Franz Grillparzer war ein Schriftsteller, der vor allem als Dramatiker hervorgetreten ist und heute als österreichischer Nationaldichter geschätzt wird.
Zu Grillparzers Liebesleben steht in der Wikipedia nur ein Satz: Er sei nie verheiratet gewesen, weil ihm zur Heirat mit seiner Geliebten "der Mut fehlte". Zu diesem Thema lässt sich wesentlich mehr schreiben, denn nicht nur seine Werke, sondern auch seine Tagebücher, Briefe und seine Autobiografie verraten einiges über sein Privatleben. Nachfolgend werde ich mehrfach auf das Buch "Franz Grillparzer und sein Liebesleben" (1904) von Hans Rau eingehen, der sich viel Mühe gab, die (vermeintlichen) Hinweise auf Homosexualität in Grillparzers Leben und Werk zusammenzutragen. Dabei werde ich jedoch nur auf die Werke Grillparzers und später auf die Tagebuchaufzeichnungen eingehen, in denen die Bezüge zur Homosexualität am deutlichsten erkennbar sind.
"Spartakus" (1810)
In seinem Dramenfragment "Spartakus" vom Juli 1810 behandelt Grillparzer die Liebe des römischen Sklaven und Gladiators Publipor zum Gladiator Spartakus, die jedoch einseitig bleibt: "Denn ach, der Stachel, der am tiefsten gründet, ist Liebe, die nicht Gegenliebe findet" ("Sämmtliche Werke", 1810, hier 4. Ausgabe von 1887, 10. Bd., S. 141-174, hier S. 148). Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 152-154) zitiert ausführlich aus diesem Drama, wonach Spartakus – trotz psychischer und physischer Nähe zu Publipor ("den Mund gepreßt an meine Lippen") – nur an der schönen Kornelia interessiert ist. Rau vermutet, dass dieses Dramenfragment auf Grillparzers Liebe zu einem hübschen jungen Kavallerie-Offizier basiert. Viele Jahrzehnte später verwies Manfred Herzer in der schwulen Geschichtszeitschrift "Capri" ("Die Kontroverse um Grillparzers Homosexualität im Jahre 1904: Hans Rau, Numa Praetorius, Felix Poppenberg", in: "Capri", Heft 25, 1998, S. 23-24) auf den "wirklich wunderschönen Klagemonolog verschmähter Männerliebe" im "Spartakus" und zitierte daraus.
"Cherubin" (1812)
Grillparzer verliebte sich in die junge Sängerin Henriette Theimer, nachdem er sie in Mozarts Oper "Figaros Hochzeit" in einer Hosenrolle gesehen hatte. Sie verkörperte hier Cherubino, den Pagen des Grafen. Wie Grillparzer diese Frau als Mann und damit das Männliche bzw. Androgyne begehrte, wird durch sein am 8. Februar 1812 niedergeschriebenes, aber erst später veröffentlichtes Gedicht "Cherubin" deutlich, wo er u.a. schrieb: "So scheinst Du mir der reizendste der Knaben" ("Sämmtliche Werke", 1887, 2. Bd., S. 55-56).
In seiner Autobiografie betont Grillparzer, dass er sich Henriette Theimer nie genähert habe und dass das Gedicht für ihn das "Unsittliche" streife ("Sämmtliche Werke", 1874, 10. Bd, S. 1-246, hier S. 35-36). Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben" (1904, S. 74-77) bezeichnet es als Grillparzers erotischstes Gedicht.
"Sappho" (1819)
Sappho – die antike griechische Dichterin aus Lesbos – kann als eine Art Urmutter aller Lesben bezeichnet werden. Die Bezeichnung "sapphische", d.h. lesbische, Liebe basiert auf ihrem Namen und auch schon vor 200 Jahren wurde Sappho mit Homosexualität assoziiert. Grillparzers "Sappho"-Drama (1819, hier in einer Ausgabe von 1993) ist im Kontext mit anderen Texten über Sappho zu betrachten – vor allem mit der einige Jahre zuvor erschienenen Abhandlung "Sappho von einem herrschenden Vorurtheil befreyt" (1816) des Altphilologen Friedrich Gottlieb Welcker, der sie damit unbedingt von dem "Vorurteil", sie habe Frauen begehrt, "befreien" wollte (s.a. meinen Welcker-Artikel hier auf queer.de). Ich finde Hans Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 211-213) nicht sehr überzeugend, wenn er auf die historische Figur der Sappho nicht eingeht, aber auf das "feminine Empfinden" Grillparzers verweist, das dieses Drama angeblich erst ermöglicht habe.
