzeige. Denn die Bibel erzählt dieselbe Geschichte noch ein zweites Mal (Richter 19). Nur sind es hier Israeliten aus der Stadt Gibea bei Jerusalem, die ihren Machtfetisch an einem Schutzlosen ausleben wollen. Als sie den Gast nicht bekommen, vergewaltigen sie dessen Frau. Sie stirbt. Sexuelle Gewalt durch Gruppen ist so wahllos wie tödlich. Mann oder Frau ist den Männergruppen egal. Es ist die Wehrlosigkeit des Opfers, die den sexuellen Kick bei Gruppenvergewaltigungen ausmacht; nicht sein Geschlecht. Genesis 19 ist keine "Homosexualität" – es ist sexuelle Gewalt auf der Straße.
"Daddy's little secret" – Levitikus 18
Noch größer als sexuelle Gewalt auf der Straße ist sexuelle Gewalt in der Familie. Denn fast alle Opfer sexueller Gewalt kennen die Täter, gegenüber denen sie eigentlich immer in einem niedrigeren Status stehen. Diese Dynamik beschreibt Levitikus 18. Das Kapitel richtet sich an einen hebr. isch. Ein isch ist kein Sklave, kein junger Mann, keine Frau, kein Tier und kein Kind. Im biblischen Recht ist er der verheiratete Macht-Mann und dieser Macht-Mann ist in diesem Kapitel verheiratet, hat Kinder, alte Eltern und Viehbesitz. Ihm wird durch dieses Kapitel verboten, die "Nacktheit" oder "Schutzlosigkeit" (hebr. erváh) aller, die in seinem Haus leben – auch seiner Tiere – "aufzudecken". Positiv ausgedrückt gibt dieses Kapitel also allen Hausangehörigen das Recht auf sexuelle Integrität.
Sexuelle Gewalt in den Familien ist, wie die Gewalt auf der Straße, auch tendenziell wahllos; sie richtet sich, was die heutigen offiziellen Zahlen und auch die Beispiele in diesem Kapitel betrifft, etwas mehr gegen Mädchen und Frauen als Jungen oder Männer. Neben Nichten, Schwestern und Schwiegertöchtern tauchen auch Männer auf: Der eigene alte Vater und in Vers 22 ein hebr. zakhar. Zakhar heißt nicht "Mann", es ist viel allgemeiner und heißt "männlich". Es bezeichnet sonst in der Bibel das Geschlecht von Zuchttieren. Dem verheirateten Mann ist also verboten, mit etwas Männlichem aus seinem Haushalt Sex zu haben – und zwar penetrativen Sex, bei dem er den aktiven Part spielt (ganz wörtlich: "du wirst den Männlichen nicht hinlegen die Hinlegungen einer Frau"); das zeigt auch der Vers danach, bei dem Macht-Mann verboten wird, einem Tier "seine Liegung zu geben" oder eine Frau dazu zu zwingen ("hinstellen"), von einem Tier penetriert zu werden ("dass es sie hinlege").
In diesem zakhar steckt aber noch mehr. Wenn es Menschen beschreibt, beschreibt es – anders als der Begriff isch – auch häufiger Sklaven und Kinder, also Jungen. Bezeichnenderweise wird im Vers davor (Vers 21) rituelle Gewalt gegen Kinder verboten. Der biblische Text nimmt also hier extra das allgemeinste Wort für Angehörige des männlichen Geschlechts; ganz unabhängig, ob sie einen hohen oder geringen Status haben. Alle sollen davor geschützt sein, penetriert zu werden. Die Penetration war zwar auch etwa in Gesetzestexten aus Mesopotamien den Macht-Männern verboten; aber nur an Angehörigen desselben Status. Sklaven etwa, Kriegsgefangene oder sozial Niedrigstehende waren für die verheirateten Macht-Männer freie Beute.
