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Segen für alle
Der schwule Schatz von Kiew
In der Ukraine befindet sich eines der wertvollsten Exponate queerer Kulturgeschichte mit enormer Sprengkraft für die katholische Kirche: Eine Ikone aus dem frühen Christentum zeigt die Märtyrer Sergius und Bacchus als ein von Jesus gesegnetes Paar.

Ein schwules Paar auf einer Ikone aus dem 7. Jahrhundert: Sergius und Bacchus
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22. Mai 2022, 10:45h 9 Min.
Die Angst ist groß, im Angriffskrieg auf die Ukraine könne kulturelles Erbe unwiderbringlich verloren gehen. Aus gutem Grund: Die russischen Streitkräfte, die das Museum für Heimatgeschichte im nördlichen Iwankiw in Schutt und Asche legten, haben längst bewiesen, dass ihnen die Haager Konvention zum Kulturgutschutz keinen Pfifferling wert ist. Auch im Kiewer Khanenko-Museum geht die Sorge vor Verlust und Zerstörung um, wenngleich die russische Armee aus der Umgebung der Hauptstadt zunächst zurückgedrängt werden konnte. Von Raketeneinschlägen ist das Haus bislang verschont geblieben. Viele Kunstschätze dürften vorübergehend in Sicherheit gebracht und in Kellern verstaut worden sein. Wann die Öffentlichkeit wieder uneingeschränkten Zugang zur Sammlung erhält, ist noch nicht absehbar.
In der Ukraine gilt das Khanenko-Museum als das bedeutendste Universalmuseum des Landes. Vor allem die Sammlung frühchristlicher Ikonen hat es in sich. Von unschätzbarem Wert ist jene aus dem 7. Jahrhundert, die die Märtyrer Sergius und Bacchus als ein von Jesus gesegnetes Paar zeigt. Und zwar genauso, wie es eigentlich nur ehelichen Konstellationen von Mann und Frau vorbehalten ist: Die mit Blattgold aufgetragenen Heiligenscheine der beiden Männer werden mit jenem von Christus vereinigt.
Theologisch-homoerotische Sprengkraft
Olena Schiwkowa, stellvertretende Direktorin des Khanenko-Museums, kommt in der Beschreibung der 28 mal 42 Zentimeter großen Holztafel aus dem Schwärmen nicht heraus. "Dadurch, dass hier mehrere durchscheinende Farbschichten aufgetragen wurden, wirken die Gesichter von Sergius und Bacchus wie von innen beleuchtet", erklärt sie auf der Homepage des Museums. Von Sergius' "saftigen roten Lippen" und "jugendlichen, blassrosafarbenen Wangen" ist die Rede – nicht jedoch von der theologisch-homoerotischen Sprengkraft, die diesem historischen Kunstwerk mit seinem einzigartigen Bildmotiv innewohnt.
Dieser Sachverhalt könnte im zähen Vorankommen der katholischen Kirche bei der Segnung gleichgeschlechtlicher Ehen einen neuen schlagkräftigen Impuls setzen. Zudem offenbaren historisch dokumentierte Geschichten über die beiden Märtyrer ein dem modernen Geschichtsbild widersprechendes Phänomen: Die Haltung im Christentum des frühen Mittelalters war gegenüber mann-männlichen Paarbeziehungen keineswegs so unerbittlich und ablehnend, wie von offizieller Seite der katholischen Kirche heute behauptet wird.
Der Legende nach dienten Sergius und Bacchus im dritten Jahrhundert unter dem römischen Kaisers Maximian als Offiziere in der nordsyrischen Provinz. Die beiden galten als ein Herz und eine Seele, bekannten sich öffentlich zum Christentum und weigerten sich, am Jupiterkult teilzunehmen. Als Maximian von ihnen erfuhr, war er derart erbost, dass er sie in Frauenkleider hüllen ließ, um sie öffentlich zu demütigen. Bacchus wurde zu Tode gepeitscht. Sein geliebter Sergius musste dabei zuschauen, bevor er schließlich geköpft wurde.
