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Lieblingminne und Freundesliebe
Weltliteratur als sexuelle Grenzüberschreitung
Heute vor 150 Jahren – am 20. Februar 1872 – wurde Elisàr von Kupffer geboren, der später vor allem als Herausgeber der ersten homosexuellen Anthologie der Welt bekannt wurde.

Elisàr von Kupffer im Jahr 1902
20. Februar 2022, 09:37h 14 Min. Von
Elisàr von Kupffer (1872-1942) war Künstler, Dichter, Übersetzer und Bühnenschriftsteller, der für seine schriftstellerischen Arbeiten meistens das Pseudonym Elisarion verwendete. Er war eine Art androgyner Künstlerpriester, der gemeinsam mit seinem Lebenspartner Eduard von Mayer homoerotische Kunstwerke schuf.
Die Quellenlage ist gut: Es gibt eine Autobiografie von Kupffer und eine kunsthistorische Monografie über ihn von Fabio Ricci. Der Verein Pro Elisarion betreibt die Homepage Elisarion.ch mit vielen Texten und Bildern und bewahrt sein Andenken. Weitere Texte von Kupffer sind als Reprint oder auch online zugänglich, und bei Youtube gibt es Videos, die einen Eindruck seiner bildenden Kunst vermitteln.
Kupffers Jugend
Was wir heute über Kupffer wissen, wissen wir vor allem durch seine Autobiografie "Aus einem wahrhaften Leben" (1943). Sie wurde posthum von seinem Lebenspartner Eduard von Mayer veröffentlicht, der im Vorwort betont, dass er sich mit Kupffer bis zu seinem Tode 51 Jahre lang verbunden fühlte. Auf Elisarion.ch sind mehrere Kapitel des Buches online gestellt, in denen Kupffer offen über Homosexualität und seine Liebe zu Mayer schreibt.

Elisàr von Kupffer (l.) und Eduard von Mayer
Schon als Kind beschreibt sich Kupffer als eher feminin und ephebenhaft, er betont jedoch: "Ich aber war froh, ein Knabe zu sein, hatte nie den Wunsch, ein Mädchen zu sein, auch verlangte mich nie nach weiblicher Kleidung, wie das bei weiblich gearteten Knaben vorkommen soll. Meine Tante, die mich sehr liebte, bemerkte zu mir: 'Sahest du, mit welch verliebten Blicken der Bewunderung jener Herr dich verschlang?'" Mit seinen Freunden konnte sich Kupffer offen über Sex ("Liebe unter Kameraden wäre besser und gesünder, als sich einsamer Liebe hinzugeben") und über das "Bedürfnis der reifenden Jugend nach einem erotischen Erlebnis" austauschen (2. Teil).
Mit ungefähr 18 Jahren lernte er seinen späteren Lebenspartner Eduard von Mayer kennen. Er beschreibt diese Liebe "selbst auf die Gefahr hin, dass es noch Leute gibt, die über Naturdinge des Lebens erschrecken zu müssen meinen. Wir leben aber in einer Zeit, wo die Umwälzung alter Vorurteile an alle Türen pocht und wo Gedanken, die damals ihrer Zeit weit vorauseilten, ins Leben treten und noch mehr treten werden." Seine gleichaltrigen Kameraden begleitete Kupffer einmal ins Bordell und er kam zu dem Schluss, dass einigen von ihnen nur "die kameradschaftliche Liebe" fehle. Ihn selbst reizte das Bordell nicht und auch später hat er nie wieder ein Bordell betreten.
Als Anregungen, die Kupffer zu seiner schriftstellerischen Arbeit bewogen, nennt er Richard von Krafft-Ebings Werk "Psychopathia sexualis" und den Homosexuellen-Prozess gegen Oscar Wilde. Er las auch ein Buch von Otto de Joux, eines frühen Autors der homosexuellen Emanzipation, das ihn "durch seine schiefe, oberflächlich beklagende, unmännliche Art der Behandlung geradezu empörte". Unter Berufung auf die Antike dachte Kupffer ganz anders über diese Dinge, die durch "eine geradezu unnatürliche sozial-ethische Entwicklung erst zu schwierigen Problemen gemacht worden sind, die sie naturgemäss gar nicht zu sein brauchten" (3. Teil).
