Verkaufsförderndes Cover von Pasolinis Roman "Amado mio" über eine schwule Jugendliebe
Pier Paolo Pasolini (1922-1975) wurde in Bologna geboren, zog später nach Casarsa und wurde sich während des Zweiten Weltkrieges seiner Homosexualität bewusst. Im Herbst 1949 wurden ihm sexuelle Handlungen mit seinen Schülern vorgeworfen. Er wurde angezeigt und später auf Bewährung verurteilt, was zu seiner gesellschaftlichen Ächtung führte. Er verlor seine Lehrerstelle und wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.
Ab den Sechzigerjahren entdeckte Pasolini den Film als Medium für seine poetisch-dichterischen und sozialkritischen Zielsetzungen und drehte mehr als 20 Filme. Pasolini machte sich auch einen Namen als bildender Künstler und als Autor von autobiografischen Romanen wie "Ragazzi di vita" (1955, dt. 1990) und "Amado mio" (1982, dt. 1984, s. queer.de). In Erinnerung wird er jedoch vor allem durch seine Filme bleiben, von denen ich einige vorstellen möchte.
"Mamma Roma" (1962)
In "Mamma Roma" (1962, hier online mit engl. UT) zeichnet Pasolini das Porträt der stadtbekannten Prostituierten Mamma Roma, die versucht, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen. In einigen Szenen sieht man, wie sich auch Männer prostituieren (22:05; 57:40-58:05, 1:11:00 Min) und wie Mamma Roma mit zwei effeminierten Strichern ins Gespräch kommt (25:05-26:35 Min.). Diese Männer haben zwar keine Bedeutung für die Filmhandlung, zeigen aber, dass Pasolini in seinem Sozialdrama die männliche Prostitution ebenfalls vor Augen hatte.
"Das Gastmahl der Liebe" (1964)
In "Das Gastmahl der Liebe" (1964) wird ein Italiener mit einer Frage von Pasolini konfrontiert
Deutlicher ist Pasolinis Dokumentation "Das Gastmahl der Liebe" (1964, hier online, engl. UT, 35:45-51:12), in der er Italiener*innen zu ihrer Einstellung zu Sexualität befragt, wobei es rund 15 Minuten lang auch um ihre Einstellung zur Homosexualität geht. Einige der Passant*innen reagieren ablehnend, während ein Mann betont, dass das für ihn etwas Angeborenes sei.
Zweimal griff Pasolini zur Selbstzensur, blendete den Hinweis "Autocensura" ein und drehte bei den Interviews den Ton ab. Die verbleibenden Antworten sind keine Überraschung und geben die typischen Vorbehalte jener Zeit gegenüber Schwulen und Lesben wieder. Heute erscheinen in diesen 15 Minuten wohl eher Pasolinis Fragen als aussagekräftig. Für den Biografen Hans U. Reck ("Pier Paolo Pasolini", 2010, S. 74-75) ist es "psychoanalytisch kennzeichnend", wie Pasolini bei seinen Fragen eine konkrete Bezugnahme auf Homosexualität vermied.
"Teorema" (1968)
In "Teorema" (1968) erwacht bei Pietro (links) das Interesse am Körper des Fremden
In Pasolinis Film "Teorema – Geometrie der Liebe" (1968) kommt ein geheimnisvoller Fremder in eine bürgerliche Familie und hat zärtlich-sexuelle Begegnungen mit dem Vater, der Mutter, dem Sohn, der Tochter und der Hausangestellten. Der Unbekannte gleicht dabei einem Heiligen, der nicht nur Liebe, sondern auch Erkenntnis bringt. Angesiedelt ist dieser religiös inspirierte Film zwischen einem mystischen Märchen und einer paranoiden Parabel. Zum 50. Jahrestag der Uraufführung dieses Films habe ich hier auf queer.de einen ausführlichen Artikel geschrieben und den Film gemeinsam mit dem Centrum Schwule Geschichte am 4. September 2018 in Köln auch im Rahmen eines Multimedia-Vortrages vorgestellt. Ergänzend kann ich heute noch auf eine online verfügbare Fassung von "Teorema" (OF) verweisen, in der sich die wichtigen Szenen noch einmal anschauen lassen.