Um Sergius und Bacchus entstand nach ihrer Bestattung im Norden Syriens ein ausgeprägter Märtyrerkult. Von dort verbreitete sich das Christentum in der ganzen Region. Die heutige Ruinenstadt Resafa, einst ein bedeutendes Pilgerziel, wurde damals nach Sergius benannt: Sergiopolis behielt noch bis zum Ende der Spätantike seinen Namen. Der Ruf des Märtyrerpaars drang weit bis nach Westeuropa. Im nordöstlichen Zipfel Italiens rund um Triest verehren christliche Gläubige Sergius noch heute. Seine Hellebarde wurde zum Wappen und Wahrzeichen der Stadt, verewigt als Reliquie in einer Steinskulptur in der Kathedrale San Giusto.
"Durch die gegenseitige Liebe miteinander vereint"
Die romantische Beziehung zwischen Sergius und Bacchus fand in einer Vielzahl von Texten des frühen Mittelalters ihren Widerhall. Der älteste dokumentierte Bericht ihres Martyriums stammt aus dem fünften Jahrhundert. In ihm werden sie als "durch die gegenseitige Liebe miteinander vereint" beschrieben. Aus dem sechsten Jahrhundert ist eine auf Griechisch verfasste epische Hymne auf Sergius und Bacchus. In einem Absatz heißt es feierlich: "Vereint durch das Band der Liebe riefen sie tapfer dem Tyrannen zu: 'Sieh in zwei Körpern eine Seele und ein Herz, ein Wille und eine Tugend.'"
Eine der letzten überlieferten Hymnen aus dem neunten Jahrhundert wird dem Dichter und Abt des Klosters von Reichenau am Bodensee, Wahlafrid Strabo, zugeschrieben. Die Reihe an Beispielen ließe sich fortsetzen. Der US-Historiker John Boswell hat sämtliche Schriften über die beiden Märtyrer, die er auffinden konnte, in seinem 1994 erschienenen Buch "Same-Sex Unions in Pre-Modern Europe" dokumentiert.

Seine Bücher gelten als Grundlagenwerke der Gay and Lesbian Studies: John Boswell (1947-1994)
Boswell vertritt die These, dass es im frühen Mittelalter häufig Segnungen von schwulen Männerpaaren gab. Sergius und Bacchus seien lediglich das prominenteste, keineswegs jedoch das einzige Paar. Der dafür vorgesehene kirchliche Ritus war nach Ansicht des Historikers die Verbrüderungsliturgie (auch Adelphopoiesis genannt), die in der Religionsgeschichte bis heute unterschätzt, ja, mitunter sogar bewusst unterschlagen werde. Deren wesentlichen Elemente – Lesungen aus dem Hohenlied, symbolisches Aneinanderbinden mit einem Gürtel, Händchen halten und Austauschen von Wangenküsschen – entspreche teilweise jenen von orthodoxen Eheschließungen. Freilich wollte bei weitem nicht jedes Männerpaar auf sexueller Ebene verbunden sein. Laut Boswell diente der Ritus dennoch in vielen Fällen dazu, schwulen Männerpaaren ganz bewusst eine offizielle Segnung zukommen zu lassen, um sie gesellschaftlich zu integrieren.
Das frühere Christentum war toleranter
Kritiker*innen warfen Boswell daraufhin Unkenntnis orthodoxer Praxis sowie kulturelle Aneignung vor – bei der Verbrüderungsliturgie handele es sich um eine rein keusche Praxis. Schließlich hätten auch Männer daran teilnehmen können, die bereits mit einer Frau verheiratet waren. Außerdem ignoriere Boswell die missbilligenden Bibelstellen zu gleichgeschlechtlichen Handlungen in den Paulusbriefen und dem Dritten Buch Mose.
Letzteres wurde ihm auch von jenen Seiten der Community zur Last gelegt, die dem Christentum grundsätzlich kritisch gegenüberstehen. Doch der Historiker hatte bereits in seinem 1980 erschienenen Buch "Christianity, Social Tolerance and Homosexuality" zahlreiche Quellen untersucht. So konnte er belegen, dass die Rolle der Heiligen Schrift bis zum letzten Abschnitt des Mittelalters aus heutiger Sicht zumeist überschätzt wird. Im frühen Christentum sei die Auslegung von Bibelstellen viel toleranter gewesen als gegen Ende des Mittelalters, so Boswell. Erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts habe allein politisches Machtstreben zu Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung von Minderheiten geführt. Das betraf neben den sogenannten Sodomiten (wie schwule Männer damals genannt wurden) auch Angehörige der jüdischen Gemeinde, sogenannte Ketzer und alle anderen, die sich nicht anpassen wollten oder konnten.
