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"Anders von Anfang an"

Beatrice Arthur als Kommilitonin und verliebt in Marlon Brando

Das Jüdische Museum lud zu einem bewegenden Gespräch mit dem 96-jährigen Schauspieler, Regisseur und Autor Harry Raymon, der sich nach der eigenen Stolperstein-Verlegung entschied, zum Zeitzeugen zu werden.


Harry Raymon am Montagabend beim Zeitzeugengespräch des Jüdischen Museums Berlin in der W. M. Blumenthal Akademie (Bild: ak)

Verstörende Bilder vom Kölner Rosenmontagsumzug: Auf einem Motivwagen ist eine antisemitische Karikatur eines Juden zu sehen, umringt von johlendem Publikum. Es ist ein filmisches Dokument aus dem Jahr 1936, als die Nazis den Karneval in ihre Propagandamaschinerie einverleibt hatten. Die Aufnahme wurde in den 1982 gedrehten Spielfilm "Regentropfen" des Regisseurs Harry Raymon montiert, dessen schauspielerisches Alter Ego als kleiner Junge mit weit aufgerissenen Augen die gespenstische Szenerie beobachtet.

Der Regisseur sitzt an diesem Rosenmontag auf dem Podium des Jüdischen Museums in Berlin – an einem denkwürdigen Abend. Zwar wird Karneval in der Hauptstadt ohnehin nicht gefeiert, aber aufgrund der Krisensituation in der Ukraine ist die Stimmung besonders gedrückt, zumindest am Anfang. Erfreulich immerhin, dass die 2017 gestartete Reihe der Zeitzeug*innen-Gespräche erstmals seit Beginn der Pandemie überhaupt wieder live vor Publikum stattfinden kann, um Erfahrungen deutscher Jüd*innen im Nationalsozialismus von Angesicht zu Angesicht zu vermitteln.

Es ist ein besonderer, ein sehr bewegender Abend, an dem Raymon mit Hingabe aus seinem facettenreichen Leben erzählt. Und so lässt sich das Publikum aller widrigen Umstände zum Trotz mitreißen von den berührenden, zum Teil auch sehr humorvollen Geschichten eines Weltbürgers, der im Januar seinen 96. Geburtstag feierte.

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1926 im Hunsrück geboren

Harry Raymon, der vor der Emigration mit Nachnamen Heymann hieß, wurde 1926 in Kirchberg im Hunsrück geboren. Um der Stigmatisierung durch die Nazis zu entkommen, wollte die Mutter ihm mit Heftpflastern seine abstehenden Ohren behandeln. Nachdem die Nazis seinen Eltern den Betrieb ihres Textilgeschäfts untersagt und ihnen so die Existenzgrundlage geraubt hatten, gelang der Familie nach einem Zwischenaufenthalt in Köln die Flucht in die USA.


Das Gespräch mit Harry Raymon führte Aubrey Pomerance, Archivleiter des Jüdischen Museums Berlin (Bild: ak)

Während seiner Zeit in der US-Army in Biarritz wird Harry klar, dass er auf Männer steht. Er verliebt sich in einen Soldaten aus seiner Einheit, aber bis er sich sein Schwulsein eingestehen kann, wird noch einige Zeit vergehen. Marlene Dietrich schaut in Frankreich vorbei, gibt den jungen Soldaten eine Lektion in darstellender Kunst, die er nicht vergessen wird.

Harry möchte Schauspieler werden, studiert bei Erwin Piscator in New York, Seite an Seite mit Tony Curtis, Harry Belafonte und Beatrice Arthur, der Dorothy-Darstellerin aus "Golden Girls".

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Auf einem Pariser Badeschiff mit Marlon Brando


Raymons Autobiografie "Anders von Anfang an" ist Ende 2020 im Verlag erlag STROUX edition erschienen

Als er den Film "Kinder des Olymp" sieht, in dem es um die Kunst der Pantomime geht, will er diese erlernen und reist nach Paris. Dort hat er eine denkwürdige Begegnung mit Marlon Brando, mit dem er frühstückt, sich auf einem Badeschiff in der Seine tummelt und ein Hemd tauscht. Natürlich verliebt er sich in das damalige Sexsymbol. Auch wenn sich die beiden nicht wirklich näherkommen – für Harrys späteres Coming-out verleiht das Erlebnis den entscheidenden Impuls. Er hat die Geschichte für seine 2020 erschienene Autobiografie "Anders von Anfang an" (Amazon-Affiliate-Link ) aufgeschrieben, aus der er an diesem Abend Auszüge vorliest.

Harry bleibt auch nach der Pariser Episode in Europa: Weiter geht es nach Stuttgart, seiner Ansicht nach "eine der spießigsten Städte" überhaupt. Dort studierte er Gesang und gründete in den 1950er-Jahren das Pantomime-Theater "Die Gaukler". Niemand hat ihn je auf seine jüdische Identität angesprochen oder nach seiner Vergangenheit gefragt. Es war ein Tabu. Nach einer kurzen Zeit im Theater in Celle wird auch Berlin zu einer der Stationen seines Lebens. An der Seite von Horst Buchholz spielt er 1957 in "Endstation Liebe". Der Theaterbetrieb ist für ihn im Übrigen durch und durch homophob. "Nicht die Schauspielerkollegen, aber die Intendanten und die Herren in der Verwaltung."

1982 feierte sein Film "Regentropfen" Premiere

Harry ist einer der Mitbegründer des Forum-Theaters am Kurfürstendamm, inszeniert französische und amerikanische Stücke und lädt das umstrittene New Yorker Living Theatre für Gastauftritte ein. Bei der Berlinale wird schließlich 1982 im "Forum des jungen Films" sein erster Film "Regentropfen" vorgestellt, eine Geschichte, die in der NS-Diktatur spielt und an seine eigene angelehnt ist.

Seit 1965 lebt Harry Raymon im Münchner Glockenbach-Viertel. Bis 2003 arbeitete er als Schauspieler und als Synchronsprecher. Auch heute hat er noch eine angenehme und lebhafte Stimme. Er geht, soweit möglich, regelmäßig ins Sportstudio. 2017 erhielt er eine Einladung aus seiner Heimatstadt Kirchberg, wo Stolpersteine verlegt werden sollten – unter anderem auch vor seinem Elternhaus, einer mit seinem Namen darauf. Dies war für ihn der Anlass, sich selbst zu fragen: "Bin ich, der ich nicht die Marter der Konzentrationslager hat erfahren müssen, ein Überlebender? Darf ich den Anspruch stellen, allein aus Altersgründen als solcher zu gelten? Wenn ja, besteht dann nicht die Pflicht zu erzählen, wie es war?"

So entschied sich Harry Raymon, zum Zeitzeugen zu werden. Das Publikum dankt es ihm an diesem Abend mit großem Applaus.

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