In seiner Habilitationsschrift "Die Schande der heiligen Päderastie" (1990, S. 53) geht der Germanist Paul Derks in Bezug auf Grillparzer nur auf dessen "Sappho"-Drama ein, verortet es im Kontext der Sappho-Rezeption und zitiert Ludwig Börne, der in seiner Grillparzer-Rezension (hier online) – vermutlich – lobend bemerkte: "Ich kenne die lesbische Sappho gar nicht […]." – womit Börne jedoch nur Sapphos Herkunft aus Lesbos meint.
Wesentlich ausführlicher betrachtet Angela Steidele in ihrer Dissertation: "'Als wenn Du mein Geliebter wärest'. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" (2003, S. 99-153, hier S. 135-146) das Sappho-Drama. Auf überzeugende Weise verortet sie Grillparzers "Sappho"-Drama im Vergleich zu "Sappho"-Dramen anderer Autoren. Sappho äußert den Wunsch, nicht nur gemeinsam mit ihrem Geliebten Phaon, sondern auch mit ihrer Gefährtin Melitta als "traute Schwestern" zu leben. Diese Konstellation als "Menage à trois" zu bezeichnen halte ich, wie andere Hinweise, für überinterpretiert. Interesse verdienen Steideles Hinweise auf Grillparzers Verwendung klassischer Symbole wie die Schlange (Verführung), die Rose mit Dornen (Liebe und Schmerz) und den Dolch (Phallus).
"Des Meeres und der Liebe Wellen" (1831)
Der Ursprung dieses Werkes liegt in der griechischen Mythologie: die Liebe zwischen Leander und der Priesterin Hero. In seiner Tragödie "Des Meeres und der Liebe Wellen" gibt Grillparzer auch der Freundschaft zwischen Leander und Naukleros einen breiten Raum (1831, hier Ausgabe von 1994 online). Diese Freundschaft zweier Männer, wobei einer von beiden eine Frau liebt, erinnert in der Konstellation an sein Werk "Spartakus".
Für Hans Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 221-224) ist "das Stück […] ein Freundschaftsdrama erhabendster Art". Eugen Wilhelm (unter seinem Pseudonym "Numa Praetorius" im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", 6. Jg., 1904, S. 507-512, hier S. 510) gibt ihm Recht und betont, dass dies sogar das einzige deutliche "homosexuelle Verhältnis" in Grillparzers Dramen sei. Das Stück sei – so Wilhelm – ein herrliches Liebesdrama, in dem Grillparzer eine Freundschaft gefeiert habe.
Jahrzehnte später wurde Wilhelm in dem schon oben erwähnten Aufsatz von Manfred Herzer in der schwulen Geschichtszeitschrift "Capri" widersprochen. Herzer kann in dem Stück kein homosexuelles Verhältnis sehen und bezeichnet Wilhelms gegenteilige Einschätzung als "fragwürdig". Das Stück handele zwar von einer erotischen Ausstrahlung eines Mannes, beinhalte aber keine Liebeserklärung an den Freund. Eugen Wilhelm "irrt sich hier offenbar". Es ist wohl eine Frage der subjektiven Einschätzung, was für eine Art von Liebe hier von Grillparzer beschrieben wird.
"Herkules und Hylas" (1835)
Herkules und Hylas
Auch das Gedicht "Herkules und Hylas" ("Sämtliche Werke", 1960-1965, 1. Bd., S. 120-121) fußt auf der griechischen Mythologie: Es behandelt die Freundschaft von Herkules (besser bekannt als Herakles) zu dem jüngeren Hylas, wobei Grillparzer deutlich von Herkules' "Geliebtem" spricht. Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 200-203) bezeichnet das Gedicht als "Verherrlichung der Freundesliebe", in welcher Grillparzer "völlig den altgriechischen Standpunkt" teile und die Liebe zum gleichen Geschlecht als "würdig" erachte, "im Liede gefeiert zu werden".