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Sergius und Bacchus beim CSD

Robert Lentz entworfene diese Sergius-und-Bacchus-Ikone 1994 für den Chicago Pride March
Im angloamerikanischen Sprachraum zählen die Bücher von John Boswell längst zu den Grundlagen queerer Forschung – und über deren Grenzen hinaus. "Christianity, Social Tolerance and Homosexuality" von 1980 gilt als Klassiker. In den USA gewann das Buch ein Jahr nach Veröffentlichung sowohl den National Book Award als auch den Stonewall Book Award. Bis zum 35-jährigen Jubiläum im Jahr 2015 wurden etliche Neuauflagen gedruckt.
Boswell starb 1994 an den Folgen von Aids. Dank seiner Thesen gewann die Geschichte von Sergius und Bacchus in Teilen der queeren US-Community ungeahnte Popularität. Der amerikanische Franziskanermönch und Künstler Robert Lentz, der sich vor allem mit zeitgenössischen sozialen Themen auseinandersetzt, fertigte im selben Jahr eine Ikone an, auf der die Märtyrer als offen schwules Paar dargestellt sind. Aufsehen erregte Lentz erstmals damit auf dem Chicago Pride March.
Seither schießen Spekulationen um den Umgang der katholischen Kirche mit den beiden Heiligen ins Kraut. Manches ist nicht mehr als Verschwörungstheorie. So argwöhnt etwa der Chicagoer Anwalt Dennis O'Neill in seinem selbstverlegten Buch "Passionate Holiness", der Zeitpunkt der Streichung des Gedenktages von Sergius und Bacchus (es ist der 7. Oktober) aus dem offiziellen katholischen Liturgiekalender sei nicht zufällig erfolgt, sondern hänge damit zusammen, dass in jenem Jahr – 1969 – in New York City der Stonewall-Aufstand stattgefunden habe. Belegt werden konnte die These bislang freilich nicht.
Sogar katholisch.de beruft sich auf Boswell
Es ist bemerkenswert, dass bislang kein einziges Werk von John Boswell ins Deutsche übersetzt wurde, er somit hierzulande weitgehend ein Unbekannter ist. Umso erstaunlicher, dass sich nun ausgerechnet das Sprachrohr der katholischen Kirche in Deutschland, das Onlinemagazin katholisch.de, als eine der ersten auf Boswells Forschung beruft. In einem differenzierten Artikel von Ende Dezember letzten Jahres bringt es die Verbrüderungsliturgie als Beitrag zur erstarrten innerkatholischen Debatte um die Segnung homosexueller Paare ins Spiel.
Überraschend an dem Text ist die Schlussfolgerung, dass Boswells Arbeit bei allem Zwist um historische Wahrhaftigkeit zumindest als Narrativ dienen könnte. Eingehegt in christliche Tradition, wäre die Verbrüderungsliturgie eine Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Paare in das Gemeindeleben zu integrieren und damit eine sinnstiftende Erzählung herzustellen.
Illustriert wurde der Artikel unter anderem mit einem Abbild der Ikone aus dem Kiewer Khanenko-Museum, ohne im Detail auf sie einzugehen. Dabei könnte dieses Heiligtum eine entscheidende Rolle spielen, denn es ist die einzige frühchristliche Darstellung eines gesegneten Männerpaares, das dem eines Ehepaares gleicht. Es scheint, dass die Bedeutung der Ikone aller Bekanntheit zum Trotz bislang eher unterschätzt wird. Zudem sind Fragen zu ihrer Provenienz und ihrer Geschichte offenbar immer noch nicht eindeutig geklärt. Woher stammt sie denn eigentlich? Die Angaben dazu sind widersprüchlich.
