Im Fall des von Jugendlichen beinahe getöteten, transgeschlechtlichen Mädchens aus Herne in Nordrhein-Westfalen hat die Polizei weitere Details bekannt gegeben. Wie die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" (WAZ) am Donnerstag berichtete (Bezahlartikel), sollen die drei Jungs im Alter von 12 und 13 Jahren bereits seit 2018 mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten sein. Es ist von Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigung und Fahren ohne Fahrerlaubnis die Rede.
Zudem wiederholte die Polizei ihre Behauptung, dass es vor der Tat zu einem "Streit" gekommen sei. Befragungen von Betroffener und Verdächtigen hätten die schon im ersten Polizeibericht erwähnte These bestätigt. Transfeindlichkeit sei demnach nicht der alleinige Grund für die Tat gewesen.
Misgendert und von "Streit" gesprochen
Die Herner Polizei hatte erst zwei Tage nach dem Auffinden des regungslosen Mädchens von dem Vorfall berichtet und das Mädchen dabei noch misgendert, also als männlichen Jugendlichen bezeichnet. Zudem hatte sie als Tatauslöser von einem "Streit" gesprochen. Dass es sich bei der Betroffenen um ein trans Mädchen handelte und das Motiv Transfeindlichkeit gewesen sein dürfte, wurde dann erst zwei Wochen später durch einen Bericht des Fernsehsenders RTL bekannt. Auch die Mutter des Mädchens und die Betroffene selber hatten die Prügelattacke entsprechend als Hasskriminalität eingeordnet.
In der Nacht zum 26. März sollen die strafunmündigen Jugendlichen die 15-jährige Jess auf einem Friedhof so heftig verprügelt, am Boden getreten und dann liegengelassen haben, dass Lebensgefahr bestand. Zum Glück wurde das Mädchen am Morgen von einem Spaziergänger gefunden, der die Rettungskräfte alarmierte. Erst nach Tagen im Koma hatte sich ihr Zustand dann verbessert (queer.de berichtete).
Gegenüber der WAZ rechtfertigte die Polizei das Misgendern der Jugendlichen. Die Beamten seien aufgrund des Personalausweises von einem männlichen Geschlecht ausgegangen. Die Betroffene sei nicht ansprechbar gewesen.
Polizei ignoriert Anfrage von queer.de
Warum die Polizei allerdings einen Streit als Tatauslöser nannte, als ihr noch nicht ein mal die korrekten Angaben zur Person der Betroffenen bekannt waren, bleibt weiterhin unklar. Eine Anfrage von queer.de vom 12. April nach dem Inhalt des angeblichen Streits und wie die Streithypothese ermittelt worden sei, wurde noch immer nicht beantwortet.
Nach Bekanntwerden der Tat hatte sich unter anderem die grüne Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer geäußert. Sie sei zutiefst betroffen über das grausame Hass- und Gewaltverbrechen. Es mache deutlich, wie dringend ein Aktionsplan für die Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auf den Weg gebracht werden müsse. Man stehe in der Verantwortung, die Welt für junge Menschen besser zu machen.
Queer-Beauftragter: "Nur die Spitze eines Eisbergs"
Auch der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, hatte die Tat als queerfeindliches Hassverbrechen eingestuft. Auf Twitter schrieb er: "In Herne wird ein Mädchen fast totgeprügelt. Weil sie trans ist. Ein schrecklicher Fall. Und leider nur die Spitze eines Eisbergs von immer mehr Hasskriminalität gegen queere Menschen. Bund und Länder müssen Prävention und Schutz verstärken!"
Die tatverdächtigen Jungs sind aus ihren Familien genommen worden. Die Polizei sei "dankbar", hieß es, dass die aus "schwierigen persönlichen Verhältnissen" kommenden Jungen getrennt voneinander in geschlossenen, psychiatrischen Einrichtungen untergebracht worden sind.