Untergebracht ist der Fremde bei dem schüchternen Sohn Pietro, der sich schnell für den nackten Körper des Fremden interessiert (14:30-18:15 Min.). Später schauen sie sich gemeinsam einen Kunstband über den schwulen Künstler Francis Bacon an, wobei Pietro schüchtern seine Hand auf die Schulter des Fremden legt (23:35-24:50 Min.). Als der Vater Paolo krank wird, kommt der Fremde in sein Schlafzimmer, zieht ihm die Bettdecke zurück und legt Paolos Füße auf seine Schultern. Diese Geste dient vordergründig der Stabilisierung von Paolos Kreislauf, lässt sich aber auch als dezente Andeutung von Analverkehr verstehen (31:00-32:15 Min.).
Später legt sich Paolo mit dem Fremden an ein einsames Flussufer und sagt zu ihm: "Du hast mich verführt, Gott, und ich habe mich verführen lassen" (37:10-38:35 Min.). Pasolinis gleichnamiger Roman, auf dem der Film beruht, ist deutlicher und schildert, wie sich auch der Vater am Flussufer dem Fremden hingibt. Als der Fremde ein Telegramm erhält, dass er die Familie wieder verlassen muss, kommt es mit allen aus der Familie zu einem klärenden Gespräch. Der Sohn: "Das, was mich so sein ließ wie die anderen, ist zerstört. […] Du hast mich verändert, von der natürlichen Ordnung der Dinge weggeführt" (40:35-41:35 Min.).
Obwohl er recht pathetisch ist, halte ich "Teorema" für einen von Pasolinis besten Filmen. Von einem anderen Autor auf queer.de wurde er als sein "bester Film" bezeichnet – mit dem Hinweis, dass dieser Schlüsselfilm "poetisch, mysteriös und tragisch, unbarmherzig, von tiefen Gefühlen durchdrungen und absolut berührend" sei.
"Pasolinis tolldreiste Geschichten" (1972)
Der zufrieden lächelnde Pasolini in seiner Rolle als mittelalterlicher Autor
Mit "Pasolinis tolldreiste Geschichten" (1972, hier online, OF) verfilmte Pasolini acht derb-komische Erotikepisoden – sehr frei nach Geoffrey Chaucers bekannter mittelalterlicher Novellensammlung "Canterbury Tales". Es ist der zweite Teil seiner "Trilogie des Lebens" (nach "Decameron" und vor "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht").
In einer dieser Geschichten werden jeweils zwei Männerpaare heimlich beim Analverkehr beobachtet. Beide Paare werden denunziert. Einer der beiden älteren Männer kann sich freikaufen, während sich der andere als arm erweist und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Trotz der metaphorischen Verwendung eines Apfels, der üblicherweise auf Sünde und Verführung verweist, ist diese Szene typisch für Pasolinis Kirchenkritik (25:00-33:45 Min.).
In der letzten Geschichte visualisiert Pasolini seine Vorstellung von der Hölle, wo ein Mann vom Teufel gefickt wird. Danach gibt es einen Schnitt zum zufrieden lächelnden Pasolini (1:43:35-1:45:10 Min.), der den mittelalterlichen Autor Geoffrey Chaucer verkörpert. In dessen "Canterbury Tales" sucht man die oben genannten Geschichten allerdings vergebens. Pasolini hat frei an Topoi aus mittelalterlicher Literatur und seinen Vorstellungen vom Mittelalter angeknüpft oder sich – wie auch schon Chaucer – wohl vage an Boccaccios "Decamerone" von 1353 orientiert.
