Im Zentrum der Geschichte steht der junge Miki, der nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Onkel Slawa und dessen Freund Lew aufwächst. Wichtig ist dabei gar nicht so sehr die Handlung mit den erwartbaren kleinen und großen Kleinigkeiten der Kindheit und Jugend, sondern die Gesellschaft, die porträtiert wird. Durch die im ländlichen Russland tief verankerte Homophobie ist Miki zu früher Reife gezwungen. Die titelgebende Lüge ist der Modus Operandi seines Familienlebens: In der Schule und außerhalb der eigenen Wohnung darf er nichts von seinem zweiten Vater erzählen, muss seine Familie verleugnen.
Russland ist Feindesland. Ungewollt. Die Gesellschaft hat Lew, Slawa und Miki zu Feinden erklärt. Schlicht deshalb, weil sie eine Familie sind. Die Wirkung des Romans entfaltet sich vor allem auch außertextlich durch seine Rezeption. In Russland durfte "Die Lüge" nur mit einer Altersbeschränkung "ab 18" erscheinen. Der Roman ist weder sexuell explizit, noch gewalthaltig oder in andererweise jugendgefährdend – wenn mensch eben von der grausam gefährlichen und zersetzenden Wirkung der Darstellung einer queeren Familie absieht.
In einem Interview mit "GQ Russia" zur Veröffentlichung des Romans in Russland erklärte Autor Mikita Franko, dass er gerade darin den größtmöglichen Affront für die politisch mächtige, vornehmlich alte, konservative Gesellschaftsschicht in Russland sehe: "Viele Rentner hängen sehr an der Familie, sie lieben kleine Kinderchen und mögen keine queeren Leute."
Gesundschreiben
"Die Lüge" ist Ende April 2022 im Verlag Hoffmann & Campe erschienen
Das Buch begann als Versuch des therapeutischen Schreibens. Franko schrieb in einer geschlossenen Gruppe auf der russischen Facebook-Alternative VKontakte über sein Leben, um seinen Depressionen zu begegnen. Erst durch die positiven Reaktionen anderer Gruppenmitglieder, die ihn darin bestärkten, die Therapietexte viel eher als literarische zu begreifen, entschied er, einen Roman zu verfassen.
Während diese Anekdote einerseits von der heilsamen Wirkung des Schreibens und der Literatur zeugt, muss auch vermerkt werden, dass man dem fertigen Buch, seine literaturfernen Wurzeln leider an einigen Stellen anmerkt. Die Sprache des Erzählers in "Die Lüge" alterniert zwischen glaubhafter Rotzigkeit einer jungen Stimme und ungeplant hingeschriebener Social-Media-Literatur. Einen Plan für seinen Roman habe er nicht gehabt, gibt Franko frei heraus zu. Es wäre zu wünschen, dass er vielleicht mehr geplant, oder zumindest im Nachhinein planend überarbeitet hätte.
Umgekehrt vermag das Spiel mit der ungehobelten und unprätentiösen Sprache des Erzählers, wenn es gelingt, auch für ausgesprochen komödiantische wie ergreifende Momente zu sorgen. An vielen Stellen fühlt man sich beim Lesen nah an der Figur, hat eben tatsächlich das Gefühl, gerade mit einem Jungen zu chatten, der versucht, sich die Last seines Lebens von der Seele zu schreiben. In den schwachen Passagen wirkt das aufgesetzt und gestellt, doch in den guten entstehen es große Nahbarkeit und Einfühlungsmomente.
Vollwertkunst
Im erwähnten Interview erklärte Franko, kein Freund queerer Kunst zu sein. Diese stelle zu häufig queere Menschen ins Zentrum, deren Hauptproblem es sei, dass sie queer sind. Das reiche nicht, daraus eine vollwertige und zeitgenössische Handlung zu entwickeln. Das ist natürlich eine zu begrüßende Einstellung und ein großartiges Kunstverständnis, da es glaubhafte, ganzheitliche, komplexe Figuren und Handlungen, da es Wahrhaftigkeit verspricht. Eine umso stärkere künstlerische Position, da Russland ja doch genau so simpel ist. Hier wäre es nicht nur, sondern es ist tatsächlich das hauptsächliche Problem, queer zu sein.
"Ich denke, ein Happy End mit einem offenen Leben, bei dem sich alle wohl und sicher fühlen, ist derzeit in Russland nicht möglich", sagte Mikita Franko im Jahr 2020.
Unvollkommene Menschen
"Die Lüge" gibt sich nicht mit damit zufrieden, lediglich davon zu berichten, dass es in Russland schwierig ist für queere Menschen. Es stilisiert seine Figuren auch nicht zu Held*innen, die makellos dem Unrechtssystem gegenüberstehen, sondern präsentiert Figuren voller Widersprüche und Fehler. Die Beziehung der Väter Slava und Lew ist nicht perfekt, beide kommunizieren auf unterschiedliche Weise problematisch miteinander und mit ihrem Sohn. Miki ist oft egozentrisch und verhält sich seinen Mitmenschen gegenüber – um es sehr zurückhaltend auszudrücken – unschön.
Dass der Roman unvollkommene, fehlerhafte Menschen in den Fokus nimmt, ist eine seiner größten Stärken. Darauf fußt sowohl die nahbare Beschreibung des Heranwachsens, wie auch die umsichtige und respektvolle Darstellung psychischer, depressiver Krankheit, die hier geliefert wird.
Menschen, die sich über Kunst aufregen und empören, attestieren der Kunst damit, dass sie einen Nerv trifft, dass sie relevant ist und bewegt. In diesem Sinne ist "Die Lüge" ein wichtiges und notwendiges Buch, das weniger mit Wut, sondern eher mit Traurigkeit gegen den repressiven russischen Konservatismus und die Heteronormativität, gegen Intoleranz und Hass anschreibt. Von sprachlicher Unsauberkeit an der ein oder anderen Stelle abgesehen, ist dies ein Buch, dessen Lektüre lohnt und das bereichert.
Infos zum Buch
Mikita Franko: Die Lüge. Roman. Aus dem Russischen von Maria Rajer. 384 Seiten. Verlag Hoffmann & Campe. Hamburg. 2022. Gebundene Ausgabe: 24 € (ISBN 978-3-455-01367-2). E-Book: 14,99 €
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Pawlodar ist eine ziemlich große Stadt, die sich nicht in Russland sondern in Kasachstan befindet. Somit ist es nicht korrekt, Pawlodar als ne russische Provinz zu bezeichnen. Kasachstan ist ja seit Anfang der 90er unabhängig, obgleich er kulturell immer noch weitgehend von Russland beeinflusst wird. Im Unterschied zu Russland gibt es im Kasachstan keine Gesetze und wenig politische und mediale Hetze gegen lGBTI+, es herrscht dort eher das Schweigen darum. Trotzdem, meines Wissens und meinen persönlichen Erfahrungen durch YouTube, wo ich darüber oft diskutiere , ist Homophobie in Kasachstan viel stärker ausgeprägt als in Russland. Warum, könnt Ihr selber erahnen. Übrigens, ich habe das Gefühl, dass die Leute in Russland in die letzten Jahren weniger homophob geworden sind.
Somit kann ich mir gut vorstellen, wie schwierig ist in Kasachstan, sogar in einer großen Stadt, die Lebenssituation LGBTI und besonders einer Regenbogen-Familie, wie es bei Mikolai war.