Es wirkt wie ein journalistischer Wettlauf, der zwischen dem ZDF und dem WDR vor 50 Jahren stattfand. Am 14. Januar 1972 strahlte das ZDF seine Dokumentation "Und wenn Ihr Sohn so wäre?" aus. Der WDR zog nach und sendete am 27. Januar seine Dokumentation "§ 175". Von den jeweiligen Rundfunkanstalten habe ich mir Kopien dieser beiden Sendungen besorgt, die ich nachfolgend miteinander vergleichen werde.
Das Beste kam zum Schluss: Am Ende desselben Monats – am 31. Januar 1972 – zeigte der WDR den von ihm in Auftrag gegebenen Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Der Film war umstritten und seine Erstausstrahlung im Fernsehen wurde ein Skandal, aber er wurde in Verbindung mit der Reform des § 175 StGB zum Auslöser der modernen deutschen Schwulenbewegung. Zur Erstausstrahlung am 31. Januar werde ich noch einen eigenen Beitrag hier auf queer.de schreiben.
"Und wenn Ihr Sohn so wäre?" (14. Januar 1972 im ZDF)
Die Dokumentation "Und wenn Ihr Sohn so wäre? Der Homosexuelle und die Gesellschaft" wurde um 21.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Es ist ein Film von Eva Müthel, die von 1960 bis 1979 auch für das Drehbuch und die Regie zu mehreren anderen Fernsehfilmen und Dokumentationen verantwortlich war.
Eva Müthel im Gespräch mit einem Passanten (Ausschnitt)
Diese Doku über schwule Männer passt gut zu ihren anderen Filmen über andere soziale Gruppen (ältere Menschen, "Zigeuner", "Geisteskranke" und Ausländer*innen). Ihre spätere Dokumentation "Zärtlichkeit und Rebellion. Zur Situation der homosexuellen Frau" (1973) scheint ein lesbisches Pendant zu dieser schwulen Doku von 1972 gewesen zu sein.
Der Inhalt von "Und wenn Ihr Sohn so wäre?"
Die Dokumentation lebt von den Interviews mit Schwulen, die sich zu Themen wie "Ursachen" von Homosexualität, Situation am Arbeitsplatz und gesellschaftliche Akzeptanz äußern. Weitere Interviews mit Passant*innen sind in den Äußerungen zur Akzeptanz nicht nur sehr breit, sondern zum Teil auch unfreiwillig komisch, wenn etwa betont wird, dass man sich die Homosexualität wie das Rauchen auch einfach mal abgewöhnen könne, oder wenn eine Frau äußert, dass sie ihren schwulen Sohn mit einer Frau verkuppeln würde. Auch die schwule Szene mit Sauna, Bar und Stricherkneipe wird gezeigt. Die Redaktion der Schwulenzeitschrift "Him" wird bei politischen Diskussionen und bei einem Akt-Foto-Shooting gezeigt.
Nackt posieren für die Schwulenzeitschrift "Him"
Im Interview berichtet der SPD-Bundestagsabgeordnete Wilderich Freiherr Ostman von der Leye aus dem Sonderausschuss zur Strafrechtsreform von den aktuellen Plänen, dass "Schutzalter" auf 18 Jahre zu senken und die männliche Prostitution zu legalisieren (wurde 1973 umgesetzt). Dabei bedauert er, keine strafrechtliche Gleichstellung für Homo- und Heterosexuelle erreicht zu haben (wurde 1994 erreicht). Das Schlusswort hat die Mutter eines Schwulen ("Da kann man ja nichts dafür"), die zusammen mit ihrem Sohn und dessen Partner beim bürgerlichen Kaffeekränzchen gezeigt wird.
Die Bewertung von "Und wenn Ihr Sohn so wäre?"
Es ist eine gut gemeinte Dokumentation, die sich bemüht, Schwule als "eigentlich ganz normal" darzustellen, und sogar versucht, einen lockeren Tonfall zu treffen. Es ist erstaunlich, dass auch Stricher porträtiert werden, was zu dieser Zeit nicht selbstverständlich war und eher provozierte. Moralisierende Töne fehlen weitgehend. In einem Interview wird sogar die erste studierendenbewegte Schwulen- und Lesbengruppe neuen Typs erwähnt. Es ist gut, dass Eva Müthel auch den mehrfachen sexuellen Missbrauch an einem Heimzögling dokumentiert, was für die Zeit noch unüblich war (dies als "Verführung" zu bezeichnen ist typisch für den Zeitgeist und verzeihlich).