Kupffers Einstellungen
In seiner Autobiografie begründet Kupffer recht ausführlich, warum er nie geheiratet hatte. Diese Begründung sei wichtig, weil ansonsten "die gänzlich falsche Vorstellung bestehen bleibt, ich hätte gar Abneigung gegen das Weibliche. […] Eine reichere Menschlichkeit lebt in mir und meinem Werke, als in solchen einseitigen Menschen, die nur zu dem andern Geschlecht oder nur zu dem eigenen gefühlsmässig und triebhaft hinneigen" (3. Teil).
Kupffer betont, dass er nie das gewesen sei, "was man homosexuell zu nennen pflegte, sagen wir: überhaupt mehr seelisch als sexuell eingestellt, obwohl durchaus leidenschaftlich von Natur". Seine erste erotische Liebe sei die zu einem Mädchen gewesen und seine gleichgeschlechtlichen "Liebesbeziehungen zu den Knaben und Jünglingen waren stets vor allem seelisch-erotisch, etwa wie in der hellenischen Antike".
Im Hinblick auf Kupffers homosexuelles Engagement ist seine Einstellung zu anderen Homosexuellen erstaunlich kritisch und er bezeichnet es geradezu als "eine Tragik in meinem Leben", dass "gerade die Homosexuellen […] am wenigsten gut" auf seine Kunst reagierten. Diese Homosexuellen "waren oft meine heimlichen Feinde, so dass ich sie ungern bei mir sah". Weil diese Homosexuellen "immer an ein maskenhaftes Scheinleben gewohnt sind, […] so ist ihnen mein klares, unbeschränktes Wesen wie Schaffen fremd, und sie fürchten entschleiert" zu werden. Für Kupffer war es traurig, dass sich viele Homosexuelle mit Alibifrauen umgaben und die Gesellschaft sie damit nur um der "Scheinmoral willen" zu Lügnern machte (4. Teil).
Kupffers Anthologie "Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur"
"Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur. Eine Sammlung mit einer ethisch-politischen Einleitung von Elisarion von Kupffer" (1900) ist die erste homosexuelle Anthologie der Welt. Es gibt sie zwar nicht online, aber der verdienstvolle Reprint aus dem Männerschwarm Verlag von 1995 mit einem Vorwort von Marita Keilson-Lauritz ist lieferbar (Amazon-Affiliate-Link ).

Das Original (1900) und der etwas kleinere Reprint (1995) mit einer Zeichnung des Jugendstilmalers Fidus
Keilson-Lauritz (S. V-XX) hebt hervor, dass das Werk sehr deutlich im Dienst emanzipatorischer Ziele stehe und wie erstaunlich Kupffers Leistung sei, wenn man berücksichtige, dass es dazu kaum Vorarbeiten gab. Die Anthologie bezeichnet sie nicht nur als ein wichtiges Zeitdokument, sondern auch als stolzes Zeugnis eines männerliebenden Selbstverständnisses an der Wende zum 20. Jahrhundert. Für das Cover des Nachdrucks griff der Verlag auf eine Zeichnung des bekannten Jugendstilmalers Fidus zurück. Diese war zwar in einer Werbeanzeige für das Buch in Adolf Brands Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" abgedruckt, aber nicht für das Buchcover von 1900 verwendet worden.
Kupffer hat mit dieser Auswahl an Gedichten den Kanon der schwulen Dichtung mitbestimmt und sich damit bis heute einen Namen gemacht. Auch in meinen Artikeln hier auf queer.de bin ich schon mehrfach auf diese Anthologie eingegangen, weil sich damit gut eine homosexuelle Rezeption bestimmter Autoren belegen lässt (wie bei Gustave Flaubert, Johann Wolfgang von Goethe, Euripides, Johann Gottfried Herder, Friedrich Hölderlin) – selbst bei Texten, die meiner Meinung nach gar nicht in eine schwule Anthologie hineingehören (wie bei einem Gedicht von Franz Grillparzer).
Kupffer über seine Anthologie
Es gibt zwei wichtige Quellen, in denen sich Kupffer über seine Anthologie äußert. Die eine Quelle ist seine Einleitung (S. 1-19), die heute auch auf Elisarion.ch online verfügbar ist. Hier nimmt er Bezug auf Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld, schreibt über den Begriff der "Lieblingminne", seine Vorstellung von Religion und über die Hintergründe zum Entstehungsprozess. Er wolle kein "sensationelles Werk" und keine "erotische Sammlung" schaffen, sondern eine "ethische Kulturtat" vollbringen. Über die Bewertung seines Vorwortes gibt es auf Wikipedia einen längeren Absatz.
