Vor einem Jahr veröffentlichte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs eine Vorstudie zu den Verbindungen zwischen Homosexuellen- und Pädosexuellenbewegung unter dem Titel "Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – eine Recherche".
Birgit Bosold ist seit 2006 Mitglied des Vorstands des Schwulen Museums in Berlin, das 2019 aus seinem Archiv 38 Kisten mit teilweise strafbarem Material an die Polizei übergab (queer.de berichtete). Matthias Katsch ist unter anderem Aktivist für die Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs durch Angehörige der katholischen Kirche und Mitbegründer der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch".
Im ersten Teil des Interviews diskutieren die beiden die Ergebnisse der Studie und blicken auch persönlich auf eine Zeit zurück, in der die queere Bewegung pädosexuelle Aktivist*innen und Täter*innen unter sich duldete und sich teilweise sogar ihren politischen Zielen anschloss. Es geht um die Verantwortung des Schwulen Museums und die Anfälligkeit des Linksliberalismus.
queer.de: Im Begleitband einer 1994 vom Schwulen Museum gezeigten Sonderausstellung zum NS-Verfolgten und Pädosexuellen Heinz Dörmer heißt es im Vorwort: "Sein Triebschicksal, sich vorwiegend in pubertierende Jünglinge zu verlieben, hat ihn quer durch die wechselnden deutschen Systeme ins Unrecht gesetzt." 1994 war ich sechs Jahre alt. Wie kann man meiner Generation diese Seite queerer Geschichte erklären?
Bosold: Dörmer ist ein Fall, der die schwierige Komplexität des Themas sehr gut deutlich macht. Er war Verfolgter des Nationalsozialismus und in verschiedenen Konzentrationslagern interniert, unter anderem in dem berüchtigten "wilden" Konzentrationslager im Columbia-Haus am nördlichen Rand des Tempelhofer Feldes. Er wurde wegen Paragraf 175 und 175a verurteilt, also nach dem von den Nazis verschärften Gesetz, das "unzüchtige" Handlungen mit Minderjährigen, damals unter 21 Jahren, besonders hart bestrafte. Außerdem wegen des Paragrafen 174, der sexuelle Beziehungen zu "Schutzbefohlenen" sanktionierte.
Das betraf seine Beziehungen zu Jungen aus den von ihm geleiteten Pfadfinder-Gruppen. Auch in der Bundesrepublik wurde er dann mehrfach wegen derselben Paragrafen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Schwule und Pädosexuelle teilen, das wird hier deutlich, sowohl das Schicksal der Verfolgung im Nationalsozialismus wie auch die von der Bundesrepublik weitergeführte Kriminalisierung. Vor diesem Hintergrund ist natürlich auch die Allianz der Schwulenbewegung mit den "Pädos" zu sehen.
Irritierend ist für mich in Bezug auf die Sonderausstellung nicht, dass Dörmer damit als NS-Vefolgter gewürdigt wurde, sondern dass seine auch von ihm selbst offen vertretene sexuelle Präferenz für "Jungs", bei denen immer eher vage gehalten wurde, wie alt sie nun genau waren, nicht kritisch beleuchtet wurde.
Katsch: An diesem Beispiel wird deutlich, dass es eine lange Tradition gibt, männliche Homosexualität und "Kindesmissbrauch" in der Wahrnehmung zusammenzuführen. Deshalb gelang die endgültige Abschaffung des Paragrafen 175 auch erst 1994. Die Idee war weit verbreitetet, man müsse männliche Jugendliche und Heranwachsende vor einer "Infizierung" mit Homosexualität schützen. Diese Vorstellung wurde seit dem Kaiserreich bis in die Bundesrepublik als Legitimation für die Verfolgung homosexueller Männer herangezogen.
Offenbar haben auch viele Schwule das nicht hinterfragt. Dass diese Ausstellung 1994 noch so stattgefunden hat, zeigt, dass in der Schwulenbewegung viel zu lange keine Abgrenzung vorgenommen wurde zwischen der Liebe gleichberechtigter Partner und sexuellen Übergriffen auf Kinder und Jugendliche.
Bosold: 1957 haben zwei Männer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Paragrafen 175 geklagt, unter anderem, weil sie darin die verfassungsrechtlich garantierte Gleichberechtigung von Männern und Frauen verletzt sahen, weil der Paragraf ja nur gleichgeschlechtliche sexuelle Interaktionen zwischen Männern sanktionierte, während homosexuelle Beziehungen zwischen Frauen straffrei waren beziehungsweise gar nicht erwähnt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klage abgewiesen und das unter anderem mit dieser Verführungstheorie, die sich auch nur auf männliche Jugendliche bezog, begründet.