Grillparzers Freundschaft mit Georg Altmüller (Tagebucheintrag 1810)
Mit Georg Altmüller verband Grillparzer eine enge Jugendfreundschaft, wie u.a. durch seinen Tagebucheintrag vom 16. Juni 1810 deutlich wird: "Ich kannte einst keinen erhebendern Gedanken, als den an A[ltmüller]s Hand Wien, und Oestreich zu verlaßen, und in andern Ländern ein Glük zu suchen […]." "Er in dessen Arm ich in jenen heiligen Stunden gelegen hatte, […] wo ich ihn zum ersten Male Du nannte, und mit diesem Worte auf ewig meine Freundschaft besiegelte" ("Grillparzers Werke", 1914, 7. Bd., S. 45-47). Diese Freundschaft wird von Hans Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 141-152) als "Liebesbund" bezeichnet. Rau verweist auf mehrere weitere homoerotische Freundschaften wie denjenigen zu Karl von Holtei und Otto Prechtler. Es würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen, auch auf diese einzugehen.
Der Kastrat Velluti (Tagebucheintrag 1810)
Der Kastrat Giovanni Battista Velluti (ca. 1800)
Im Gegensatz zu maskulinen Frauen hegte Grillparzer offenbar eine tiefe Abneigung gegenüber femininen Männern. Deutlich wird dies an seinem Tagebucheintrag vom 29. November 1810 über einen Theaterbesuch, bei dem er den bekannten Kastraten Giovanni Battista Velluti singen hörte.
Eigentlich wollte sich Grillparzer diesen Kastraten erst gar nicht anhören, "weil ich alles wiedernatürliche scheue, und diese Art insbesondere verabscheue". Von Freunden gedrängt, ging er jedoch trotzdem hin, aber schon beim ersten Ton des Kastraten überfiel ihn ein so "unangenehmes Gefühl", dass er "halb tod" das Theater verlassen musste. "Ich erinnere mich mein ganzes Leben hindurch kein so wiederliches Gefühl gehabt zu haben" ("Grillparzers Werke", 1914, 7. Bd., S. 59-60).
Man kann hier eine gewisse Parallele zu einem Tagebucheintrag von 1827 erkennen, in dem er über (den homosexuellen und femininen) Historiker Johannes von Müller, der ein "Mädchengesicht" habe, schrieb: "Gehen konnte er nicht, nur hüpfen" ("Grillparzers Werke", 1916, 8. Bd., S. 321).
Ein Gedicht über einen Kuss (Tagebuch 1836)
In seinem Tagebuch notierte Grillparzer am 19. April 1836 nach einer kurzen Einleitung ein Gedicht, das die Zeile "Des Teuern Kuß auf Deinem heißen Munde" beinhaltet. Es bleibt unklar, an welche Person und an welches Geschlecht sich das Gedicht richtet. Es ist daher recht verwunderlich, dass Grillparzer mit diesem Gedicht in die erste schwule Anthologie der Weltgeschichte ("Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur", 1899, satzgleicher Nachdruck 1995, S. 136) aufgenommen wurde. Auch Hans Rau ("Franz Grillparzer und sein Liebesleben", 1904, S. 43-44) zitiert ausführlich aus diesem Gedicht und weist auf die oben genannte Zeile besonders hin.
Die frühe Homo-Bewegung: Er war "einer von uns"
Neben der Biografie von Hans Rau und der Anthologie "Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur" lassen sich noch einige weitere Beispiele dafür anführen, wie früh eine schwule Rezeption Grillparzers und seiner Werke einsetzte. Schon bevor es eine Homosexuellenbewegung im engeren Sinne gab, veröffentlichte Otto de Joux (d. i.: Otto Rudolf Podjukl) sein Buch "Die Enterbten des Liebesglücks" (1893, S. 46, 131-135, 154) im Spohr-Verlag. (Dieser Verlag wurde einige Jahre später mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees [WhK] zum Haus- und Hofverlag der Homosexuellenbewegung). In seinem Buch beschreibt Podjukl, wie Grillparzer mit seiner Homosexualität "rang" und wie sehr ihm diese "das ganze Dasein vergiftete". Ludwig Frey ("Der Eros und die Kunst. Ethische Studien", 1896, S. 279) betonte drei Jahre später, dass Grillparzer bis vor kurzem "in seiner Denk- und Gefühlsweise völlig unerkannt" gewesen sei, was sich im Kontext des Buches deutlich auf Homosexualität bezieht.