Die zweite Quelle ist seine bereits erwähnte Autobiografie – ebenfalls online auf Elisarion.ch. Hier schreibt Kupffer davon, dass er seine Anthologie "aus gerechter Empörung über eine klägliche Entstellung des Liebeslebens seitens Homosexueller und Antihomosexueller" veröffentlicht habe. Recht selbstbewusst ergänzt er: "Das geschah nicht, um mich etwa in den rührseligen, 'Begnadigung' erbittenden Reigen vieler Homosexueller einzureihen." "Vor allem lag mir auch daran, zu erweisen, dass jene Liebesneigung […] keineswegs eine Verfallserscheinung der Antike ist." Es gab Autoren, die sowohl über die Liebe zu Männern als auch zu Frauen geschrieben haben. Eigentlich wollte er die ganze Bandbreite dieser Dichter aufzuzeigen (und wird vermutlich u. a. an Goethe gedacht haben), aber der "begrenzte Raum gestattete es mir nicht, […] auch Gedichte zur Frauenminne der gleichen Dichter einzufügen".
Vor einer Herausgabe des Buches sei er gewarnt worden, aber er habe sich sicher gefühlt, denn schließlich habe er "ja gar nicht 'Sensation' erstrebt, [ich] war mit überlegenem Bewusstsein daran gegangen". Als trotzdem eine "Klage gegen das Buch erfolgte, da sind drei namhafte deutsche Männer für den ethischen und wissenschaftlichen Wert meines Buches vor dem Reichsgericht in Leipzig eingetreten [und] mein Buch [wurde] als ernstes wissenschaftliches Werk freigegeben".
Kupffers Gedichte

Das Cover der ersten Auflage von 1900, das Kritik an der Kirche oder Liebe zur Antike zum Ausdruck bringen kann
Es ist schön, dass ausgerechnet derjenige Gedichtband Kupffers, der am ehesten mit Homosexualität in Verbindung steht, heute auch online verfügbar ist. Kupffers Gedichtsammlung "Auferstehung. Irdische Gedichte" (1. Auflage 1900, hier 2. Aufl. von 1903 online) enthält überwiegend geschlechtsneutrale Liebesgedichte oder Gedichte, die die Jünglingsliebe dezent andeuten. In der zweiten Auflage sind die Gedichte "Antinous" (S. 21-23), "Ungeweihte Liebe" (S. 48-49), "Santa Lucia" (S. 77), "Jüngling Tod" (S. 98-100) und "Der Genesende spricht" (S. 103-104) wohl die deutlichsten, wobei Kupffer seine Gedichte "Antinous" und "Der Genesende spricht" schon vorher in seine Anthologie "Lieblingminne und Freundesliebe" (S. 178-181) aufgenommen hatte.
Die zweite Auflage der Gedichtsammlung erschien im Verlag von Max Spohr, dem Haus- und Hofverlag der frühen Homosexuellenbewegung. Das eindrucksvolle Cover der ersten Auflage mit einem halbnackten Jüngling wurde in der zweiten Auflage, die in einem anderen Verlag erschien, nicht übernommen. Wenn der silhouettenhaft dargestellte Schatten ein Adler sein soll, würde er Göttervater Zeus verkörpern und der Jüngling wäre der von ihm entführte Ganymed. Wenn er eine Fledermaus darstellen soll, würde es die Überwindung traditionell-religiöser Frömmelei zum Ausdruck bringen – verkörpert durch die schwarze Fledermaus als finsteren Widerpart zu Helligkeit und Vernunft.