Eingeblendete Statistiken deuten einen Umschwung in der öffentlichen Meinung an
Die eingeblendeten Statistiken, dass zum Beispiel 55 Prozent der Bevölkerung sexuelle Beziehungen zwischen Männern immer noch ablehnten, stammt aus einer vom Wickert-Institut erstellten Umfrage. Darauf weist der "Spiegel"-TV-Tipp hin – ebenso wie auf den Umstand, dass die Sendung in "Farbe" ausgestrahlt wurde. Das war noch nicht die Regel, wie man an der zweiten Doku sieht, die fast durchgehend in Schwarz-Weiß gedreht wurde.
"§ 175" (27. Januar 1972 im WDR)
Die Dokumentation "§ 175. Fragen an Homosexuelle und an uns selbst" wurde um 21.45 Uhr im WDR ausgestrahlt. Es ist ein Film von Claus-Ferdinand Siegfried, der von 1965 bis 1974 auch einige andere Filme und Dokumentationen drehte. Für Siegfried war der Auftrag des WDR, diesen Film zu drehen, der Beginn einer journalistischen Beschäftigung mit dem Thema, die auch zu seinem Buch "Gesellschaft und Homosexualität. Beginn einer Auseinandersetzung" (1972) führte, wo er die gleichen Standpunkte vertritt und auch auf seinen Film eingeht (S. 2-3, Bilder aus dem Film auf S. 63, 65). Seine spätere Film-Dokumentation "Und wir nehmen uns unser Recht! Lesbierinnen in Deutschland" (1974) scheint ein lesbisches Pendant zu der schwulen Doku von 1972 gewesen zu sein.
Der Film mit einer Nummer, die ein Symbol der Verfolgung homosexueller Männer war
Der Inhalt von "§ 175"
Am Anfang provoziert der Film: Heteros mit dumpfen Stammtischparolen und kreischende Schwule in einer Fußgängerzone. Danach spricht ein bürgerliches schwules Paar von seinen Versuchen, sich treu zu sein. Den Satz der Stimme aus dem Off "Die Umwelt findet sie sympathisch, weil sie die Ehe imitieren" habe ich bei Praunheim, allerdings nicht hier erwartet. Als üblich kann man die Einbindung von Psychiatern und Psychologen sehen, als eher unüblich die Äußerung des Psychoanalytikers Tobias Brocher vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main, der fast jeden Menschen als bisexuell und die Vorstellung einer "Verführung" zur Homosexualität als "Unfug" bezeichnet. Bei mehreren Filmszenen hatte ich das Gefühl, dass sich der Film vor allem an Schwule richtet, wie beim Interview mit dem Schriftsteller Gerard Reve im Zusammenhang mit seinem schwulen Bekenntnisroman "Näher zu Dir" oder bei den Filmszenen vom ersten CSD 1970 in den USA.
Der offen schwule Gerard Reve und sein schwuler Bekenntnisroman "Näher zu Dir"
Die Bewertung von "§ 175"
Der Film enthält viele neue Akzente, die sich nah an der progressiven Spitze des damals aktuellen Diskussionsstandes befanden. So werden Bezüge zu Geschlechterrollen, zur Frauenemanzipation und zur Sexualerziehung hergestellt, es wird die NS-Verfolgung thematisiert, Klappengänger und selbstbewusste Tunten werden interviewt. Journalistisch subversiv ist eine Stelle, an der sich ein Mann kritisch darüber auslässt, dass sich Schwule (angeblich) gerne mit Schmuck behängen. Dabei richtet sich die Filmkamera auf seine rechte Hand, an der neben dem Ehering noch ein zweiter, steinbesetzter Ring funkelt. Die Szene zeigt, wie leicht sich manchmal Doppelmoral entlarven lässt.
Befürwortung schwuler Emanzipation mit journalistisch subversiven Mitteln
Auch in dieser Doku kommen homophobe Passanten zu Wort, wie einer, der sich wieder Konzentrationslager für Schwule wünscht. Aber diese Äußerungen diskreditieren nicht den Film, sondern nur den Passanten und können von niemandem mit Verstand als legitime Meinungsäußerungen oder als Versuch der politischen "Ausgeglichenheit" angesehen werden. Aussagekräftiger für den Film ist eher die Frage des Reporters an einen homophoben Geistlichen: Können Sie sich vorstellen, welche "Qualen ein Mann erleiden muss", wenn er sexuell nicht verkehren darf? Das ist keine Frage. Das ist ein Statement.
