Elsa, die Heldin von Disneys "Frozen"-Reihe, gilt als großes Vorbild für Millionen von Kindern und als "gay icon" gleichermaßen. Bei den Kleineren dürften es vor allem Elsas Qualitäten als Disney-Prinzessin samt dramatischer Garderobe sowie eine kindliche Interpretation des Titelsongs "Lass jetzt los" (im Englischen: "Let it go") sein, die der Eiskönigin ihren Ruhm eingebracht haben.
Unter LGBTI wiederum wird das Lied als freudiges Bekenntnis zum beschämten, lange versteckt gehaltenen, wahren Ich gewertschätzt. Wobei die Garderobe hier auch nicht abträglich gewesen sein dürfte. Doch es sind mehr als nur Zeilen wie "Es ist schon eigenartig, wie klein jetzt alles scheint – und die Ängste, die in mir war'n – kommen nicht mehr an mich ran", die dafür sorgen, dass sich Queers mit der frostigen großen Schwester von Anna identifizieren können.
Ihr im Innern ausgetragener Konflikt ist per Rückschau in Kindertage durch das elterliche Verbot unterfüttert, auch nur irgendjemandem einen Blick auf ihre magischen Fähigkeiten zu erlauben. Das schließt ausdrücklich auch die kleine Anna ein, der "zum eigenen Schutz" die Erinnerungen an Elsas Kräfte geraubt werden.
Das Coming-out blieb aus
Der beispiellose Erfolg dieses Rezepts bei Zuschauer*innen jeden Alters und seine Offenheit dafür, als queere Kindheit entziffert zu werden, waren Grund genug für viele, von Disney einen ganz besonderen Durchbruch zu fordern. Elsa sollte im zweiten Teil des Films gefälligst eine Partnerin finden, befanden sie, und ließen den Hashtag #GiveElsaAGirlfriend trenden. 2016 war das.
Sich nicht mehr an Regeln und Verbote halten – gleichermaßen verlockend für Kinder, Queers und Eisköniginnen mit strengen Frisuren (Bild: Frozen, "Lass jetzt los" / YouTube)
Und was bekamen wir? Als Ende 2019, kurz vor dem Beginn der Corona-Pandemie, Die Eiskönigin 2 in den Kinos lief, mussten wir Elsa wenigstens nicht dabei zusehen, wie sie mit einem Mann anbandelte – oder eher, wie in älteren Disney-Filmen üblich, ein Mann mit ihr anbandelte. Puh. Um den Weg zu sich selbst ("Zeige dich") sollte es gehen, und, aufs Neue, um Liebe und Fürsorge unter den Schwestern.
Doch gleichzeitig spielte Disney bewusst mit unseren Gefühlen. Deutlicher kann man das nicht sagen, bei Zeilen wie "Ich hab' hinter festen Mauern – mein Innerstes versteckt – Du hast keine Angst – wenn jemand dich entdeckt" in besagtem Song. Oder der musikalische Knaller, mit dem die Zeichentrickkünstler*innen uns schon gleich im ersten Akt überfallen: "Wo noch niemand war". Dort heißt es: "Alle, die ich liebe, sind bei mir, ich bin zuhaus' – Dich, singende Versuchung, blend' ich künftig einfach aus – Ich hab', was ich möchte, Ich bin so gerne hier – Glaubst du, ich will das riskieren und ich folge dir?" Die "singende Versuchung" ist im Englischen Original übrigens, ganz unverhohlen, eine "siren", eine Sirene. Odysseus can relate.
Die Sirene, die Elsa da hört, ist eine weibliche, aber wortlose Stimme. Die wiederum hat wohl nicht ganz zufällig die bisexuelle norwegische Sängerin Aurora Aksnes in den Disney-Studios eingesungen. Im Duett, das sich in der Folge zwischen beiden entwickelt, versucht es Elsa zunächst mit der eingeübten Strategie, mit Leugnen: "Dein geheimes Flüstern ist mir oft so seltsam nah – Und ich wünschte wirklich, es wär' einfach nicht mehr da".
Doch mehr und mehr übernimmt die Neugier: "Soll dein Ruf mich verwirren, dass ich sorglos werd', und schwach? – Wär's vielleicht doch möglich, dass du auch so bist, wie ich? – Und spürst du auch, es gibt niemand sonst wie dich?" Die verführerische Stimme im Außen rüttelt an eine im Innern empfundene Kraft, die nach Beachtung verlangt und wegen der Elsa spürt, dass es sie ins Unbekannte zieht.
Dort, als sich das Abenteuer schon ein wenig entfaltet hat, trifft sie auch noch auf Honeymaren. Von der jungen Northuldra-Frau erhält sie in einem intimen Bonding-Moment am Lagerfeuer den entscheidenden Hinweis darauf, dass die Antworten auf ihre Fragen im beiden bekannten Wiegenlied ("Es kommt zu dir") versteckt liegen – einer rätselhaften Flaschenpost durch die Zeit, vorgesungen von Elsas und Annas Mutter, die, versteckt hinter einer Warnung vor großer Gefahr, verspricht: "Was du verlierst, kommt einst zu dir".