Diese Vorstellungen haben also politisch lange eine große Rolle gespielt und auch dazu geführt, dass nach der Liberalisierung von 1969 bis zur Abschaffung 1994 noch gesonderte Schutzaltersgrenzen galten. Während diese in heterosexuellen Beziehungen bei 14 Jahren lag, galt für Schwule zunächst die Altersgrenze von 21 und dann von 18 Jahren.
Katsch: Dieses In-eins-Setzen von Homosexualität und Pädosexualität hat eine lange Tradition in der Kulturgeschichte, etwa in der Rezeption des antiken Griechenlands durch Johann Winckelmann. Das angebliche griechische Vorbild der Päderastie diente zur Rechtfertigung der Homosexualität. In der Kunst seit der Renaissance wurde häufig die aus den Texten herausgelesene Beziehung eines älteren Mannes mit einem heranwachsenden Jungen als Bild für männliche Homosexualität dargestellt. In romanischen Sprachen hat sich diese Nähe von Homosexualität mit Pädosexualität begrifflich erhalten. Schwule werden als "Pädos" bezeichnet.
Es hat lange gedauert, bis die moderne Schwulenbewegung sich davon abgegrenzt hat, auch von dem falschen Vorbild der Antike. Da werden aus unserer heutigen Sicht eben keine gleichberechtigte Beziehungen geschildert, sondern die institutionalisierte Ausnutzung der Abhängigkeit von Schutzbefohlenen durch mächtige, reiche Männer. So sehr der Wunsch nach Identifikation mit dem erhabenen klassischen Vorbild nachvollziehbar erscheint, wenn man die Verfolgungssituation der Homosexuellen betrachtet, so sehr muss uns das heute erschrecken, dass es kein Erkennen der Not der Jungen gab.
Bosold: Nochmal zurück zur Ausstellung über Dörmer: Die Schau ist auch ein gutes Beispiel für die breite Billigung der Haltung des Schwulen Museums. Sie wurde finanziell vom Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen des Berliner Senats und dem Kulturrat Kreuzberg unterstützt. Micha Schulze lobte das Museum in der "taz" für "seinen mutigen Schritt, inmitten einer hysterischen Debatte, in der Pädophilie und Kindesmissbrauch auch in der Schwulenszene gleichgesetzt werden, ausgerechnet die Biographie eines Knabenfreundes herauszustellen" (Micha Schulze: Meine falsche Solidarität mit den Pädos).
Man muss dazu wissen, dass zeitgleich eine von der Publizistin Katharina Rutschky und dem Hochschullehrer Reinhart lancierte Kampagne gegen den angeblichen "Missbrauch des Missbrauchs" lief, die versuchte, den feministischen Aktivismus gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu diskreditieren.
Katsch: Das Narrativ vom "Missbrauch mit dem Missbrauch" kommt ja eigentlich aus den USA, wo seit Mitte der 80er Jahre in kirchlichen Institutionen zahlreiche Fälle aufgedeckt worden waren. Das war quasi die Gegenwehr, um sich ein wenig Luft zu verschaffen, auch, was die Frage von Entschädigungszahlungen anging.
Bosold: Es ist sehr interessant, dass dieses Narrativ hierzulande eben nicht von den Kirchen adaptiert wurde, sondern von eher linksliberalen Kreisen wie Rutschky und Reinhart.
Birgit Bosold, noch 2015 oder 2016 kam es zur Übergabe eines Vorlasses an das Schwule Museum, zu dem handschriftlich vermerkt war, dass es hunderte Bilder von Jungen, insbesondere aus Südostasien, enthalte. Muss sich das Museum einen falschen Umgang mit überlassenen Unterlagen vorwerfen lassen?
Bosold: Bei der Annahme des Bestands haben wir uns auf ein anwaltliches Gutachten gestützt, das dem vor 2015 geltenden Recht entsprach, nicht aber der Regelung nach 2015, die ja die Definition von sogenannten "kinderpornographischen" Schriften verschärfte sowie nicht mehr nur die Verbreitung, sondern auch den Besitz solcher Materialien unter Strafe stellte. Das Material wurde angenommen und dann nicht weiter bearbeitet.