Ich teile nur bedingt die Kritik vom filmdienst, wonach Pasolini die Erotikepisoden Chaucers "zu einem leicht konsumierbaren, filmisch wenig anspruchsvollen Kaleidoskop fröhlicher Frivolitäten" zusammengestellt habe. "Von allen Teilen der Trilogie erfüllt dieser am wenigsten den Anspruch, mit den Mitteln des Unterhaltungskinos politische und emanzipatorische Inhalte zu transportieren." In rund vier Monaten – am 2. Juli 2022 – feiert der Film sein 50. Jubiläum, was ein guter Anlass ist, um dann ausführlicher auf ihn einzugehen.
"Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" (1974)
In "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" (1974) wird der Geliebte entsprechend der Vorhersehung getötet
Mit seinem Film "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" (1974) verfilmte Pasolini Teile von "Tausendundeine Nacht" – also der bekannten Sammlung morgenländischer Erzählungen, die zugleich ein Klassiker der Weltliteratur ist. Schon zu Beginn des Films gibt es eine kurze Szene über orientalische Knabenliebe mit unklarem Bezug zur literarischen Grundlage (1. Teil, hier online, 12:00-14:15 Min.). Deutlicher und besser zuzuordnen ist die Homoerotik im späteren Verlauf, als sich der Sohn eines Königs in einer Höhle auf einer einsamen Insel in einen 14-jährigen Knaben verliebt. Wie in Trance ersticht er ihn an seinem 15. Geburtstag, womit sich eine befürchtete Prophezeiung erfüllt (3. Teil, hier online, 19:50-26:25 Min.).
Die literarische Vorlage gibt es mittlerweile in vielen Übersetzungen auch online, wodurch ein Vergleich recht einfach möglich ist: In der Ausgabe "Tausend und eine Nacht: Arabische Erzählungen" (1838, S. 234-237, insb. S. 235-236) findet sich die von Pasolini bearbeitete Vorlage, die Geschichte aus der 58. bis 60. Nacht, in der sich der Ich-Erzähler Prinz Adjib, Sohn des Königs Hassib, in einen hübschen Jüngling verliebt, der später aus Versehen durch ein Messer zu Tode kommt. Im Roman und im Film geht um Vorstellungen von einem gleichgeschlechtlichen Harem mit Jugendlichen und um sexuelle Beziehungen zu einem 14-Jährigen, die als fiktive Schilderungen auch vor ihrem historischen Hintergrund bewertet werden müssen.
"Die 120 Tage von Sodom" (1975)
In "Die 120 Tage von Sodom" (1975) sind – klischeekonträr – auch männliche Täter sexuell passiv
Auch bei dieser Literaturverfilmung geht es um nicht weniger als Weltliteratur. Die Vorlage von Marquis de Sade "Die 120 Tage von Sodom" stammt von 1785. Darin werden ausführlich und detailliert sadistische Sexualpraktiken (die später nach de Sade so benannt wurden) und Missbrauch von Sexsklav*innen beschrieben. Es wurde aufmerksam registriert, dass die sexuellen Übergriffe – im Buch und dadurch auch im Film – in untypischer Form geschlechtsunabhängig von Frauen und Männer an Jungen und Mädchen verübt werden.
Pasolini verlegte die Handlung von "Die 120 Tage von Sodom" (1972, hier online) ins faschistische Italien und arbeitete nur mit volljährigen Darsteller*innen zusammen (im Roman ging es um 12- bis 15-Jährige), versuchte aber ansonsten eine recht werkgetreue Bearbeitung zu erreichen.
Von den vielen Autor*innen, die sich bisher mit dem Film beschäftigt haben, möchte ich nur zwei herausgreifen: Klaus Theweleit empfand den Film als heikel, weil sich damit Zuschauer*innen bestätigt fühlten könnten, die faschistische Gewalt als eine Abart homosexueller Gewalt ansähen. Nach Theweleits Auffassung zeigt Pasolini Sex jedoch allgemein als Mittel der Unterdrückung, der Regisseur wirke daher nur wie ein Dokumentar sexualisierter Perversionen. So unproblematisch sieht das nicht jede*r. Weil die Täter*innen nämlich nicht nur ihre Freude an Gewalt, sondern auch an schönen Hintern haben, kann man auch Reimut Reiche verstehen, für den Pasolini das "ästhetisiert", was er "doch vordergründig entlarven und bekämpfen will". In mehreren europäischen Ländern wurde der Film zum Gegenstand staatlicher Zensur und gerichtlicher Ermittlungen.