Erst mit der zweiten Auflage wurde die Homosexuellenbewegung auf diese Schrift aufmerksam. In seiner Rezension betonte Eugen Wilhelm (unter seinem Pseudonym Numa Praetorius im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", 1903, S. 1061-1065), dass in dieser Sammlung von 119 Gedichten etwa 25 von homosexuellen Gefühlen geprägt seien. Vom offen homosexuellen Auftreten und der selbstbewussten Form ist Wilhelm erkennbar angetan: "In seinen Gedichten besingt Kupffer offen und unverhohlen die Homosexualität. Kein noch so findiger Kritiker wird bei ihnen den homosexuellen Charakter wegdeuten können." Wie heterosexuelle Dichter äußerten, so Wilhelm, auch Autoren wie Kupffer "ihre Gefühle mit derselben Freude und Selbstverständlichkeit". Es geht um das "Poetisieren von Selbsterlebtem" und die Wiedergabe des "ureigensten homosexuellen Empfindens". Kupffer sei ein Beispiel für die offen homosexuellen Dichter einer neuen Zeit.
Kupffer schreibt über "Il Sodoma" (und über sich)
Von seinen Gedichten abgesehen, ist Kupffers Aufsatz "Giovan Antonio – il Sodoma. Der Maler der Schönheit. Eine Seelen- und Kunststudie" über den italienischen Renaissance-Maler Giovanni Antonio Bazzi (genannt "il Sodoma") sein wohl bedeutendster Text im homosexuellen Kontext. Der Aufsatz erschien mit seinen mehr als 90 Seiten als eigenständige Schrift, aber auch im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (1908, S. 71-167). Vieles an diesem Aufsatz lässt Rückschlüsse auf den Autor zu: Kupffers Kunstverständnis, seine Leidenschaft für Italien und seine große Faszination für St. Sebastian. Auch hier versuchte er das Christentum mit der Antike und die Kunst mit der Religion zu verbinden bzw. zu versöhnen. Homosexualität stellt er in den Fokus, er lobt Magnus Hirschfeld als "verdienstvolle(n) Vorkämpfer" (S. 96) und übernimmt Begriffe von Karl Heinrich Ulrichs (S. 163). Am Ende beschreibt er, wie er sich Kritik wünsche und wie er mit Kritik umgehe (S. 163-165), was als kleiner Hinweis darauf verstanden werden kann, wie wenig selbstverständlich solche Texte damals waren.
Kupffers Malerei
Das malerische Werk Elisàr von Kupffers entstand im Wesentlichen zwischen 1905 und 1930 und fußt auf zahlreichen kunsthistorischen Vorbildern. So finden sich Bezüge zur Kunst der Antike und zu Monumentalwerken des französischen Symbolismus. "Im Hinblick auf die Geschlechtertheorien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts stellt das Werk von Kupffers, ebenso seine Selbstinszenierung, eine einzigartige, als provozierend empfundene Position dar" (Elisarion.ch). Der Youtube-Beitrag "Homocentric" bietet – ohne weitere Erläuterungen – eine schwule Bildergalerie seiner Werke, die einen guten ersten Einstieg bietet. Der Bildband von Cécile Beurdeley "L'amour bleu" (Taschen, 1994, zuerst 1977 erschienen) zeigt zwar ebenfalls viele Abbildungen seiner Kunstwerke (S. 124-126, 151-153, 159-161, 178-179, 274-275), setzt diese Werke aber in enttäuschender Weise nur als visuelles Füllmaterial ein. Nur durch einen Satz – und auch das nur im Rahmen einer Bildunterschrift – erfährt die Leser*innenschaft etwas über Kupffer und seinen Lebenspartner (S. 178).

Sieht so das schwule Paradies aus? Rundgemälde "Die Klarwelt der Seligen" (Ausschnitt)
Viele seiner Gemälde stellte Kupffer in seinem Sanctuarium, einem von ihm geschaffenen religiös inspiriertem Bau, aus. Hier war auch sein 26 Meter langes Rundgemälde "Die Klarwelt der Seligen" ausgestellt, das heute als sein künstlerisches Hauptwerk gilt. Gleichzeitig ist es Ausdruck seiner erotischen Präferenzen: androgyne, ephebenhafte Jünglinge mit runden Formen und puppenhafter Physiognomie. Es sind insgesamt 84 Nackedeis, die sich 26 Meter lang in idyllischen Landschaften räkeln.
In dem Youtube-Beitrag "Klarwelt der Seligen" (1998) macht der Ausstellungskurator Harald Szeemann eine Führung vor diesem Werk, wobei er die Frage, ob es sich bei dem Rundbild um lesbische (sic) Kunst handelt (1:05 Min.), richtigerweise den Teilnehmenden überlässt. Am Ende (ab 7:09 Min.) ist das rund 50 qm große Rundgemälde vollständig zu sehen. Es erscheint wie die Wunschvorstellung eines schwulen Paradieses in Form eines Wimmelbildes – vollkommen frei von jedweden sexuellen Konventionen.
