1 Kommentar
- 23.03.2022, 15:43h
- Ich fand diese Doku wirklich gelungen und sehr interessant!
- Antworten » | Direktlink »
Die gelungene Miniserie "The Andy Warhol Diaries" interviewt spannende Weggefährt*innen, bietet toll kuratiertes Archivmaterial und lässt den Künstler dank KI-Technik selbst aus seinen Tagebüchern lesen.
Ganz gleich, was man von seiner Kunst hält: Niemand wird bestreiten, dass Andy Warhol neben Picasso der bekannteste Künstler des 20. Jahrhunderts gewesen ist und als solcher bis heute nachwirkt wie kaum ein anderer. Und an keinem wurde sich medial so abgearbeitet wie an ihm, in Büchern genauso wie in Dokumentationen.
Selbst in Spielfilmen und Serien taucht er bekanntlich immer wieder als Figur auf, von "I Shot Andy Warhol" über "Basquiat" und "Factory Girl" bis hin zur Serie "Vinyl". Erst im vergangenen Jahr waren Warhol und das New York der 1960er Jahre, in dem seine Karriere zu florieren begann, entscheidender Bestandteil etwa in Todd Haynes' Dokumentarfilm "The Velvet Underground". Weswegen die Frage natürlich naheliegt, ob es tatsächlich noch eine weitere, sogar sechsteilige Doku-Reihe über ihn braucht.
Die Antwort darauf ist im Fall von "The Andy Warhol Diaries", seit kurzem bei Netflix verfügbar, wie so häufig eine zweigeteilte. Die Warhol-Forschung grundlegend auf den Kopf stellen tut diese Serie, inszeniert von Andrew Rossi und produziert unter anderem von Ryan Murphy, sicherlich nicht. Aber sehenswert und hochinteressant ist sie in jedem Fall, gerade übrigens dann, wenn ein gewisses Grundwissen über den Künstler schon vorhanden ist.
Die Zeit nach den Factory-Jahren
Inhaltlich deckt der Sechsteiler zwar durchaus Warhols gesamtes Leben ab, der Fokus allerdings liegt eindeutig auf der Zeit nach den Factory-Jahren und dem 1968 auf ihn verübtem Attentat, das hier als klarer künstlerischer wie beruflicher Einschnitt herausgearbeitet wird. Der Titel "The Andy Warhol Diaries" ist nicht zufällig der gleiche wie der jenes Buches, das seine langjährige Wegbegleiterin Pat Hackett 1989 posthum veröffentlich hatte. Darin versammelte sie Niederschriften gemeinsamer Telefonate sowie Tagebucheinträge des 1928 geborenen Künstlers.
Letztere sind nun in Rossis Dokumentation auf ganz besondere Weise präsent: Mit Einwilligung der Nachlassverwaltung wird hier eine KI-Technik verwendet, die Warhols Stimme nachempfindet und es tatsächlich auf eindrucksvolle Weise so klingen lässt, als würde er selbst seine Gedanken und Erinnerungen vortragen.
Gemeinsame Abende im Studio 54
Formal wandelt "The Warhol Diaries" ansonsten auf etablierten und bewährten Doku-Pfaden. Auf nachgestellte Szenen wird zum Glück verzichtet, stattdessen gibt es jede Menge wirklich toll kuratiertes Archivmaterial aus den 60ern, 70ern und 80ern zu sehen, kombiniert selbstverständlich mit jeder Menge Talking Heads.
Auf manche derer, die zu Wort kommen, hätte man vielleicht auch verzichten können – weder Rob Lowe noch Julian Schnabel berichten beispielsweise Elementares. Doch anderen könnte man umso länger zuhören, wenn sie über Warhol sprechen, sei es Jerry Hall, die sich nicht nur an gemeinsame Abende im Studio 54 erinnert, oder Bob Colacello, dem langjährigen Herausgeber von Warhols "Interview"-Magazin, aber auch Bewunderer wie John Waters oder den sehr expertisenreich einordnenden Verantwortlichen vom Andy Warhol Museum in Pittsburgh, wo man selbst die weißblonden Perücken des Künstlers archiviert hat.
Grenzen zwischen Wahrhaftigkeit und Kunstfigur
Thematisch werden – angemessen ausführlich – all die Themen beackert, die es im Warhol-Kontext immer zu besprechen gibt: seine Auseinandersetzung mit dem Ruhm (nicht nur dem eigenen), seine Komplexe, seine religiöse Herkunft, das hinterlassene Vermächtnis und die sich stets wandelnde kunsthistorische Relevanz sowie nicht zuletzt das bewusste Verwischen von Grenzen zwischen Wahrhaftigkeit und Kunstfigur. Daraus, dass selbst durch die Tagebuchaufzeichnungen und nun diese Dokumentarserie nicht garantiert ist, dass wir wirklich den zu 100 Prozent echten Andy Warhol kennen lernen, macht "The Andy Warhol Diaries" jedenfalls keinen Hehl.
Umso erfreulicher, wie viel Raum auch Warhols Queerness hier einnimmt. Und das nicht nur in der Auseinandersetzung mit seinem Werk, sondern auch im Blick auf seine privaten Beziehungen etwa zu Jed Johnson (dessen Zwillingsbruder hier sehr rührend zu Wort kommt), Jon Gould oder natürlich Jean-Michel Basquiat.
Links zum Thema:
» "The Andy Warhol Diaries" auf Netflix
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de