Man kann uns natürlich den Vorwurf machen, dass wir diese Bestände nach der Gesetzesänderung nicht noch einmal durchgesehen haben. Als klar wurde, dass es sich um mutmaßlich strafrechtlich relevantes Material handelt, haben wir sofort reagiert und es der Polizei übergeben.
Katsch: Es bleibt jedoch noch die Tatsache, dass der Nachlassgeber und das Umfeld, aus dem heraus dieser Nachlass beziehungsweise Vorlass stammt, dabei gar kein Unrechtsbewusstsein hatten. Und das gehört mit zu dem Komplex, der aufgeklärt gehört. Im Selbstverständnis waren all diese Gruppen Teil der Liberalisierungs- und Befreiungserfahrung seit den 70er Jahren. Nehmen wir nur mal den Bereich Sextourismus in Südostasien, der damals ganz selbstverständlich als so eine Art Lifestyle angepriesen und dargestellt wurde.
Da gab es eine gewisse, heute würde man sagen, Täterzentrierung beziehungsweise eine Opfervergessenheit. Letztere spielten in dem Zusammenhang einfach keine Rolle, und das verändert sich seit der Arbeit der feministischen Frauenbewegung und der Beratungsszene seit den 70er Jahren in Deutschland erst sehr langsam. Seitdem sind die ja bei den Opfern sexualisierter Gewalt, haben ihnen eine Stimme gegeben, ihnen Platz gegeben, sie beraten und unterstützt. 2010, der sogenannte Missbrauchsskandal in den Kirchen und Bildungseinrichtungen auch der Reformpädagogik, hat das noch einmal deutlich verstärkt. Aber das ist alles sehr zäh und sehr langwierig, und es ist bis heute nicht selbstverständlich, dass man die Opferperspektive wirklich einnimmt.
Bosold: Im Unterschied zu staatlichen Archiven, machen wir uns strafbar, wenn wir solche Materialien – im Wesentlichen sind das Fotografien – besitzen. Das Archiv der Odenwaldschule zum Beispiel ist heute im Hessischen Staatsarchiv und damit für die Wissenschaft zugänglich. Dass wir diese Bestände an die Polizei übergeben haben, führt auch zu einer Art Dialektik der Aufarbeitung: Es ist einerseits ein wichtiges Signal, dass wir nicht weiter sozusagen ein sicherer Hafen für diese Vermächtnisse sind, aber andererseits bedeutet das auch, dass sie in Zukunft eben auch nicht mehr bei uns im Archiv landen.
Sie verschwinden in Privatkellern oder werden vernichtet, jedenfalls sind sie nicht mehr zugänglich und für den Prozess der Aufarbeitung verloren. Für die Forschung sind aber diese Materialien – auch gewaltvolle Fotografien – unter Umständen wichtig. Und es betrifft ja auch diejenigen Materialien von pädosexuellen Protagonisten und Organisationen, die nicht strafrechtlich relevant sind und die wir also ja besitzen dürften, also zum Beispiel schriftliche Dokumente, Flugblätter und so weiter.
Katsch: Da wäre es auch interessant, herauszufinden, was Staatsanwaltschaften eigentlich mit solchen Materialien machen, wenn ihre Verfahren abgeschlossen sind. Wenn ich untersuchen will, wie sich der Blick, die Wahrnehmung verändert hat, brauche ich das Material. Ein Bildersturm, der alles zerstört, was produziert wurde und wir heute als gewalttätig wahrnehmen, würde uns die Möglichkeit rauben, zu verstehen, warum und wie es gesehen wurde.
Letztlich bleibt aber noch die Frage, da es sich um reale Menschen handelt, die abgebildet wurden, wie es mit den Persönlichkeitsrechten dieser Menschen aussieht. Wir leben ja in einer Welle der digitalisierten, reproduzierten Missbrauchsdarstellungen, die fälschlicherweise mit dem Begriff "Kinderpornografie" belegt werden. Wer behauptet, er hätte da ein klares Konzept, wie es einerseits gelingt, Persönlichkeitsrechte durchzusetzen, aber andererseits nicht in Zensur zu verfallen und unser digitales Gedächtnis als Gesellschaft zu bewahren, auch mit seinen Schrecken – da wäre ich jedenfalls gespannt.
Es wird sicher noch anstrengend, das zu diskutieren. Aber: Mir ist es wichtig, dass der Diskurs dahingehend verschoben wird, dass die Betroffenen ins Zentrum der Debatte gerückt werden.