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Kupffers Fotografie
Im Kupffers Nachlass befinden sich auch viele fotografische Naturstudien, Aktfotografien, die er als Vorlagen für seine Gemälde benutzte, und Selbstporträts. In seiner Fotokunst zeigen sich nicht nur Bezüge zur entstehenden Homosexuellenbewegung, sondern auch zu den Fotos von Wilhelm von Gloeden. Die meisten seiner Aktmodelle, die er gerne in antiken Posen fotografierte, sind heute namentlich nicht mehr bekannt. Eine Ausnahme davon ist der junge Italiener Luigi Taricco, den Kupffer in einem Kloster in Genua kennen lernte und der danach, sogar mit Erlaubnis seines Vaters, für einige Zeit bei Kupffer und seinem Lebenspartner Eduard von Mayer wohnte (s. Autobiografie).

Nacktfoto von Luigi Taricco in antiker Pose
Im schon genannten Youtube-Beitrag "Homocentric" wird u.a. am Beispiel des St.-Sebastian-Motivs (1:00 Min.) verdeutlicht, wie sich Fotografie und Malerei gegenseitig inspirieren können. Neben Gemälden von St. Sebastian ist hier auch ein Foto zu sehen, auf dem sich Kupffer selbst in der klassischen Pose von St. Sebastian fotografieren ließ. Kupffer konnte sich mit dem Leiden des hl. Sebastian identifizieren und sah ihn als einen "Märtyrer der Schönheit" an. In seiner Autobiografie geht er darauf ein, wie seine Faszination für St. Sebastian begonnen habe und wie dieser in der Kunst der Renaissance "lebendig" geworden sei. Kupffer "spürte" ihn in italienischen Städten und Kirchen auf und unternahm auch eine Reise zu verschiedenen St.-Sebastian-Darstellungen.
Vor einigen Jahren habe ich gemeinsam mit Herbert Potthoff den Ausstellungskatalog "St. Sebastian oder Die schwule Kunst zu leiden" (Centrum Schwule Geschichte, 1999) verfasst. Im Zusammenhang damit, dass sich Schwule mit dem Leiden von St. Sebastian identifizierten, sind wir auch auf Kupffer eingegangen, der in der Gestalt dieses Märtyrers die von ihm angestrebte Synthese von Christentum und Antike sah.

Kupffer in der Pose von St. Sebastian als Ausdruck des Leidens
Kupffers Bedeutung in der frühen Schwulenbewegung
Als sich vor rund 120 Jahren die Homosexuellenbewegung formierte, teilte sie sich in zwei Lager: Magnus Hirschfeld, der mit seinem Wissenschaftlich-humanitären Komitee die Emanzipation mit den Mitteln der Wissenschaft erreichen wollte, und Adolf Brand, der dies durch seine Zeitschrift "Der Eigene" mit den Mitteln der Kunst versuchte. Es ist erstaunlich, dass sich Kupffer mit beiden Seiten gut verstand und bei Brand und bei Hirschfeld publizierte. Mit Magnus Hirschfeld gab es wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit, weil Kupffer Hirschfelds Zwischenstufentheorie ablehnte (s.a. Magnus Hirschfeld: "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes", 1914, S. 365).
Wer die Bedeutung Kupffers für die frühe Homosexuellenbewegung kennen lernen möchte, liest am besten Marita Keilson-Lauritz' Dissertation "Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung" (1997), die ebenfalls kurz auf Kupffers "Hirschfeld- oder zumindest zwischenstufen-feindliche" Einleitung seiner "Lieblingminne" (S. 84) eingeht. Viel wichtiger ist jedoch ihre Auswertung, wonach Kupffer auf Platz 1 der am meisten genannten Autoren in den beiden Periodika der frühen Homosexuellenbewegung ("Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" und "Der Eigene") steht und damit auch Größen wie Oscar Wilde und Karl Heinrich Ulrichs hinter sich lässt (S. 290). Keilson-Lauritz listet akribisch auf, welche Beiträge er in den beiden Periodika publizierte (S. 432), welche Bücher von ihm rezensiert wurden (S. 491) und welche Bibliographien und späteren Anthologien über Homosexualität es neben der "Lieblingminne" ebenfalls gab. Sie zeigt anhand von Beispielen, wie Kupffer mit den beiden Schlüsselbegriffen seiner Anthologie "Lieblingminne" und "Freundesliebe" die damalige Sprache über Schwule mit geprägt hat (S. 144). Dabei hat er auch das, was als schwule Literatur verstanden wurde, mit bestimmt. In seiner Anthologie kann man aber, gemessen an dem, was damals dazu gehörte, Walt Whitman und Oscar Wilde durchaus vermissen.
