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Katholische Kirche
Missbrauch und Homophobie sind Hauptgründe für Kirchenaustritt
Der Umgang mit queeren Menschen ist laut einer neuen Studie für viele ausgetretene Katholik*innen ein Hauptanlass gewesen, die Kirche zu verlassen. Das bedroht ausgerechnet den Reformprozess.
- Von Michael Louis
15. März 2022, 04:05h 5 Min.
Erst im vergangenen Jahr ließ die Glaubenskongregation in Rom mitteilen, dass Segnungen homosexueller Paare nach katholischer Lehre nach wie vor nicht erlaubt seien (queer.de berichtete). Sie stellte klar: Die homosexuelle Neigung sei aus katholischer Sicht noch keine Sünde, weil diese nicht selbst gewählt sei. Die "praktizierte" Homosexualität jedoch stelle nach katholischer Lehrmeinung eine schwere Sünde, da sie nicht der Reproduktion diene. Man solle als Katholik*in Homosexuellen mit "Achtung, Mitleid und Takt" begegnen. Von anderen queeren Gruppen ist dort noch gar nicht die Rede. An dieser kirchlichen Lehrmeinung hat auch Papst Franziskus, trotz einiger liberal klingender Äußerungen, bisher nichts verändert.
Als Reaktion auf die Mitteilung der Glaubenskongregation geschah in Deutschland bis dahin Undenkbares: Geistliche segneten in der Aktion #liebegewinnt viele gleichgeschlechtliche Paare. Im Januar 2022 startete die Aktion #OutInChurch, in der sich queere kirchliche Angestellte outeten (queer.de berichtete). Der deutsche Reformprozess "Synodaler Weg" hat im Februar dieses Jahres eine Neubewertung der Homosexualität innerhalb der Lehre der Kirche gefordert. So solle die Kirche homosexuelle Handlungen nicht länger als schwere Sünde betrachten und schwule Männer zum Priesterberuf zulassen (queer.de berichtete).
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, stellte in der letzten Woche eine Änderung des Arbeitsrechts in Aussicht, wonach etwa eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft von Angestellten kein Problem mehr für eine Anstellung oder gar ein Kündigungsgrund sein solle (queer.de berichtete). Zuletzt bat Kardinal Marx queere Menschen um Verzeihung für den Umgang mit ihnen innerhalb der Kirche (queer.de berichtete).
Die Austrittszahlen gehen in die Höhe
Derweil vollzieht sich jedoch an der Basis eine dramatische Entwicklung. Während der "Synodale Weg" versucht, Reformen auf den Weg zu bringen, gehen die Austrittszahlen immer weiter in die Höhe. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht, in der aus beiden großen Kirchen ausgetretene Menschen nach ihren Motiven für diesen Schritt gefragt wurden. Auch wenn die Austrittswellen rund um die Missbrauchsskandale in Köln und München dabei noch gar nicht erfasst sind, sprechen bereits diese Ergebnisse eine deutliche Sprache.
Wenig überraschend waren für viele aus der katholischen Kirche ausgetretene Menschen die Missbrauchsskandale der wichtigste Austrittsanlass. Doch danach folgt direkt die "Ablehnung von Homosexuellen in der Kirche" – vor allen anderen Anlässen und weit vor der Ablehnung der Kirchensteuer. Wie die Studienautorin Petra-Angela Ahrens bemerkt, könnte dieser hohe Wert auch auf der kurz vor der Studienerhebung von der Glaubenskongregation veröffentlichten Stellungnahme beruhen.

Anlässe zum Kirchenaustritt (Grafik: Sozialwissenschaftliches Institut der EKD )
Damit herrscht unter den Gläubigen offenbar weit mehr liberales Denken vor, als sich über das Bild der katholischen Kirche – stark beeinflusst durch die Äußerungen mancher Bischöfe – in Vergangenheit oft nach außen vermittelt hat. Dies hat jedoch gravierende Folgen für das Innenleben der katholischen Basis: Die Ausgetretenen können die Kirche nicht weiter prägen.
Die "kritische Masse" verlässt die Kirche
Hinzu kommt ein weiteres Problem für die Kirche, auf das Jens Ehebrecht-Zumsande hinweist. Der Gründer der Initiative #OutInChurch und Angestellte in einem katholischen Bistum beschreibt gegenüber queer.de aus vielen Gesprächen, die er geführt hat: "Wir haben bei den jetzt aus der Kirche Austretenden eine Gruppe, die zu dem Kernbereich der engagierten und reformbereiten Katholiken gehörten, und die sich auch jahrelang für Erneuerung engagiert haben." Das Problem sei, dass im Moment die "kritische Masse" die Kirche verlasse. Dies habe auch eine generationenspezifische Dimension. "Die heute jüngeren Katholiken haben nicht mehr so stark die Bereitschaft wie ältere Katholiken, sich an der Institution abzuarbeiten", beschreibt Ehebrecht-Zumsande als Beobachtung aus seiner Arbeit.
Das hänge auch damit zusammen, dass sich für viele der Stellenwert der Institution Kirche verändert habe. Dies geht auch aus den Erkenntnissen der Austrittsstudie hervor. Demnach blieben viele der Ausgetretenen weiterhin religiös und würden ihre religiösen Bedürfnisse privat weiter leben. Vor diesem Hintergrund hat dieser Tage auch die erste kirchenunabhängige Beratungsstelle für Betroffene kirchlichen Missbrauchs eröffnet. Sie wird getragen von der Initiative "Um-Steuern", die bei ausgetretenen Christen dafür wirbt, den Betrag ihrer bisher gezahlten Kirchensteuer nun für dieses Projekt aufzubringen.
Hinsichtlich der innerkirchlichen Reformbemühungen scheint alles immer mehr auf eine Art Kipppunkt zuzusteuern. So befürchtet auch Ehebrecht-Zumsande mit Blick auf den "Synodalen Weg", dass es eine massive Austrittswelle zur Folge haben würde, wenn diese Ergebnisse letztlich nicht umgesetzt würden. "Wir haben einen Punkt erreicht, wo Leute sich nicht mehr mit kleinen Symbolhandlungen abspeisen lassen", bemerkt der Mitinitiator von #OutInChurch.
Die Progressiven verlieren die Geduld
So zeigt sich in der katholischen Kirche derzeit eine brisante Parallelentwicklung. Während die Sensibilität für liberale und auch spezifisch queere Themen unter den Gläubigen immer weiter wächst und im Reformprozess Gestalt annimmt, verlieren die verbliebenen Akteure durch die massiven Austritte kontinuierlich an Unterstützer*innen. Da sozialstrukturelle Reformen immer auch Träger*innengruppen benötigten, die diesen Wandel gegen andere Kräfte umsetzen und verteidigen, dürfte durch diese Entwicklung die Arbeit für den "Synodalen Weg" immer schwieriger werden.
In früheren Jahrzehnten schien der Faktor Zeit zugunsten der liberalen Kräfte zu laufen, weil sich die Gesellschaft fortlaufend modernisierte. Nun arbeitet die Zeit offenbar für die Konservativen, weil die Progressiven zunehmend die Geduld verlieren.
Links zum Thema:
» Mehr Infos zur Kirchenaustritts-Studie