Reichen Schwesternliebe und Selbstentdeckung?
Erst im Januar griff Ruth Coolidge für das Portal Screen Rant das Thema um Elsas lesbische Seite wieder auf, argumentierte jedoch für den erhofften dritten Teil dagegen, dass sie eine Freundin oder überhaupt eine Liebesbeziehung erhalten sollte. Um die zu sein, die Elsa bereits ist, argumentiert Coolidge da, brauche es keine Partnerin. Es gehe bei Frozen um die Selbstentdeckung und die Schwesternliebe, um Liebe "sowohl für sich selbst, als auch zwischen Familienmitgliedern". Eine Partnerin oder Verliebtheit würde diesen Idealen nachträglich eine Niederlage zufügen, argumentierte sie.
Doch das, was sich in Frozen fast immer erst im Nachhinein richtig entspinnt und um das wir nur durch kurze Rückblicke wissen, ist etwas anderes als "Liebe zwischen Familienmitgliedern". Es ist der schmerzhafte und von Geheimnissen gespickte Weg zur Überwindung transgenerationaler Traumata.
Denn diese Familie hat ein Geheimnis. Und statt es zu lüften, statt also die Kinder in die schwierige, schuldbeladene Vergangenheit einzuweihen und sie dadurch über sich selbst aufzuklären, arbeiten die Eltern von Elsa und Anna mit Verleugnung.
Der Wahrheit über sich selbst beraubt, übernehmen die Kinder unfreiwillig diese Verleugnung – Elsa in Form von emotionaler Kälte bei gleichzeitiger Überverantwortung, innerer Entfremdung und, schließlich, selbstschädigendem Autonomiestreben, Anna in Form von Unwissenheit als Unwissen über Elsas Zauberkräfte, Naivität und größter Sehnsucht nach Liebe und Loyalität. Die ist schließlich so groß, dass sie sie an den Erstbesten, der des Weges kommt, vollumfänglich verschenkt und gleich auf eine Hochzeit mit ihm zusteuert.
Doch wie es bei Menschen mit vergleichbarem Familienschicksal auf und abseits der Leinwand so ist, entpuppt sich der Weg zur Partner*innenschaft für Anna als schwieriger und komplizierter. Hans, mit dem sie am ersten romantischen Abend überrascht im Gesang feststellt, "geistig synchronisiert" zu sein, spielt seine wahren, dunklen Intentionen hinter einer liebenswürdigen und sehnsüchtigen Maske aus.
Er hat es, selber familiär benachteiligt, in Wahrheit auf das König*innenreich Arendelle abgesehen, zu dem ihm eine Heirat mit Anna verhelfen soll – und ihr schrecklicher Todesfall gleich darauf, für den praktischerweise und mit enterbender Wirkung auch noch Elsa verantwortlich wäre. Den Akt der wahren Liebe, den Kuss, der die todkranke Anna in letzter Minute hätte heilen sollen, verweigert er zuvor mit dem Bekenntnis, sie gar nicht zu lieben. Selbst wenn er wollte: Hans könnte gar nicht anders. Immerhin in dieser Einsicht ist er Anna einen gehörigen Schritt voraus.
Doch es ist am Ende schließlich Schwester Elsa, nicht der bereits zur Verfügung stehende und sie wirklich liebende Kristoff, die aus der radikalen Autonomie und Isolation zurückkehrt und der so der lebensrettende Akt der wahren Liebe gelingt. Schwesternliebe statt Liebe zwischen Mann und Frau – mit diesem Plot Twist wusste der erste Frozen-Film zu begeistern. Er ist es auch, der begründet, warum das Hauptmotiv der Reihe nach wie vor in der geschwisterlichen, nicht in der romantischen und sexuellen Liebe gesehen wird.
Doch die Wendung zur weiblichen Solidarität ist bereits das Ergebnis des ersten Teils. Die Schwesternliebe wird überdies für den Spannungsbogen des Plots von Teil 2 noch einmal strapaziert, wo sie zwischen Elsas Autonomiestreben und Annas selbstgefährdender Loyalität in die Krise gerät. Das ist auch die Stärke des Films, der im Übrigen den Kassenrekord von Teil 1 völlig zurecht noch einmal gebrochen hat. Denn dass die in Frozen 2 aufgedeckten, tiefer sitzenden Lügen und Verbrechen der Familiengeschichte mit einem einzigen Akt der wahren Liebe auflösbar gewesen wären, stellte sich hier nur als neuerliche Illusion ("So wird's immer sein") heraus.
Elsas Weg ist noch nicht auserzählt
Anna hat Kristoff, den sie im Liebeswahn zunächst übersehen hatte, gefunden. Der hat es schlussendlich nicht auf Verschmelzung abgesehen, sondern auf Anerkennung der Selbständigkeit – auch wenn das schmerzt ("Verlassen im Wald"). Doch Elsa, die als Kind die Trennung von anderen, Bindung als Gefahr eingeflößt bekommen hatte, ist noch auf der langen Reise zu sich selbst. So deckt sie mit der Identität der Mutter auch auf, wie der Großvater das in Wäldern lebende Nomadenvolk der Northuldra hinterlistig betrogen und ihren Anführer ermordet hatte, um die magischen Fähigkeiten des Stamms zu begrenzen.