Ein Vergleich zwischen der ZDF- und der WDR-Doku
Beide sind klassische Dokumentationen und haben als Zielgruppe vor allem Heteros, wobei sich die WDR-Doku deutlicher auch an Schwule richtet. Dies wird durch die eingeblendeten politischen Botschaften deutlich, in denen "Auswege" aus der Situation aufgezeigt werden, die fast zeitlos wirken: "Sich zur Homosexualität bekennen" und "Die Gesellschaft verändern".
In beiden Dokumentationen wird in Siebzigerjahre-Manier nach der "Ursache" von Homosexualität, aber auch schon – modern anmutend – nach der Ursache von Homophobie gefragt. Neben Passanten und Schwulen kommen auch Wissenschaftler und Geistliche zu Wort. Dass in beiden Filmen auch Küsse und Nacktheit gezeigt werden, erscheint für 1972 zunächst frei und außergewöhnlich. Schließlich hat man in Erinnerung, dass die schwulen Küsse in der ARD-Serie "Lindenstraße" von 1987 und vor allem 1990 auf heftigen Protest stießen. Allerdings ist eine Dokumentation spätabends etwas anderes als eine Familien-Fernsehserie am frühen Abend, wo vor allem die Einschaltquote und die Uhrzeit ausschlaggebend für die Aufregung waren. In beiden Filmen wird lesbische Liebe nur gestreift, wobei eine ausführliche Behandlung auch nicht der Anspruch der beiden Filme war.
Bei genauerer Betrachtung schneidet die WDR-Doku etwas besser als die ZDF-Doku ab. Die ZDF-Doku wirkt in ihren inhaltlichen Aussagen etwas biederer. Nur in der WDR-Doku findet sich auch trockener Humor. So wird eine Szene in einer Schwulenbar mit der Musik aus "Spiel mir das Lied vom Tod" hinterlegt, während die Kamera Cowboystiefel und Gürtel als Männlichkeits-Attribute fokussiert. In der WDR-Doku ist das Blickfeld breiter gestreut: Man sieht Westberlin als Schwulenmetropole, die süddeutsche Provinz als Ort reaktionärer Stammtisch-Homophobie und einen Kölner Büttenredner – lange bevor Köln eine Schwulenhochburg wurde.
"Spiel mir das Lied vom Tod" vor dem Hintergrund schwuler Männlichkeits-Inszenierung
Der Wettlauf von ZDF und WDR
Aus einem unbekannten Grund wurde der ZDF-Beitrag vom 10. Dezember 1971 auf den 14. Januar 1972 verschoben. Dass dann im selben Monat drei Filme über Homosexualität im bundesdeutschen Fernsehen liefen, halte ich – bei der Anzahl von schwulen Dokumentationen jener Zeit – nicht für einen Zufall, denn schließlich "inspirierten" sich die Sender gegenseitig und wollten bei neuen Themen immer die Ersten sein. Vermutlich sollte der ZDF-Film einen Gegenpol zum WDR-Film und der "§ 175"-Film einen Gegenpol zum Praunheim-Film darstellen, was auch der Ausstellungskatalog "Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung" (1997, S. 280) andeutet: "Das ZDF sendete die einfühlsame Dokumentation 'Und wenn Ihr Sohn so wäre' von Eva Müthel. Der WDR setzte das Fernsehfeature '§ 175' […] ins Programm, das als nächtliches und 'sachliches' Gegenstück zu Rosas Schwulenagitation produziert wurde."
Erinnert sei an einen ähnlichen Wettlauf von Sendeanstalten im September 1999, als die schwulen Fernsehmagazine "andersrum" (WDR, 1999), "anders Trend" (RTL, 1999-2007) und "GayWatch" (Vox) zur gleichen Zeit um Aufmerksamkeit von Zuschauern buhlten. Nur durch eine kurzfristige Programmänderung erreichte es der WDR, dass seine erste Folge von "andersrum" einige Stunden vor der ersten Folge von "anders Trend" (RTL) und damit als erstes Magazin ausgestrahlt wurde (s. "taz", 15. September 1999).
Homosexualität im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens
Das WDR-Logo aus dem Abspann von "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" (1971) – changierend zwischen Flieder, Rosa und Pink
Am 31. Januar werde ich hier noch Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" besprechen. Auch dieser Film wurde – wie die beiden hier behandelten Beiträge – von einem öffentlich-rechtlichen Sender in Auftrag gegeben. Praunheims Film sollte eigentlich in der ARD laufen, wurde aber aufgrund von Einwänden des Bayerischen Rundfunks (BR) am 31. Januar 1972 "nur" im WDR gezeigt.