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Wenn du dich outest und damit gesellschaftlich vollkommen normalisierte Hassanfälle auslöst, für die jede*r Verständnis hat, allen voran, Beamt*innen in deutschen Behörden, bist am Ende halt immer erstmal du bzw. dein So-Sein aka deine Existenz als nicht cis-heteronormativer Mensch, Auslöser für ungute Gefühle und damit Verursacher*in des "Streits". Oder, wie es auf dem Revier beim Versuch der Anzeige ggf. heißt: Irgendwie schon selbst schuld.
Und das ist dann leider der Grund dafür, dass die Notwendigkeit zum Nicht-Outen und zum Outing komplett "eigenverantwortlich" zu geschehen hat.
Es ist halt nunmal so: Wenn man dich totprügelt, oder so halb, bist du die Person, die so oder so mit den Konsequenzen "leben" muss. Das ist ein bisschen, wie wenn du über eine grüne Ampel gehst und dann überfahren wirst und am Ende halt schwerbehindert oder tot bist. Theoretisch ist das Recht auf deiner Seite. Praktisch bist du so oder so bestraft. Und während beim Autounfall der Kommentar "hättest halt vorher gucken sollen" dich vermutlich belasten wird, aber zunächst mal nicht verhindert, dass es eine rechtliche Aufarbeitung zu Lasten der Fahrzeugführenden geben wird, behandelt dich die Polizei bei Queerfeindlichkeit grundsätzlich mal unter der Prämisse, dass es eine Ampel, die auf "grün" steht, bezüglich eines Outings für dich nicht gibt. Weswegen du dich, selbst wenn, immer so verhalten musst, als stünde sie auf rot. Da du das weißt, entsteht Druck zu Vorsicht. Der wiederum bewirkt, dass du eine von nur sehr wenigen Personen sein wirst, die deinem Umfeld eine derartige "Toleranz" und "Nachsicht" (ja, dreisterweise wird das so empfunden) abverlangt. Und das wiederum verstärkt diese intuitive Gewissheit, dass Outing etwas ist, das eigentlich auch gar nicht okay im Sinne von erlaubt ist.
Mit der Folge, dass Täter*innen sich gewiss sein können, ein Umfeld vorzufinden, das sie versteht, und nicht dich.
Aus dem Grund kann ich übrigens auch mit der aktuellen Umfrage zum Thema Gewaltprävention nicht viel anfangen. Der Punkt, den ich für wirklich relevant halte, fehlt dort. Was es mEn geben müsste, wären in erster Linie konsequentes Verfolgen und konsequentes Bestrafen von Hasskriminalität. Dazu fehlt sowohl bei der Polizei als auch bei der Gesellschaft insgesamt der Wille, wenn es um bestimmte Minderheiten geht. Und genau das wissen mögliche Täter*innen verdammt gut, bevor und wenn sie handeln, wie sie handeln.
Sie haben nichts zu befürchten. So einfach. Das liegt nicht daran, dass es Gesetze für angemessene Strafen nicht gäbe, und das wird sich auch nicht ändern, wenn man diese Strafen erhöht. Du hast nichts von hohen Strafen, wenn du als Ziel von Hasskriminalität ohnehin nur minimale bis keine Chancen hast, zu erreichen, dass irgendwer sie anwendet.
Dabei wäre Risiko, auf der Intensivstation zu landen, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit geringer, wenn es bereits bei den Vorläufern dazu, Verbalgewalt, Verunglimpfungen, Beleidigungen, Drohungen, zu erwarten wäre, dass du Schutz erfährst. Aber das ist online nicht so, wo die neue Normen der kompletten Rechtsfreiheit zur Gewohnheit wird und geworden ist, und das ist auch offline nicht so, wo es eben als deine eigene Verantwortung betrachtet wird, einen schwarzen Gürtel im Kampfstport zu machen, um dich gefälligst selbst verteidigen zu können. Recht des Stärkeren - aber bewaffnet herumzulaufen, bloß weil du mit Gerechtigkeit nicht rechnen kannst, ist ja dann auch schon wieder eine Ordnungswidrigkeit.
Es ist eine Schande, wie dieser Fall behandelt wird. Aber wie man leider auch feststellen muss: Für deutsche Verhältnisse vollkommen normal.