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Nichtbinäre ZDF-Miniserie
Becoming Charlie: "Natur ist viel krasser, als wir denken"
ZDFneo eröffnet in Deutschland das Genre des nichtbinären Films per Miniserie. Klar, die will erst mal viel erklären. Doch macht es auch Spaß, Charlie bei der Entdeckung der eigenen Geschlechtsidentität zuzusehen?

Charlie (Lea Drinda) ist damit beschäftigt, Geld ranzuschaffen, als die Frage nach dem Pronomen alles aus der Bahn wirft (Bild: ZDF / Tatiana Vdovenko)
20. Mai 2022, 18:56h 4 Min. Von
Seit heute in der Mediathek verfügbar, am Dienstag Abend ab 20.15 Uhr im linearen TV: "Becoming Charlie" ist die erste Fernsehproduktion, die sich in Deutschland der Nichtbinarität widmet.
Charlie (Lea Drinda), Protagonist*in der ZDFneo-Miniserie, sieht sich mit einer zerbrechenden, kleinen Welt konfrontiert. Mutter Rowena hat sich bei diversen Leuten verschuldet. Tante Fabia kommt ausgerechnet auf die schmerzhafte Idee, sich Charlies mühsam Erspartes unter den Nagel zu reißen – und Charlie auf die dumme, dafür Fabias Auto zu demolieren.
Als dann auch noch der Strom abgeschaltet wird, bleibt Charlie, die*der sonst Essen auf dem Rad ausliefert, kaum etwas anderes übrig, als sich und der hilflosen Mama aus der Patsche zu helfen und die Schulden bei Fabia abzuarbeiten.
Welches Pronomen? Kein Plan!
Die ist zumeist mies gelaunt und macht es Charlie nicht leicht, überhaupt mal etwas richtig zu machen. Die Begegnung mit einer feministischen Studentin, für die Fabia als Hausmeisterin zuständig ist und die zunächst nur um ihr Geld erleichtert werden sollte, wirft Charlie endgültig aus der Bahn. Denn mit deren Frage nach Charlies Pronomen eröffnet sich unverhofft die Möglichkeit, dass man, geschlechtlich, jemand anderes sein kann – oder werden.
Angelehnt an die enge Verknüpfung zwischen dem Aufkommen der nichtbinären Geschlechtsidentität und dem Internet als Ort des Austauschs von Gefühlen und Ideen, zeigt die kleine Serie Charlies Netzrecherchen immer wieder durch Einblendungen. Die kennt man inzwischen auch für Nachrichten mit dem Messenger. In den Videoclips stößt Charlie auf andere Menschen, die sich ein neues Pronomen ausgesucht haben. Und weil das nicht unbedingt entweder "sie" oder "er" lauten muss, ergibt es auf einmal Sinn: sich nicht als die junge Frau fühlen, die alle erwarten – aber deshalb auch nicht gleich als Mann.

Um das verlorene Geld zurückzukriegen, muss Charlie auch klempnern oder lackieren – und es schaffen, den nächsten Job nicht zu vergessen (Bild: ZDF / Tatiana Vdovenko)
Doch statt mit dieser Erkenntnis bei etwas anzukommen, beschleunigen die den Horizont erweiternden Infos aus dem Netz nur die Eskalation, in der Charlie sowieso schon bis zum Halse steckt. Denn was in der jungen Person vorgeht, lässt sich immer weniger vor dem Umfeld geheim halten. Und das hat seine ganz eigenen Probleme.
Manchmal etwas pädagogisch
Ist das sehenswert? Klares "Jein". Immer wieder wirken Szenen und Ereignisse unfreiwillig so, als hätte das Team hinter "Becoming Charlie" unbedingt noch Klischee X an Trope Z eines transgeschlechtlichen, nichtbinären Werdegangs aneinanderreihen müssen. Das führt in den dicht bepackten sechs Folgen von jeweils einer Viertelstunde schon mal zu dem ein oder anderen Cringe-Moment. In diese Kategorie gehören definitiv auch eingestreute Betrachtungen über Tiere, die weder männlich noch weiblich sind – oder beides zugleich. Und trotzdem stimmt ja etwas an der Naturphilosophie des schwulen neuen Chefs von Charlie, auf die das hinausläuft. Besagte Natur sei nämlich "viel krasser" als man denke.
Das ist, zum Glück, gerade nicht als üblicher, instrumentalisierender Verweis auf Intergeschlechtlichkeit zur bloßen Rechtfertigung ausgestaltet. Stattdessen ist es eine Aufforderung, Phänomene auch immer auf ihre Umstände hin zu untersuchen – auf ihre Sonne und ihren Mond. Dann zeigt sich, dass der Fluss auch die Richtung ändern kann, in die er fließt.

Kommt erst mit irgendwelchen "Pronomen" daher und scheint dann auch noch weitergehend interessiert: Studentin Ronja (Sira-Anna Faal, re.) mit Charlie (Bild: ZDF / Tatiana Vdovenko)
Doch zunächst bewegt sich das Wasser weiter wie gehabt und reißt Charlie mit. Die Bedrängnis, mit der sich Charlie nun aufmal verfolgt sieht, kommt angemessen packend rüber: Halbwahrheiten und Vorurteile, wiederum genährt vom Internet, führen nämlich zu der fixen Idee, Charlie wolle nun "ein Mann werden". Panik um das Überleben der doch so "schönen Brüste" kommt auf – und bereitet Charlie in der Übergriffigkeit, mit der sie ausagiert wird, erst die zugespitzten Entfremdungsanfälle der Dysphorie dem eigenen Körper gegenüber. Dass solche Szenen fesseln, ist auch ein Verdienst der jungen Lea Drinda, der mit der Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" im vergangenen Jahr erst eine viel gelobte Präsenz auf der heimischen Streaming-Mattscheibe gelungen war.
Auch mit Charlies Mutter Rowena (Bärbel Schwarz), Tante Fabia (Katja Bürkle) oder deren Partnerin Maya (Dalila Abdallah) hat das Casting schauspielerische Fähigkeiten mit einer angemessenen Darstellung des soziookönomischen Milieus verknüpft. Hier ist die Mama eine echte Person und kein nachträglich mit den für den Plot gewünschten Unzulänglichkeiten ausstaffierter Abzug der deutschen Fernsehmutter. Bei eher am Rand agierenden Figuren gelingt das wiederum manchmal weniger gut.

Auch ein obligatorischer Toilettenkonflikt bleibt Charlie nicht erspart (Bild: ZDF / Tatiana Vdovenko)
Natürlich haben in queere Themen erstmals einführende Fernsehproduktionen etwas unangenehm Pädagogisches, das wir etwa im lesbischen oder im schwulen Film kaum mehr dulden können. Doch das ist weniger den Verantwortlichen von "Becoming Charlie" zuzuschreiben als der zähen Welt der Geschlechter und Geschlechterrollen. Die hat der eigentlich doch so alten Nichtbinarität erst kürzlich mit der Etablierung des Begriffs ihren Platz in der Öffentlichkeit eingeräumt. Was sie an diesem Platz alles noch für verrückte Sachen anstellen wird, bleibt spannend und abzuwarten. Das gilt sowohl auf dem Bildschirm als auch abseits davon.

Links zum Thema:
» "Becoming Charlie" in der ZDF Mediathek
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
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In der Tat jedoch können nichtbinäre Personen genauso gut aussehen "wie eine Frau" oder "wie ein Mann". Nichtbinarität ist NICHT etwas, das man einer Person immer ansehen kann. We come in ALL shapes and sizes. Und das ist auch gut so.