Aus dem folgenden Krieg zwischen Arendelle und den Northuldra gingen schließlich die Verbindung von Elsas und Annas zwischenzeitlich verstorbenen Eltern, Elsas vererbte magische Fähigkeiten und das Familiengeheimnis als generationenübergreifender Schatten hervor: Die Mutter war eine Northuldra, die Schwestern stammen also aus beiden, entzweiten Welten und können sie wieder zusammenführen.
Im Außen gelingt es Anna und Elsa, das die Familie begründende Verbrechen wieder gut zu machen. Elsas Mutter offenbart ihr dazu aus dem Jenseits die wahre Geschichte des Großvaters. So kann sie Verantwortung dafür übernehmen, die verfeindeten Völker wieder zusammenzuführen.
Elsa, beziehungsweise ihrem Outfit, wachsen in der Begegnung mit ihrer Mutter symbolisch die Flügel. Doch das heißt nicht, dass sie schon zu fliegen gelernt hat (Bild: Frozen 2, "Zeige dich" / YouTube)
Damit sind aber noch lange nicht die Auswirkungen des Aufwachsens in einem Klima der Verleugnung behoben. Denn auch nach dem zweiten Teil bleiben Mutter und Vater mysteriöse Figuren, deren Motive unaufgeklärt sind. Das Leid des Aufwachsens unter einer Lüge lässt sich nicht unter dem Zuckerguss allgemeiner Liebe wieder gut machen. Es fehlt das Puzzleteil der Zurückweisung der Verantwortung an die Eltern, die Elsa in ihrer selbstlos-besorgten, mütterlichen Art noch immer allein auf ihren schmalen Schultern trägt.
Anders gesprochen: Am Ende des zweiten Teils der Frozen-Reihe mag Elsa mal wieder altruistisch die Welt gerettet haben. Sich selbst, ihr eigenes Begehren, hat sie damit aber noch immer nicht entdeckt und damit ihre Fähigkeit, wirklich aus sich selbst heraus zu lieben. Zu fordern, Elsa möge als eine Art lebendes, feministisches Denkmal die selbstlose, gerechte Eiskönigin und fürsorgliche Schwester bleiben, hieße letztlich, sie auf dem nur um Andere besorgten Stand festzunageln. Damit aber auch auf ihr Leid.
Unter diesem emotionalen Zustand litt sie jedoch bereits schon, als sie noch nicht via "Let it go" zur ultra-autonomen Einsiedlerin mit eigenem Eispalast ausgezogen war. Es wäre schlicht ungerecht, Elsa nicht, nach dem so beschwerlichen Weg durch das generationenübergreifende Dickicht der Verwicklungen und der ihr dabei im dysfunktionalen Familiensystem aufgetragenen Rolle, mit ihrem eigenen Begehren zu belohnen.
Disney-Prinzessinnen, die ihre Abenteuer durch die schwierige Liebe innerhalb der Familie bestehen, gab es überdies schon – denken wir nur an Wildfang Merida. Und Vanellope von Schweetz entdeckt in "Chaos im Netz", dass man im Zuge des Erwachsenwerdens zu neuen Freund*innen und Passionen fortschreiten muss, um die alten Freund*innenschaften bewahren zu können. Frauen, Prinzessinen gar, haben sich auch bei Disney inzwischen weiterentwickelt.
Die Reise zu sich selbst, zu den Schmerzen der Familie und zur Verantwortung der Eltern- und Großelterngeneration ist für viele Menschen eine Grundbedingung dafür, in Freiheit und Bindung gleichermaßen lieben zu können. Elsas Einsamkeit als Kind und die ihr ungerechterweise aufgetragene Verantwortung, die anderen zu schützen, indem sie sich versteckt, müssen konfrontiert werden. Die negativen Gefühle, von denen sich ein Kind irgendwann abschottet, wenn sie nicht da sein, nicht verhandelt werden dürfen, müssen nachträglich erlebt werden.
Dass sich Elsa in einem dritten Teil der Frozen-Reihe am Ende endlich verlieben darf, wäre nur folgerichtig. In eine andere Frau sowieso. Andernfalls wäre das Prinzessinnendasein auf zwei Optionen eingeschränkt: Auf die althergebrachte Variante, am Ende eines Abenteuers den Prinzen zu finden – oder, als "feministische" Alternative, ohne Mann, aber weiterhin in der weiblich codierten Sorge und Aufopferung für andere. Einen solchen "Sieg" über das natürlich nach wie vor problematische Prinzessinenmotiv kann man als Feminist*in nicht wollen.
Also gebt Elsa endlich, wonach sie sich sehnt. Und wir uns auch.
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