Der Herkunftsort der Ikone ist unbekannt
Das Khanenko-Museum nennt auf seiner Homepage lediglich Byzanz als Herkunftsort des Tafelbildes, ohne detaillierte Quellen zu nennen. Tatsächlich war das spätere Konstantinopel und heutige Istanbul einer der Orte, an dem den beiden Märtyrern der Überlieferung nach besonders gehuldigt wurde. Im sechsten Jahrhundert widmete man ihnen die Kirche der Heiligen Sergius und Bacchus. Diese war in jener Epoche eines der wichtigsten religiösen Gebäude. Es diente als architektonisches Vorbild der Hagia Sophia. Im Jahr 1504 wurde es in eine Moschee umgewandelt, die heute "Kleine Hagia Sophia" genannt wird.
Die Kunsthistorikerin Alice Sullivan wiederum ist davon überzeugt, dass die Sergius-und-Bacchus-Ikone von der Sinai-Halbinsel in Ägypten stammt und erst im 19. Jahrhundert zusammen mit drei anderen Ikonen ihren Weg nach Kiew fand – notiert in einem Blogbeitrag des New Yorker Fordham Institus im März diesen Jahres. Demnach gehörte es ursprünglich zu dem am Mosesberg gelegenen Katharinenkloster aus dem sechsten Jahrhundert, einem der ältesten immer noch bewohnten Klöster des Christentums (und seit 2002 Weltkulturerbe).
Über vierzehn Jahrhunderte sicher bewahrt
Das Katharinenkloster ist gleichwohl ein Ort, an dem sich christliche, jüdische und muslimische Geschichte berühren. Es wird erzählt, dass es an genau jener Stelle erbaut wurde, an dem Moses in einem brennenden Dornbusch seine erste Gotteserscheinung erlebte.
Mohammed wiederum soll, noch bevor er als Prophet auftrat, mehrmals Gast im Kloster gewesen sein. Angeblich verfasste er später einen – heute in einem Istanbuler Museum ausgestellten – Brief, der den Klosterbestand in einer fortan muslimischen Region sichern sollte.
Doch allein schon wegen seiner isolierten Lage gehört das Katharinenkloster zu den wenigen christlichen Stätten aus jener Zeit, die nie verwüstet wurden. Das könnte auch erklären, warum die frühchristliche Sergius-und-Bacchus-Ikone so einzigartig ist: Dort fand sie Schutz vor mutwilliger Zerstörung, vor allem in den Phasen der Bilderstürme im achten und neunten Jahrhundert, als in Byzanz eine unschätzbare Anzahl von Heiligenbildern verloren gingen.
Über vierzehn Jahrhunderte konnte der Schatz von Kiew sicher bewahrt werden. Man kann nur hoffen, dass er auch die Bedrohung durch den russischen Angriffskrieg überstehen wird, ohne Schaden zu nehmen.
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Bei letzterer rufe ich mir, wenn es um Zeiten und Fortschritt geht, dann gerne in Erinnerung, dass es nach der Sklavenbulle von 1452 bis 1992 gedauert hat, bis mit Johannes Paul II. erstmals das Kirchenoberhaupt während einer Reise nach Afrika Abbitte gegenüber der schwarzen Erdbevölkerung geleistet hat oder sagen wir, das was man in der RKK eben unter Entschuldigung versteht. Die war übrigens in allen Jahrhunderten und vielen Themen mit den damaligen Intellektuellen überein. Zum größten menschenfeindlichen Rassistengesocks, das auch heute noch gerne zitiert, verklärt und gefeiert wird, gehörte u.a. Hegel, der schwarzen Menschen eine innewohnende Seele absprach. Ein Schicksal, das sie sich auch sehr lange mit der weiblichen Bevölkerung teilten.
Nun könnte man ja annehmen, dass die älteste, brutalste und blutrünstigste Terrororganisation der Erde, die die Sklaverei, den Kolonialismus, Frauen- und Homosexuellenmassenmord via mehrerer Bullen angeordnet hat, geächtet ist oder gelernt und verstanden hat, stattdessen führt man durch die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Homosexuellen in afrikansichen Ländern eben jenen Terror fort, lässt todeswürdige Menschen von indoktrinierten Staaten verfolgen und ermorden.