Eine Dissertation über Kupffer: "Ritter, Tod & Eros"
Von Fabio Ricci stammt ein wissenschaftliches Grundlagenwerk zu Kupffer: "Ritter, Tod & Eros: Die Kunst Elisàr von Kupffers (1872-1942)" (2007). Der Kölner Fabio Ricci wurde 1997 erstmals auf die Werke Kupffers aufmerksam. Das Buch ist die überarbeitete und erweiterte Fassung seiner kunsthistorischen Dissertation, in der er Kupffers Werke in die Denk- und Vorstellungswelt seiner Zeit einordnet. Aspekte rund um Homosexualität sind u.a. im Kapitel "Geschlechtertheoretische Diskurse 1890-1930" (S. 77-125) zu finden. Leichte Kritik am Autor schimmert auf der Internetseite Schwulengeschichte.ch durch, wenn dort zu lesen ist, dass Ricci bei der Frage "(zu) sehr auf Distanz geht", ob Elisàr von Kupffer mit seinen Werken ein Teil der schwulen Geschichte sei.
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Was bleibt...

Gemälde von Kupffer: "Selbstbild an seinem Totenbett" (1940)
Elisàr von Kupffer ist ein spannender Künstler, der verdient, nicht nur mit seiner Anthologie in Erinnerung zu bleiben, die als fast einziges neu aufgelegte Werk Kupffers maßgeblich seine heutige Rezeption bestimmt. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist bereits getan: Das Buch "Ritter, Tod & Eros" hatte neben seiner kunsthistorischen Analyse auch eine Bedeutung bei der Sicherung von Kupffers Nachlass. Fabio Ricci stellte 2007 vielen Schweiz-Reisenden nicht nur sein eigenes Buch, sondern auch Kupffers Kunst vor. Daraus entstand ein kleiner Kreis, der 2008 in Zürich den Verein "Pro Elisarion" gründete, der sich zum Ziel gesetzt hat, den Nachlass zu sichern. Dabei ging es vor allem um die Bewahrung des 26 Meter langen Rundgemäldes "Klarwelt der Seligen", das in den Jahren 2019 bis 2021 aufwändig restauriert wurde und seit einem Jahr besichtigt werden kann (Schwulengeschichte.ch).
Für weitere Forschungen finde ich die schon oben genannte Dissertation von Marita Keilson-Lauritz ("Die Geschichte der eigenen Geschichte", 1997) sehr inspirierend. Es ist heute weitgehend bekannt, dass Italien als klassisches Land der Zuflucht für Homosexuelle eine große Bedeutung hatte, aber Keilson-Lauritz bringt auch Beispiele, die sich auf die "freie Schweiz" beziehen, wo auch Kupffer mit seinem Lebenspartner ein neues Zuhause fand (S. 151). Aufbauend auf den Schmetterlingsmotiven in Kupffers Rundbild "Klarwelt der Seligen" fragt sie nach dem Schmetterling-Topos, der sich auch bei anderen homosexuellen bildenden Künstlern finden lässt (S. 137), aber offensichtlich noch nicht erforscht ist. In seiner Anthologie hat sich Kupffer für die "Weltliteratur" interessiert. Bei seinem Blick über den schwulen Tellerrand hinaus ging es in einem positiven Sinne auch um sexuelle Grenzüberschreitung (S. 320).
Elisàr von Kupffer starb nach einem bewegten Leben 1942 in der Schweiz. Zwei Jahre zuvor hatte er sich bereits mit seinem Tod beschäftigt und das Gemälde "Selbstbild an seinem Totenbett" (1940) erschaffen.

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