Pasolinis Ermordung
In Pasolinis Umfeld war seine Vorliebe für Stricher ein offenes Geheimnis. Von einem dieser Stricher wurde er in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen – am 2. November 1975 – ermordet. Viele der Spuren am Tatort wurden durch unsachgemäße Ermittlungsarbeit vernichtet, und auch einige der kriminalistischen Untersuchungsergebnisse werfen Fragen auf. 1979 wurde der 17-jährige Sexarbeiter Pino Pelosi wegen dieses Mordes zu neun Jahren und sieben Monaten verurteilt. Er gestand die Tat und verbüßte seine Strafe bis 1982. 30 Jahre nach der Tat sagte Pelosi jedoch aus, dass drei weitere Personen, die längst verstorben waren, sich ebenfalls am Mord beteiligt hätten. Er habe die alleinige Schuld auf sich genommen, weil er und seine Familie bedroht worden seien. Es ist bedauerlich, dass ein Hinweis darauf in der Neuauflage der beachtenswerten Biografie von Pasolinis Cousin (Nico Naldini: "Pier Paolo Pasolini", 2012) unterblieb (queer.de).
Zu seinem Tod gab es auch andere Überlegungen: Die Weise, wie Pasolini in Ostia offenbar die Gefahr mit einem Stricher gesucht habe, in der er kurz danach umgekommen sei, bezeichneten u.a. Hubert Fichte und Reimut Reiche als eine Form von Freitod. Auf dem Gedanken von Freitod aufbauend entstand ein Mythos um Pasolini, bei dem davon ausgegangen wurde, dass er seinen Tod selbst habe inszenieren wollen, um sich als ein Opfer der Gesellschaft zu stilisieren, was zumindest gut zu Pasolinis Persönlichkeit passen würde. Ein Mord an gleicher Stelle in Pasolinis nur wenige Jahre zuvor entstandenem Film "Ostia" (1970) heizte diesen Mythos an (s. dazu auch den ZDF-Film "Der sanfte Radikale", 2005, hier online, 3:40-5:50; 34:30 Min.). An dieser "Märtyrerthese" ist jedoch zu kritisieren, dass damit nur Pasolini die Schuld an seinem Tod träfe und er als Opfer damit zum Täter würde.
Was bleibt …
Pier Paolo Pasolini ist eine bis heute faszinierende Persönlichkeit, über die mittlerweile viele Dokumentationen und Bücher erschienen sind. Besonders hervorhebenswert ist die ZDF-Dokumentation "Der sanfte Radikale" (2005, hier online, ab 13:05-16:20 Min.), die auch darauf verweist, wie Pasolinis sexuelles Interesse an teilweise minderjährigen Strichern seinen ersten Roman "Ragazzi di vita" prägte. Anlässlich seines Jubiläums macht die aktuelle "Siegessäule" (2022, März, S. 34-35) auf einige Neuerscheinungen aufmerksam.
Sehr lesenswert ist die schon genannte Biografie seines Cousins Nico Naldini ("Pier Paolo Pasolini", 1991, Neuauflage 2012). In einer Rezension hier auf queer.de wurde Pasolini so charakterisiert: "Er war das Enfant terrible der Literatur- und Filmszene im Nachkriegsitalien. Ein Marxist, ohne Marx gelesen zu haben; religiös, ohne an Gott zu glauben; homosexuell, ohne die Schwulenbewegung zu unterstützen."
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Geistig-emotionales Nahrungsgrundbedürfnis, das selten gestillt wird.
Merci vielmals!