Gegen diese Sexualität, in der die verheirateten Macht-Männer (gr. arsenokoitai "Männlich-Lieger") ihre patriarchale Macht zum Ausleben eines Machtfetisch an den gr. malakoi ("sanft anzufassen" oder "weiblicher junger Mann/Prostituierter") nutzten und dafür vor Menschenhandel nicht zurückschrecken, wird im Neuen Testament polemisiert (1 Korinther 6 und bes. 1 Timotheus 1). Es ist bezeichnend, dass eines der beiden Begriffe heute noch im Griechischen ein recht schlimmes Schimpfwort ist. Drei Mal dürfen Sie raten, welcher von beiden.
Als der ägyptische Chaos-Gott Seth in einer Erzählung es schaffte, seinen Kontrahenten, den Königs-Gott Horus im Kampf zu penetrieren, spuckten die zusehenden Götter dem Opfer, nicht dem Täter ins Gesicht. Ähnlich, so die Forschung, scheint auch die Behandlung von trans Prostituierten in Babylon gewesen zu sein.
Levitikus 18.22 als Poster in einem Berliner Imbiss
Levitikus 18 ist der Schutz der Hausbewohner*innen und Verwandten vor dem sexualisierten Fetisch der straight daddies, ihre Macht auch phallisch auszudrücken. An keiner Stelle wird Gott in der Bibel so deutlich in seiner Strafandrohung wie hier. Zu Recht, sagen die Betroffenen, die sich meist nicht wehren konnten oder deren Brechen des Schweigens darüber als Verrat an der Familie geahndet wird. In der Begleitung von Opfern innerfamiliärer sexueller Gewalt ist dieser Text ein Juwel. Doch für die Opfer des "straightwashings", des Ablenkens von eigenen Vergehen mit dem Fingerzeig auf LGBTI, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Gibt es nicht noch vielmehr homophobe Texte in der Bibel, die es viel eindeutiger Verurteilen?
"Eskapaden" (Levitikus 20), "Swinger Parties" (Röm 1) und "Sugar Daddies" (1 Kor 6)
Inzwischen denken immer weniger da an Levitikus 20, wo alle Formen nebenehelicher Sexualität, die in anderen Kulturen für die verheirateten Macht-Männer erlaubt war – etwa in Ägypten war auch Sex mit ebenfalls verheirateten Angehörigen desselben Status okay, so lange man nicht den passiven Part übernimmt (gelebte Sexualität ist auch in der Antike nicht frei von Widersprüchen). Hier bekommen die Ehemänner genau dieselben sexuellen Rechte wie ihre Ehefrauen – und sollen ihnen ohne die sonst lässlichen "Eskapaden" treu bleiben. Rechtlich gesehen werden so aus den antiken Patriarchen Frauen. Dies ist ganz auf der Höhe der Zeit, in der diese Texte entstanden sind, in der etwa ägyptische Frauen mehr Rechte für sich (etwa einen Ehevertrag mit monetärer Lebens- und Scheidungsversicherung) einfordern oder im in homoerotischen Träumen mit Niedrigstehenden schwelgenden machtmännerdominierten griechischen Literaturbetrieb sich selbst als begehrenswertes und selbst Lust empfindendes sexuelles Subjekt darstellen. Bei dieser Bewegung geht die Bibel mit (Exodus 22,15f. und Hohelied).
Der wahre "Endgegner", der sich beim ersten Lesen als allgemeine Verurteilung von Schwulen und Lesben liest, ist im Neuen Testament Römer 1. LGBTI mit jüdischem Hintergrund haben es da etwas leichter; inzwischen gibt es offen schwule jüdisch-orthodoxe Rabbiner und jüdische Lesben weisen immer wieder darauf hin, dass ihr Leben und ihre Sexualität durch die Schriften der Hebräischen Bibel nicht verurteilt werden. Die Bewertung moderner Homosexualität gilt selbst in ultraorthodoxen Kreisen etwa seit den 20er Jahren mit den Schriften von Chazon Isch als "offene Frage" und nicht mehr als "Abscheulichkeit".