Zeitschriften wie "Pikbube" in den 70er Jahren traten konservativ und staatstragend auf. Warum war es aber schließlich die politische Linke, die so anfällig für die Narrative Pädosexueller und für ihre Bemühungen um Legalisierung wurde, nicht die politische Rechte?
Katsch: Man hat, auch wenn man die Ziele der Pädosexuellenbewegung nicht geteilt hat, fälschlicherweise den Freiheits- und Emanzipationsdiskurs einfach auf die Gruppen übertragen, ohne das weiter zu hinterfragen. Ich erinnere mich an die Kommunalwahl 1987 in München. Da trat eine Rosa Liste an. Als junger, schwuler Student habe ich mir da bei einer Wahlkampfveranstaltung die Statements von Vertretern der Pädosexuellenbewegung peinlich berührt angehört.
Man wollte nichts zu tun haben mit diesen Forderungen, es hat aber auch niemand gesagt: "Nein, das machen wir nicht", weil dann der Reflex war: Naja, jetzt sind gerade wir ein paar Jahre von strafrechtlicher Verfolgung befreit, da wollen wir nicht selber diejenigen sein, die andere wieder ausgrenzen. Das war die falsche Gleichsetzung. Es geht also darum, auch die eigene Wahrnehmung in der Vergangenheit zu überprüfen. Das war nicht nur die böse Gesellschaft da draußen, das hatten schwule Männer auch internalisiert und gar nicht weiter hinterfragt.
Bosold: Man muss dazu sagen, dass es einen breiten Konsens in der linksalternativen Szene dazu gab. Schwulenpolitische Gruppen waren sicherlich wichtige Akteure, um die Forderungen der "Pädos" in diesen Milieus salonfähig zu machen. Und pädosexuelle Aktivisten haben die Schwulenbewegung auch dafür genutzt. Aber die Grünen haben am Ende deren Forderungen in ihre Programme übernommen.
Ein bekannter pädosexueller Aktivist, Olaf Stüben, war lange Mitarbeiter der "taz". Ein anderes Beispiel ist der Psychologe, Sexualwissenschaftler und Hochschullehrer an der Universität Hannover, Helmut Kentler, der Ende der 60er Jahre mit Wissen und Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung im Rahmen eines "pädagogischen Experiments" obdachlose Jugendliche bei pädosexuellen, zum Teil vorbestraften Männern untergebracht hat oder auch der Jurist und Soziologe Rüdiger Lautmann, dessen 1994 publizierte und heute umstrittene Studie "Die Lust am Kind" von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde.
Die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädosexualität entstand 1979, brach jedoch schon 1983 entzwei. Was war die Konfliktlinie?
Bosold: In der Studie, auf deren Grundlage wir ja hier reden, findet sich der Hinweis, dass die Gruppe aufgrund persönlicher Differenzen und an der Frage der Ausrichtung zerbrochen sei. Die einen wollten Fundamentalopposition, die anderen eine wissenschaftliche Legitimierung ihrer sexuellen Präferenz. Allerdings gründete sich nach der Auflösung der D.S.A.P. als Nachfolgegruppe die Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität, AHS, die bis heute existiert oder zumindest eine Webseite betreibt.
Auch in der Berliner AHA, der Allgemeinen Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft, gab es eine AG Pädophilie, die auch Teil der TBS, des Treffens Berliner Schwulengruppen, war. Gute Verbindungen der pädosexuellen Gruppen gab es auch zur Humanistischen Union. Die Studie zeigt, wie gut verdrahtet diese Gruppen in den schwulenpolitischen Netzwerken noch bis in die 1990er Jahre waren.
Katsch: In Berlin gab es auch Widerstände, etwa aus der feministischen Bewegung, gegen die Blindheit vor dem offensichtlichen Kindesmissbrauch, der von diesen Aktivisten betrieben worden ist. Eine ganze Zeit lang hat es jedoch prima funktioniert, die schwule Emanzipationsbewegung als Vehikel zu benutzen, die eigenen Interessen zu befördern. Das kam, denke ich, irgendwann immer mehr an seine Grenzen.
Der zweite Teil des Interviews folgt am kommenden Wochenende. Darin: Die Instrumentalisierung des Kinderrechtsdiskurs, die Glorifizierung des Tourismus zur Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, weibliche Pädosexualität und die mangelnde Abgrenzung der Schwulenszene zur Kinder- und Jugendprostitution.
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