Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Welt und auch die Stimmung in unserer Redaktion verändert. Ich selbst habe mich kurz gefragt, wie wir – business as usual – jetzt über queere Streaming-Serien, fröhliche Eurovision-Liedchen oder homofeindliche Schmierereien in der Provinz berichten können, wo doch mitten in Europa Bomben fallen und Menschen sterben. Wir machen weiter unseren Job, aus gutem Grund, und informieren zusätzlich u.a. ausführlich über die Hilfsangebote für die queeren Opfer der Invasion.
Auch Johannes Kram hat einen neuen QUEERKRAM-Podcast aufgenommen. Seine 32. Folge fällt aus der Reihe, denn sie stellt diesmal keine Person, sondern den russischen Überfall auf die Ukraine, dessen Vorgeschichte und die Folgen in den Mittelpunkt. Mit der ukrainischen Journalistin und Filmemacherin Inga Pylypchuk und dem aus Kasachstan stammenden Aktivisten und Co-Gründer von Quarteera Wanja Kilber hat er dafür zwei hochkompetente Gäste gefunden. Sie sind sehr nah dran am Geschehen und können es doch mit dem Abstand in Deutschland lebender Migrant*innen reflektieren.
Seit drei Wochen nur wenig Schlaf
Seit Kriegsbeginn hat sich das Leben von Inga und Wanja komplett verändert, seit drei Wochen fanden sie nur wenig Schlaf. "Emotional ist es eine Hölle", erzählt die Journalistin, die viele Freund*innen in der Ukraine hat und ihrer eigenen Mutter zur Flucht verhalf. "Ich empfange jeden Tag jemanden in Berlin, und jeden Tag sprechen wir über die Kriegserlebnisse."
Wanja engagiert sich bei der Geflüchteten-Hilfe von Quarteera, vor dem Gespräch war er am Berliner Hauptbahnhof. "Helfen hilft", sagt er gleich mehrfach im Podcast. "Die Hilfsbereitschaft ist enorm, das hilft mir einzuschlafen." Allein durch das Engagement von Quarteera haben laut Wanja bereits 175 Menschen und 18 Haustiere ein temporäres Zuhause gefunden, parallel schicke das Queere Bündnis Nothilfe HIV-Medikamente und Hormonpräparate für trans Menschen, beides mittlerweile Mangelware, in die Ukraine.
Johannes Kram (m.) mit Wanja Kilber (l.) und Inga Pylypchuk vor dem Tonstudio
"Schlimmer als alle Alpträume", nennt Inga die Situation in ihrer früheren Heimat. "Wir hatten das Gefühl, dass sich das Land in die richtige Richtung entwickelt." Die Akzeptanz queerer Menschen sei seit Jahren gestiegen, der Staat habe sich schützend vor LGBTI-Paraden gestellt – ganz anders als in Russland, wo es immer schlimmer geworden sei. Putin habe Queerfeindlichkeit gezielt genutzt, um das Land hinter sich zu vereinen, analysiert Wanja, der schon vor Jahren gegen die "Homo-Propaganda"-Gesetze protestierte.
"Die Deutschen haben den Ernst der Lage nicht verstanden"
Für beide ist Putins Russland heute ein "faschistischer Staat", dem nicht zu trauen sei, der vor nichts zurückschrecke, der mit friedlichen Mitteln nicht gestoppt werden könne. Unterdrückung von LGBTI und der Überfall auf ein Nachbarland sind für Inga und Wanja zwei Seiten einer Medaille. Von EU und Nato fordern sie deshalb mehr Engagement, etwa eine Flugverbotszone. "Die Ukrainer*innen verteidigen auch unsere Freiheit und unsere Werte", mahnt Inga. "Die Deutschen haben den Ernst der Lage nicht verstanden." Er freue sich schon auf Rote-Beete-Partys nach Putins Tod, gibt Wanja einen Hinweis, wie er sich das Ende des Kriegs vorstellt.
Im Podcast geht es ausführlich um die Situation in Mariupol, das für Inga einst "zweite Heimatstadt" war, um angebliche Todeslisten mit den Namen von LGBTI-Aktivist*innen, um queere Kämpfer*innen mit Regenbogenaufkleber auf dem Maschinengewehr und den "doppelten Krieg" queerer Ukrainer*innen, die sich auf der Flucht outen müssen oder als trans Frau das Land gar nicht erst verlassen dürfen, weil im Pass ein Männername steht.
Wie kann man helfen?
