Andreas (65) sitzt in seinem Fernsehsessel und stützt die Beine auf das Fußteil. Neben ihm steht ein bunter Strauß Tulpen, die Blumen lassen schon ein wenig schwer die Köpfe hängen. Die Atmosphäre ist trotzdem entspannt. Die kleine Wohnung im Freiburger Süden ist voll mit Büchern, Kassetten, CDs und anderen Andenken. Andreas wohnt seit 22 Jahren hier, es ist sein Lebensmittelpunkt. Hier schreibt er sein Blog "Endlich" über sein Sterben.
Er wächst in Düsseldorf auf, gutbürgerlich und behütet. Als Kind geht er mit dem Vater oft ins Museum und malt dann die Bilder nach. Nach der Schule beginnt er seinen Eltern zuliebe ein Studium der Wirtschaftswissenschaften. Er merkt aber schnell, dass das nicht sein Ding ist, bricht ab und studiert Grafikdesign. Für den Zivildienst zieht es ihn dann nach Freiburg. Dort angekommen outet er sich schnell und lässt erstmal nichts anbrennen, wie er sagt. Dabei war er eigentlich immer eher der zurückhaltende, schüchterne Typ.
Auch heute wirkt er sehr ruhig und besonnen. Immer wieder schaut er beim Nachdenken länger aus dem Fenster. Vor ein paar Tagen hat Andreas sich den Arm gebrochen. Kurz vor unserem Gespräch erhält er die Nachricht, dass die Heilung nicht so läuft, wie sie sollte. Er hat Knochenmarkkrebs, Brüche sind nichts Ungewöhnliches für ihn. In seinem Blog macht er dazu sogar Scherze: Dann müsse er jetzt halt auf die Anmeldung zur nächsten Olympiade verzichten.
Hat das Thema Sterben früher schon eine Rolle für dich gespielt?
Ja, das hat mich irgendwie schon immer fasziniert. Als wir bei der Freiburger Aidshilfe in den 1980ern angefangen haben, Krankenbegleitung auf der Aidsstation zu machen, wusste ich, da möchte ich mitarbeiten. Dort musste ich mich zwangsläufig mit dem Tod auseinandersetzen.
Die meisten Menschen verdrängen den Tod eher. Hast du eine Erklärung für dein Interesse?
Vielleicht, weil es ein Tabu war? Ich dachte wegen des Paragrafen 175 und der damaligen gesellschaftlichen Situation lange, dass Schwulsein bedeutet, kriminell zu sein. Und Aids war damals ja auch ein Tabu. Mir war aber wichtig, dass todgeweihte Menschen nicht allein sind. Und damals gab es ja noch keine Medikamente.
Wie kam es zu deiner Krebsdiagnose?
Ich hatte über eine Kontaktanzeige eine Frau kennengelernt, die einen Wanderfreund gesucht hatte. Da habe ich meine Liebe fürs Wandern entdeckt. Wir waren oft gemeinsam unterwegs. Bei einer Wanderung im Schwarzwald im Jahr 2011 fiel mir dann auf, dass ich bei einer leichten Ansteigung schnell aus der Puste geriet und Schmerzen in der Brust spürte. Ich bin dann zu meinem Hausarzt, der hat erst eine Rippenfellentzündung diagnostiziert. Da die Schmerzen trotz der Medikamente nicht besser wurden, gab es weitere Untersuchungen. Und dann stand fest: Multiples Myelom. Knochenmarkkrebs. Das war für mich ein Schock!
Wie bist du damit umgegangen?
Ich habe dann nach Selbsthilfegruppen gesucht und habe mit einem Menschen von der Lymphomselbsthilfe gesprochen. Das weiß ich noch wie heute, er hat immer flehentlich gesagt: Beruhige dich, das ist kein Todesurteil! Das war damals ein großer Trost für mich. Ich habe mich dann sehr vertrauensvoll in ärztliche Behandlung gegeben. Dann folgten erstmal Chemotherapie, Stammzellentransplantation und Reha.
Das klingt sehr langwierig. Wurde es dadurch besser?
Ich hatte nach dem Klinikaufenthalt sehr abgebaut, als ich wieder allein zuhause war. Ich konnte kaum ein Bein vor das andere setzen. Bis ich wieder zu Kräften kam, hat eine ganze Weile gedauert. Nach einem Jahr war dann aber die große Enttäuschung für mich, dass der Krebs sich wieder zurückgemeldet hatte. Das heißt, er war wohl nie ganz weg. Ich bin seitdem zwei-, dreimal die Woche zu meinem Onkologen in die Praxis zur ambulanten Therapie. Manches davon habe ich gut vertragen, manches weniger. Aber ich hatte einen sehr verständnisvollen Arzt, die Praxis war schon fast ein wenig Heimat für mich. Ein Fixpunkt in meinem Leben.
Trotzdem wolltest du die Therapie dann beenden.
