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Zahlen des Bundesinnenministeriums
Über 50 Prozent mehr Hassdelikte aufgrund der sexuellen Orientierung
In Deutschland werden immer mehr LGBTI-feindliche Taten registriert. Die Queerpolitikerin Ulle Schauws zeigte sich angesichts der Zahlen entsetzt.
- 7. April 2022, 14:39h 3 Min.
Für 2021 haben die zuständigen Landeskriminalämter viel öfter queerfeindliche Straftaten gemeldet als für das Vorjahr. Das geht aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Abgeordneten Ulle Schauws hervor, der queerpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion.
Demnach seien bis Ende Januar dieses Jahres insgesamt 870 Hassdelikte mit dem sogenannten Unterthemenfeld (UTF) "sexuelle Orientierung" registriert worden. Im vergangenen Jahr hatte der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) "nur" 578 derartige Taten in seiner Statistik ausgewiesen (queer.de berichtete). Das würde damit einen Anstieg von 51 Prozent binnen eines Jahres bedeuten. Es kann aber noch zu Nachmeldungen oder Ummeldungen kommen.
Zusätzlich meldete das Innenministerium für 2021 noch 340 Fälle aus dem UTF "Geschlecht/sexuelle Identität" (2020: 204). Insgesamt kommt es in beiden Untergruppen damit auf 1.051 Fälle (Mehrfachnennungen sind möglich).
84 Prozent der Übergriffe als rechtsmotiviert eingestuft
Mehr als die Hälfte der Hassdelikte wegen der beiden Unterthemenfelder konnten nicht einer bestimmten Ideologie zugeordnet werden. In den Fällen, in denen die Zuordnung möglich war, sind 84 Prozent als rechtsmotiviert von den Landesbehörden eingeordnet worden. Sechs Prozent der Delikte gehen demnach auf eine "religiöse Ideologie" zurück, je fünf Prozent auf eine "ausländische Ideologie" und auf eine linke politische Einstellung. Insgesamt gab es 190 Gewaltdelikte.
Das Bundesinnenministerium wies darauf hin, "dass im Bereich der Straftaten gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen ein erhebliches Dunkelfeld besteht". Detaillierte und belastbare Erkenntnisse hierzu lägen allerdings nur in begrenztem Umfang vor.
Der Hintergrund ist auch, dass die Bundesländer die Meldung derartiger Straftaten höchst unterschiedlich handhaben – so gab es in den letzten Jahren aus manchen Ländern so gut wie keine Meldungen. Ein Teil des Anstieges könnte damit zusammenhängen, dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist und dass mehr Länder entsprechende Fälle an die Bundesbehörden weitermelden – allerdings hat das Innenministerium in seiner jetzigen Antwort keine Aufschlüsselung nach Ländern angeboten.
"Viele queere Menschen trauen sich nicht, Gewalt anzuzeigen"
"Dieses Ausmaß an Gewalt gegen die LSBTIQ-Community entsetzt mich immer wieder, denn wir müssen davon ausgehen, dass die tatsächliche Anzahl an Angriffen noch viel höher ist", erklärte Schauws als Reaktion auf die Zahlen. "Auch heute trauen sich viele queere Menschen immer noch nicht, Gewalt gegen sie anzuzeigen."

Die Krefelderin Ulle Schauws ist seit 2013 Bundestagsabgeordnete (Bild: Deutscher Bundestag / Achim Melde)
"Zum Glück" gehe nun die neue Bundesregierung "entschieden" gegen Hass und Hetze vor, so Schauws weiter. Als Beispiel nannte sie die Einrichtung des "längst überfälligen" Aktionsplans für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, den die Ampel im Koalitionsvertrag vom November 2021 versprochen hatte (queer.de berichtete). Laut dem Queerbeauftragten Sven Lehmann soll der Aktionsplan noch in diesem Jahr an den Start gehen.
Schauws weiter: "Außerdem setzen wir auf gezielte Forschung zu Hasskriminalität, verbessern die Kriterien der polizeilichen Statistiken und werben dafür, dass LSBTIQ-Ansprechpartner*innen bei der Polizei und den Staatsanwaltschaften geschaffen werden – damit in Deutschland endlich alle Menschen die Sicherheit erfahren, die ihnen zu steht."
"Hasskriminalität kann gesundheitliche Folgen für die Betroffenen haben"
Auch LSVD-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Lünsmann-Schmidt zeigte sich beunruhigt über die Zahlen: "Über 1.000 Taten, jeden Tag drei Fälle! Und das ist nur die Spitze des Eisbergs", so Lünsmann-Schmidt. "Wenn vor jedem verliebten Blick, vor einer Umarmung, vor einem Kuss im öffentlichen Raum zuerst die Umgebung gecheckt werden muss, ist das eine erhebliche Einschränkung von Freiheit. Hasskriminalität kann gesundheitliche Folgen für die Betroffenen haben." Sie forderte ein Bund-Länder-Programm gegen queerfeindliche Gewalt. Außerdem forderte sie Länder und Kommunen auf, "die Arbeit von LSBTI-Anti-Gewalt-Projekten angemessen zu fördern".
Für das Jahr 2022 wird die bislang etwas ungenaue UTF "Geschlecht/sexuelle Identität" weiter ausdifferenziert. Nun können die Landespolizeibehörden derartige Hassdelikte als "frauenfeindlich", "männerfeindlich" oder mit dem Unterthemenfeld "Geschlechtsbezogene Diversität" melden. (dk)

Beispiele:
Brandenburg, Oktober 2021 (Rot, Grün, Schwarz)
"Laut Haushaltsentwurf will die rot-schwarz-grüne Landesregierung die Gelder für queere Projekte in Brandenburg um die Hälfte kürzen. Verbände und Vereine schlagen Alarm. "Im Grunde genommen steht alles auf dem Spiel hier in der queeren Bewegung in Brandenburg", sagt Lars Bergmann von der "Fachstelle Geschlechtliche und Sexuelle Vielfalt""
Berlin, März 2022 (Rot, Rot, Grün)
"Im Juni will das Abgeordnetenhaus den Haushalt für 2022 und 2023 verabschieden. Aktuell sieht es so aus, als müssten sich ausgerechnet Antidiskriminierungsprojekte in Bildungseinrichtungen auf drastische Kürzungen einstellen. So sieht es der Haushaltsentwurf der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vor."
Selbst der AIDS-Hilfe will man die Förderung streichen.
taz.de/Kuerzungen-im-Berliner-Haushalt/!5844456/
www.rbb24.de/politik/beitrag/2021/10/brandenburg-regierung-kuerzung-gelder-fuer-lgbtq-projekte.html