Christliche LGBTI haben es wegen Römer 1 schwerer. Anders als bei den anderen Stellen ist hier der ausbeuterische Aspekt der nebenehelichen Sexualität der verheirateten Macht-Männer schwer zu sehen. Aber ähnlich wie in den anderen beiden neutestamentlichen Stellen wird hier der gleichgeschlechtliche Kontakt mit dem Statuenkult und Ungerechtigkeit in einem Atemzug genannt. In Römer 6,19 malt Paulus die in der römischen Elite nicht seltene sexuelle Ausbeutung von Sklaven und Kriegsgefangenen in all ihrer Grausamkeit vor Augen: Die römischen Christusnachfolger*innen mussten ihre Körperglieder in den "Sklavendienst der Unreinheit und der Rechtlosigkeit hingeben". Ob er die Praktiken aus eigener Anschauung kannte, ist eher unwahrscheinlich. Doch der römischen Schickeria – wir reden hier ja von der Zeit des zwar verheirateten aber sexuell überaus schillernden Neros – ging ein gewisser Ruf voraus, der spätantike Autoren in der Regel anwiderte und bis heute etwa "Asterix bei den Schweizern" überliefert wird: Wir sprechen bei diesem sexualisierten Kult im Rom des 1. Jahrhunderts von Orgien, zu Deutsch "heiligen Handlungen", bei denen durch sexuelle Ekstase die Kult-Teilnehmer*innen spirituelle Erlebnisse haben sollen.
Paulus macht dies sehr deutlich, in dem er die Darstellung der gleichgeschlechtlichen Handlungen in Römer 1 mit der Anbetung von Mensch- und Tier-Statuen verknüpft. Tiergottheiten sind zu dieser Zeit besonders mit Ägypten verbunden, dessen magisches Geheimwissen große Faszination auslöste und ähnlich wie fernöstliche Riten heute mit viel Phantasie und einiger Hinzudichtung nach Rom exportiert und dort in Geheimkulte integriert wurden. Rom war religiös auf der Suche und probierte ziemlich viel aus. In Römer 1 beschreibt Paulus "fromme Bunga-Bunga-Parties" von Teilen der römischen Elite, die in den Gerüchten der offiziell eher prüden Bevölkerung mit einer Mischung aus Faszination und Angewidertsein ausgeschmückt wurden; wobei auch die restliche Stadt-Elite Roms bei der Frage der Ausbeutung Jüngerer, Kriegsgefangener und Sklav*innen unter der Hand durchaus kein unbeschriebenes Blatt war.
Paulus schreibt diesen Text auf Basis seiner jüdischen Prägung, die ihn empfindlich gegen Formen sexueller Übergriffigkeit und nebenehelicher Abenteuersuche mächtiger Menschen macht. Vielleicht wusste er auch, zumindest ist die Vermutung aufgrund von Römer 6,19f. möglich, von Menschen, die als Sklav*innen oder Kriegsgefangene sexuelle Ausbeutung über sich ergehen lassen mussten. Auf jeden Fall beschreibt er auch in Römer 1 gleichgeschlechtliche Kontakte Angehörigen der Elite, von denen mit großer Sicherheit kaum einer zur Standeswahrung unverheiratet war. Röm 1 beschreibt also einen nebenehelichen Sexualkontakt von vorgeblich heterosexuellen Menschen. Ein paar Kapitel weiter gibt er denen eine Stimme, die unter den Begierden dieser heterosexuellen Menschen leiden müssen.
Was bedeuten diese Texte für LGBTI?
Okay, mag der eine oder die andere sagen; aber warum spricht die Bibel so viel über zum Teil gleichgeschlechtliche sexuelle Gewalt und so wenig über Formen gleichgeschlechtlicher Zuneigung? Das liegt an den Zahlen. Auch heute ist die Gruppe der Täter und Involvierten in die von der Bibel beschriebenen Formen sexueller Gewalt und nebenehelicher Ausbeutung anderer um ein Vielfaches größer als alle Angehörigen der LGBTI-Community zusammen.
Queere Menschen mussten und müssen in dieser Gemengelage als Feigenblatt herhalten, mit dem mächtige verheiratete Männer das Blut bedecken, das – um im Bild zu bleiben – an einer ganz zentralen Körper-Stelle klebt.
Wehrt Euch! Lest Ihr ihnen die Leviten!