Das ablehnende Verhalten des BR, die offene, wenn auch etwas biedere ZDF-Doku und die aufgeschlossene und recht mutige WDR-Doku können als repräsentativ für die damalige Medienlandschaft angesehen werden. Das ZDF hatte damals ein eher konservatives Profil, während bestimmte ARD-Sender wie der WDR oder der NDR in CDU-Kreisen als "Rotfunk" verrufen waren. Der Gegenpol innerhalb der ARD war der BR, der damals von der politischen Richtung her mit der CSU gleichgesetzt werden konnte. Es lässt sich jedoch konstatieren, dass diese unterschiedlichen politischen Positionierungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – in beide Richtungen – heute kaum noch zu spüren sind.
Was bleibt
Beide Dokumentationen sind seltene und spannende Zeitdokumente, die das schwierige schwule Leben vor einem halben Jahrhundert vermitteln. Sie zeigen den Beginn der Schwulenbewegung, die sich im Fahrwasser der Studierendenbewegung entwickeln konnte.
Wer diese Dokumentationen heute sieht, fragt sich bestimmt schnell, wo denn eigentlich die Lesben (und sonstigen queeren Menschen) bleiben. Es ist recht typisch für die Siebziger- bis in die Neunzigerjahre, dass männliche Homosexualität als "interessanter" und gesellschaftlich relevanter angesehen wurde. In den schwulen Folgen der Talkshows "Alles klar?!" (1981) und "Doppelpunkt" (1988) wurde darauf verwiesen, dass an männlicher Homosexualität mehr Interesse bestehe und später lesbische Beiträge folgen sollten (s. queer.de). Im Gegensatz zu diesen beiden Formaten haben die Verantwortlichen der beiden Dokus von 1972, Eva Müthel und Claus-Ferdinand Siegfried, später tatsächlich auch eigene Dokus über Lesben gedreht. Zu einem späteren Zeitpunkt möchte ich diese hier ebenfalls besprechen.
Es fällt auf, dass die beiden Filme von 1972 einen aufgeschlossenen Standpunkt vertreten, der die mehrheitlich ablehnende Gesellschaft (in angenehmer Weise) nicht repräsentiert. Liegt dies daran, dass Journalist*innen per se politisch weiter links als der Durchschnitt der Bevölkerung stehen? Neue Untersuchungen, die in diese Richtung gehen, geben nicht unbedingt die Situation von 1972 wieder und können nicht ausschließen, dass hier eher das Alter und weniger der Beruf ein ausschlaggebender Faktor war. Am schlüssigsten finde ich die Erklärung, dass sich an Diskussionen, durch die neue Themen angestoßen werden, eher Menschen beteiligen, die etwas verändern möchten, als die, die den Status quo beibehalten wollen.
Ein schwules Paar aus der "§ 175"-Doku bleibt sich selber treu und tritt offen schwul auf. Innerhalb ihrer Beziehung versuchen beide, sich sexuell treu zu sein
In der "§ 175"-Dokumentation bezeichnet es ein Mann als gefährlich, wenn man im Fernsehen über Homosexuelle spricht, weil man sie damit aufwerte. Dieses Zitat bleibt hängen und wurde auch schon von anderen Dokumentationen übernommen. Diese Äußerung lässt sich – auch hinsichtlich der heutigen Situation von Homosexuellen in anderen Ländern – politisch gut umdrehen: Homosexuelle werden abgewertet, wenn man nicht über sie spricht.
Hinweis in eigener Sache und ein "Danke"
Beide hier behandelten Dokumentationen sind weder als DVD noch anderweitig verfügbar. Es war daher notwendig, Kopien kostenpflichtig bei den Sendeanstalten zu bestellen. Für die angefallenen Kosten habe ich mich – wie auch schon für den Beitrag über eine WDR-Sendung von 1981 (s. queer.de) – von einem Freund sponsern lassen, der anonym bleiben möchte. Er hat damit diesen Artikel erst ermöglicht. Zum einen möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bei ihm bedanken. Zum anderen möchte ich dies zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, dass guter Journalismus nicht selbstverständlich ist. Alleine die Materialkosten für diesen Beitrag waren in diesem Fall höher als mein Honorar. Dieser Umstand wird häufig vergessen, wenn auch Qualitätsjournalismus kostenlos im Netz verfügbar ist.
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In den 70een gab es wirklich tolle Sendungen zwischen dem ganzen Spießermuff.