Eine der wichtigsten Fragen im Podcast lautet natürlich: Wie kann man helfen? Engagiert euch in den Initiativen und spendet, sagt Wanja (Quarteera, Queere Nothilfe Ukraine, Übersicht von KyivPride). Konkret werden rund 50.000 Euro für die Schaffung einer koordinierenden Vollzeitstelle benötigt, die die vielen ehrenamtlichen Helfer*innen entlasten soll. "Sprecht mit euren Freund*innen darüber, was in der Ukraine geschieht", bittet wiederum Inga. "Tut nicht so, als würde es euch nichts angehen. Das ist ein Krieg gegen uns alle."
Inga hat recht. Auch deshalb setzen wir unsere Berichterstattung auf queer.de unverändert fort. Weil ein Selbstbestimmungsgesetz und Maßnahmen gegen Queerfeindlichkeit in Deutschland nicht plötzlich unwichtig geworden sind. Weil wir gerade jetzt ein wenig Ablenkung gebrauchen können auf Netflix und Co. Weil unsere Themen für die Freiheit, Vielfalt und Lebenslust stehen, die Putin bekämpft.
Zu Gast bei QUEERKRAM
Folge 1 mit Falk Richter und Jonas Dassler:
Warum sich Schauspieler outen sollten
Folge 2 mit Anastasia Biefang:
Warum das Transsexuellengesetz auf den "Müllhaufen der Geschichte" gehört
Folge 3 mit Ralf König:
Warum Ralf König genug vom "Gezicke in sozialen Medien" hat
Folge 4 mit Stephanie Kuhnen und Juliane Löffler:
Wie viel kreatives Potenzial steckt in der Corona-Krise?
Folge 4 mit Georg Uecker:
Warum gibt es so viel Häme auch in der Community?
Folge 6 mit Ines Pohl:
Outest du dich im Interview mit Homohassern, Ines Pohl?
Folge 7 mit Patrick Lindner:
Warum Patrick Lindner auf dem CSD singen muss!
Folge 8 mit Pierre Sanoussi-Bliss:
"Dass mein Leben auch zählt, müssen mir Weiße nicht sagen"
Folge 9 mit Annie Heger:
"Ich werde als Christin von der LGBT-Community mehr angefeindet als andersrum"
Folge 10 mit Aminata Touré und Tessa Ganserer:
"Zwischen Queerfeindlichkeit und Rassismus gibt es Parallelen"
Folge 11 mit Riccardo Simonetti:
Warum wir auf unser "Anderssein" stolz sein können!
Folge 12 mit Sookee:
"Eine rassistisch agierende Community kann sich erneuern"
Folge 13 mit Linus Giese:
"Trans Menschen müssen nicht ihre Existenz erklären"
Folge 14 mit Kevin Kühnert:
Warum schweigt die Politik zum Mord in Dresden, Kevin Kühnert?
Folge 15 mit Manuela Kay:
"Die Berliner Szene kann die Pest sein"
Folge 16 mit Kristina Marlen:
"So offen hat sich die Fratze der heteronormativen Ordnung selten gezeigt"
Folge 17 mit Klaus Lederer:
Klaus Lederer: Wie er Wowereit mit "sanftem Druck" zur Gleichstellung drängte
Folge 18 mit Karin Hanczewski und Godehard Giese:
3 Wochen #ActOut: Karin Hanczewski und Godehard Giese ziehen Bilanz
Folge 19 mit Julian F. M. Stoeckel:
"Wir durften bei RTL so sein, wie wir sind"
Folge 20 mit Jens Brandenburg:
"Auch die Grünen könnten noch LGBT-freundlicher werden"
Folge 21 mit Sigrid Grajek:
"Die Revolutionäre von gestern sind die Konservativen von heute"
Folge 22 mit Benjamin Gutsche und Nataly Kudiabor:
"All you need": Warum spielen vier Heteros die Hauptrollen?
Folge 23 mit Seyran Ateş:
Wie gelingt die sexuelle Revolution des Islam, Seyran Ateş?
Folge 24 mit Jochen Schropp:
"Ich bin ein Mensch mit Haltung und will gewisse Sachen im Fernsehen nicht sehen"
Folge 25 mit Kerstin Polte:
"Scheiß auf diese ganzen binären Quatschsysteme"
Folge 26 mit Daniel Schreiber:
Wieviel "queere Scham" steckt in uns, Daniel Schreiber?
Folge 27 mit Micha Schulze:
"Wir haben auch Texte geschrieben, die heute unglaublich peinlich sind"
Folge 28 mit Julia von Heinz und Sabine Steyer-Violet:
Lesbische Weihnachten im Ersten
Folge 29 mit Bettina Böttinger:
Wie laut sollten wir streiten, Bettina Böttinger?
Folge 30 mit Jurassica Parka:
Wie bleibt die Drag-Kultur subversiv, Jurassica Parka?
Folge 31 mit Sven Lehmann und Arndt Klocke:
"Wir haben auch ein Privatleben, und das ist gut so"