Es gab in den zehn Jahren immer wieder Momente, in denen ich mich immer wieder gefragt habe, ob ich die Therapie noch weitermachen soll. Das waren sowohl psychisch als auch körperlich immer richtige Tiefpunkte. Einmal, vor sieben Jahren, war ich zu Beginn des Jahres davon überzeugt, ich überlebe das Jahr nicht. Da hatte ich mich schon im Hospiz vorgestellt.
2020 ging mein Onkologe in Rente, bei seinem Nachfolger war dieses vertraute Gefühl der Geborgenheit nicht mehr da. Corona kam dann aber auch noch erschwerend hinzu. Ich habe mich damals immer wieder gefragt: warum mache ich das überhaupt? Mit der Zeit wurde der Gedanke immer stärker, aufzuhören – trotz der Risiken. Ich hätte die Therapie ja auch wieder weitermachen können. Aber der Drang kam nie.
Andreas auf seinem Balkon (Bild: Lars Lindauer)
Wieso hast du dann ein Blog angefangen?
Das war auch an einem Tiefpunkt. Im Abstand von zwei Tagen lag ich abends im Bett und habe mich einfach unbehaust in meinem eigenen Körper gefühlt. Das waren keine direkten Schmerzen, sondern einfach ein Gefühl wie "Ich gehöre nicht mehr in meinen Körper". Das ging mir wirklich durch Mark und Bein: Du wirst sterben. Und nicht irgendwann, sondern dieses Jahr vermutlich. Ich habe mich mein Leben lang mit Abschieden schwergetan. Das geht vielleicht vielen so. Aber ich habe es oft nicht nur mir selbst nicht gestattet, Abschied zu nehmen, sondern auch anderen nicht. Das Blog und die Geschichten und Gedanken aus meinem Leben bieten jetzt die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Ich kann ja nicht mehr zurück, dieser Abschied jetzt wird für immer sein. Und das ist jetzt vielleicht ein trauriger Anlass, aber wir leben noch, ich lebe, man kann mit mir reden und mich anfassen. Es ist faszinierend, dass es durch das Blog nun wirklich zu Begegnungen und Wiedersehen kommt.
Kann man sich auf den Tod vorbereiten?
Jeder weiß, dass er sterben wird, aber die wenigsten wollen es wahrhaben und leben dahin, als wenn das Leben ewig wäre. Aber wenn der Tod dann doch näherkommt, nimmt man vieles nicht so wichtig und verliert Ängste. Wie albern, sich darüber Gedanken zu machen, was andere über einen denken! Ich kann eigentlich nichts mehr falsch machen. Es geht darum, offen zu sein, für das, was gerade geschehen möchte. Angst spielt bei mir eigentlich kaum eine Rolle.
Bist du traurig?
Immer wieder mal. Neulich erst war ich mit meinem Exfreund und meiner Schwester spazieren. Wir hatten eine fantastische Fernsicht über den Schwarzwald, die Vogesen-Kappen hatten schneebedeckte Gipfel. Da standen mir die Tränen in den Augen und ich dachte: Mensch, ich will hier noch nicht weg. Das gibt es immer wieder.
Mit welchem Gefühl gehst du an die nächste Zeit?
Ich möchte offen sein für das, was mich erwartet. Ich habe Pläne und Verabredungen. Und Besuch, bis in den März hinein.
Was ist deine Botschaft für deine Leser*innen?
Vielleicht, dass es nicht schaden kann, sich damit zu beschäftigen, was uns allen bevorsteht. Es muss aber jeder selbst schauen, auf welche Art und Weise ihm oder ihr das möglich ist. Aber ich würde sagen, sich nur Sonntagabends beim "Tatort" mit dem Tod zu beschäftigen, das ist irgendwie zu wenig.
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Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich hoffe, Sie können Ihre Zeit noch halbwegs glücklich verbringen und sich auch an die guten Zeiten erinnern.
Das zeigt wieder mal, dass man seine Zeit nutzen sollte und jeden Tag seines Lebens voll genießen und auskosten sollte.
Eine Sache sehe ich übrigens anders als Sie:
Man sollte sich nicht unbedingt früher als nötig mit dem Thema Tod beschäftigen. Klar wissen wir alle, dass wir nicht ewig leben. Aber ich finde es gut, dass das so lange wie möglich kein Thema ist, damit man das Leben genießen kann und nicht irgendwann deprimiert darüber wird.
Das Thema kommt schon früh genug ins Leben, z.B. wenn die enge Angehörige oder Freunde sterben. Und als jemand, der selbst mal etwas hatte, woran man auch hätte sterben können, weiß ich, wie sehr so ein Ereignis das Leben verändert und man dann psychisch damit klarkommen muss.
Aber dennoch will ich nicht daran denken und jeden Tag ganz frei und unbeschwert auskosten.
Aber da muss sicher jeder seinen eigenen Weg gehen.
Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Kraft und Stärke. Und dass Sie noch schöne Momente haben und auch an die guten Zeiten denken.