Im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" des WhK gibt es Texte, die in unterschiedlicher Form versuchen, Grillparzer als "einen von uns" darzustellen. Die emanzipatorische Absicht dahinter ist klar: Man war sich bewusst, dass sich prominente Dichter als Teil einer imaginierten "schwulen Ahnengalerie" positiv auf das Selbstwertgefühl der Homosexuellen auswirken können. Im Jahrbuch liest man daher, dass sich Grillparzer über sein Fühlen "gründlich ausgeschwiegen" habe (1. Jg., 1899, S. 213) und dass er einer von "unsern" Dichtern sei (2. Jg., 1900, S. 296). Auch bei Aufzählungen "historischer Urninge" wird er erwähnt (2. Jg., 1900, S. 371). Fünf Jahre später heißt es etwas zurückhaltender, dass Grillparzer der "geistigen Homosexualität nicht fern" gestanden habe (7. Jg., 1905, S. 100).
Für Magnus Hirschfeld ("Die Homosexualität des Mannes und des Weibes", 1914, S. 98, 663) spricht vieles dafür, dass Grillparzer seine Homosexualität sublimierte, er nennt einige der auch von mir genannten Quellen und kommt zu der Einschätzung, dass Grillparzer "wohl bisexuell" gewesen sei. Die Literaturwissenschaftlerin Marita Keilson-Lauritz kommt zu dem Ergebnis, dass Grillparzer in den ersten beiden Zeitschriften der Homosexuellenbewegung ("Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" und "Der Eigene") an 32. Stelle der meistgenannten Autoren steht ("Die Geschichte der eigenen Geschichte", 1997, S. 290).
Was bleibt
Mehrere Biografen gehen davon aus, dass Grillparzer wohl nie Sex mit einer Frau hatte. Am Ende seines Buches über "Franz Grillparzer und sein Liebesleben" (1904, S. 245) betont Rau, dass das Leben und das Werk Grillparzers "auf seine eigenartige Sexualität zurückzuführen" seien und dass sich Grillparzer "weit mehr zum männlichen als zum weiblichen Geschlecht hingezogen" gefühlt habe. Das "gelobte Land" habe er aber "niemals selber betreten" (S. 63-64). Aber war Grillparzer dann überhaupt homosexuell? Obwohl Rau sehr eifrig bemüht war, dies auf 256 Seiten zu begründen, ist er die Antwort leider schuldig geblieben, die auch nicht einfach ist.
Auch nach rund 200 Jahren bleibt Grillparzer schwer zu fassen. Wie schreibt der Historiker Bernd-Ulrich Hergemöller völlig richtig ("Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum", 2010, Teilband 1, S. 444): Es werde "G.[rillparzer] weder gerecht, ihn in die Riege der 'berühmten Homosexuellen' einzureihen, noch, ihn den zärtlichen und schüchternen Frauenliebhabern zuzurechnen". In dieser fehlenden Möglichkeit der Einordnung braucht man jedoch kein Problem zu sehen, weil schließlich kein Mensch unbedingt in irgendeine Schublade passen muss.
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Ein weises Schlusswort unter einen wieder mal total lesenswerten Artikel. Wenn man es genau wissen will, wird man als Historiker wohl auch unglücklich.
Wenn man genau hinsieht, sind auch die heutigen offen homosexuell lebenden Menschen nicht so einfach "einzuordnen". Da gibt es z.B. Schwule, die sehr ein enges Verhältnis zu Frauen haben (was in den Augen anderer Schwuler fast wie ein erotisches Liebesverhältnis wirkt) und andere, die sich hauptsächlich unter Männern wohlfühlen. Früher wirkten dagegen viele enge Männerfreundschaften von "Heteros" aus heutiger Sicht homoerotisch. (In nahöstlichen Ländern gibt es das noch häufiger).
Ich finde, man kann aus dem Blick in die Geschichte einiges über die eigene Sichtweise lernen: So sehr der Begriff Homosexualität bei der Emanzipation schwuler Männer und lesbischer Frauen hilfreich war und ist, um vor allem romatische und sexuelle Beziehungen von Menschen, die die sich dem gleichen Geschlecht zuordnen, zu verstehen, so ist es eben doch eine grob vereinfachende Kategorie.