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Diskussion um Hetzartikel
"Welt"-Chefredakteur entschuldigt sich – bei Kolleg*innen
Nach Springer-Chef Döpfner reagiert nun auch "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt auf den queerfeindlichen Gastbeitrag, der in seiner Redaktion "zu langen und grundsätzlichen Diskussionen geführt" habe.
4. Juni 2022, 17:36h 4 Min. Von
Springer-Gaga, die Zweite: Nach Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner liefert nun auch "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt viele richtige Argumente, warum der queerfeindliche Gastbeitrag "Wie ARD und ZDF unsere Kinder sexualisieren und umerziehen" nicht hätte erscheinen dürfen – um im nächsten Absatz die Veröffentlichung der Hetzschrift zu verteidigen.
Unter der Überschrift "Vom Schmerz der Modernisierung" zeigte sich Poschardt am Samstag zunächst etwas zerknischt: "Viele Menschen haben wir – das muss man ganz nüchtern konstatieren – vor den Kopf gestoßen", erkannte der Chefredakteur richtig. "Auch in unserer Redaktion hat der Artikel zu langen und grundsätzlichen Diskussionen geführt." Dabei hätten ihn vor allem drei Argumente von Kolleg*innen "beeindruckt".
Die drei richtigen Erkenntnisse des Chefredakteurs
Zum einen müssten Journalist*innen immer auf Verhältnismäßigkeiten und auf Untertöne achten, erklärte Poschardt: "Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Text in einem großen Medium einen großen und starken Apparat kritisiert, ob man sich mit den Versäumnissen von Regierungsvertretern beschäftigt und blinde Flecken in einer öffentlichen Debatte angeht – oder ob man über Gruppen schreibt, die nicht selbst die Macht haben, die nicht bestimmen, sondern über die im Gegenteil bestimmt wurde, über lange Zeit, zum Teil bis heute."
Zum zweiten räumte Poschardt ein, dass Überschrift und Illustration "falsch" gewesen seien. Wörtlich heißt es dazu in seiner Stellungnahme: "Warum ist es falsch, eine Regenbogenfahne neben die Maus aus der 'Sendung mit der Maus' zu setzen und in der Überschrift des dazugehörigen Artikels von einer 'Sexualisierung' von Kindern zu reden, von deren 'Umerziehung'? Wer Kinder sexualisiert, begeht Missbrauch. Das Regenbogen-Banner hat mit Missbrauch oder Umerziehung aber nichts zu tun, es feiert die Selbstbestimmung und Freiheit von mündigen Menschen, zu der auch ihre Sexualität dazugehört. Trans*, schwul, bi oder lesbisch zu sein, ist keine Gefahr für Minderjährige oder etwas, wofür sich irgendjemand rechtfertigen müsste." Im Onlineartikel wurden Überschrift und Grafik mittlerweile geändert.
Als dritten Punkt ging Ulf Poschardt auf die Transfeindlichkeit des Gastbeitrags ein: "Kritisiert man etwa Berichterstattung über Transitionen, wie im Text geschehen, dann darf es nicht auch nur den geringsten Anschein erwecken, dass dabei nicht die Menschen als solche kritisiert werden, sondern Diskurse", so der Chefredakteur. "Dass das so doch passiert ist, ist ein Problem für eine Redaktion, in der gerade LGBTIAQ*-Themen eine wichtige Rolle spielen, in der lesbische und schwule Redakteur*innen und Autor*innen arbeiten."
Keine Entschuldigung bei der trans Community
Wer nach diesem deutlichen Urteil eine Entschuldigung und eine offizielle Rücknahme des Gastbeitrags erwartete, wurde enttäuscht. Trotz der schwerwiegenden Kritikpunkte verteidigte Poschardt die Veröffentlichung: "Die WELT nimmt für sich in Anspruch, zu den Medienmarken mit dem größtmöglichen Meinungsspektrum zu gehören", so der Redaktionsleiter. "Bei uns sollen stets auch die Stimmen zu Wort kommen, die anderswo ignoriert oder niedergebrüllt werden, weil sie dem allgemeinen Zeitgeist widersprechen (dass extremistische Positionen jeglicher Couleur davon ausgenommen sind, versteht sich von selbst). Daran halten wir auch in Zukunft fest, gerade in Zeiten, in denen immer mehr Medien sich scheuen, ihrem Publikum auch kontroverse Ansichten zuzumuten."
Eine überraschende und ziemlich alberne Entschuldigung gab es allerdings doch: "Bei einer Person möchte ich mich, stellvertretend für viele engagierte Kolleginnen und Kollegen im Unternehmen, aber ganz konkret entschuldigen", erklärte Poschardt. "Bei Philipp Kaste. Datenmanager und ein ebenso inspirierender wie kämpferischer Queer-Vertreter bei uns im Unternehmen. Er saß bei mir im Büro und war am Boden zerstört. Die Messe hatte uns ausgeladen, weitere Sanktionen drohten und ich fühlte, wie sehr wir mit diesem Text und den Reaktionen seine unglaublich verdienstvolle, wertvolle, besondere Arbeit kaputtgemacht haben."
In der Redaktion habe man "begonnen, zu überlegen, wie wir die einsetzende Diskussion um diesen Artikel vorantreiben können", schrieb Poschardt weiter. "Deswegen freue ich mich schon jetzt auf die Texte von Diana Kinnert, Sven Lehmann und Frédéric Schwilden dazu. Wir organisieren Streitgespräche zwischen den Verfassern des Gastbeitrages und den schärfsten Kritikern."
Am Mittwoch war Poschardt noch ein Fan des Gastbeitrags
Worauf Ulf Poschardt in seiner Stellungnahme leider nicht einging: Noch am Erscheinungstag hatte er den queerfeindlichen Gastbeitrag stolz auf seiner Facebookseite geteilt und sich dabei die Forderungen der Autor*innen zu eigen gemacht. "In TV-Sendungen, Rundfunkbeiträgen und auf den Social-Media-Kanälen des ÖRR ist zudem – immer ausgehend von der Falschaussage der Vielgeschlechtlichkeit – 'trans' ein Dauerthema", empörte sich der "Welt"-Chefredakteur in seinem Post. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse "dringend reformiert werden".

Lob für den Gastbeitrag: Ulf Poschardt am 1. Juni 2022 auf Facebook

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Das sind Profis. Die wissen genau was sie tun. Dieses mal haben sie vielleicht ein wenig zu viel gewagt, aber die Grenze wurde überschritten.
Beim nächsten mal ist es dann nicht mehr so viel Aufregung. Hauptsache irgendwas bleibt hängen.
Faux Nuuus und Murdoch machen es vor. Die kleinen Provinzfürsten aus Hamburg machen es nach.
Widerwärtiges Pack. (Darf man doch so sagen...ist ja alles nur eine bedauerliche Gastmeinung, mit der man gaaaar nix zu tun haben will.)