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Kinostart
Brutale Gewaltexzesse als humanistisches Plädoyer
Das belgische Filmdrama "Animals – Wie wilde Tiere" zeigt in ungeschönten Bildern auf, was Homohass in all seiner Grausamkeit bedeuten kann – ohne, dass die Täter zu einfachen Monstern degradiert werden.

Der schwule Brahim (Soufiane Chilah) wird Opfer eines grausamen Hassverbrechens (Bild: Cinema Obscure)
22. Juni 2022, 19:18h 5 Min. Von
Seit einigen Jahren schon ist in der Kino- und Filmwelt ein sprunghafter Anstieg an queeren Filmproduktionen zu beobachten – so weit, so überfällig. Zu oft aber zeichnen die Streifen ein Zerrbild der Gegenwart; zu oft verkommen ihre Protagonist*innen zu inhalts- und charakterlosen Marionetten der vielbeschworenen liberalen Gesellschaft, indem ihre Queerness für großstädtisch-hippe Lifestylepanoramen instrumentalisiert wird. Wenn Netlfix eine neue Serie mit "queerer Schlagseite" ankündigt, dann kann man sich sicher sein, dass sie vieles will – aber nicht, die mörderischen Facetten von Homo- und Transfeindlichkeit sichtbar zu machen. Denn die sehen schnell sehr, sehr hässlich aus. Und hässliche Bilder werden bekanntermaßen nur ungern konsumiert.
Das Filmdrama "Animals" des belgischen Regisseurs Nabil Ben Yadir kann daher als Antwort auf dieses Missverhältnisses gedeutet werden, als eine überaus wütende obendrein. Die Ausgangshandlung des Films ist schnell erzählt: Brahim (gespielt von Soufiane Chilah) ist 30 Jahre alt und schwul. Mit seinem Freund Thomas ist er seit fünf Jahren zusammen, doch zwingt ihn der islamisch-konservative Background seiner Familie, die Beziehung streng geheim zu halten und Thomas lediglich als "Kollegen" zu erwähnen. So bleibt die Illusion seiner Mutter unangetastet, der zufolge Brahim lediglich ein in der Entwicklung etwas verzögerter Sonderling ist, der früher oder später zum "Mann" heranwachsen wird. Was in diesem Falle bedeutet: eine Ehe mit einer Frau einzugehen und mit ihr Kinder in die Welt zu setzen.
Das aber kommt für Brahim nicht infrage. Zugleich warnt ihn sein Bruder Mehdi – der als einziger in der Familie von Brahims Beziehung weiß – eindringlich davor, sich zu outen: "Leb dein Leben, aber respektiere uns", fährt er ihn in einer Szene an. "Respekt" bedeutet in diesem Falle, die heteronormativ-konservative Scheinwelt seiner Familie aufrecht zu erhalten. So ist Brahim gezwungen, sein Glück zu verschweigen und sein verlogenes Doppelleben weiterzuführen.
Verlust des Status' "Mensch"
Nach einem eskalierten Streit mit seinem Bruder flüchtet sich Brahim ins sommerliche Nachtleben. Auf der Suche nach Thomas, den er telefonisch nicht erreichen kann, gerät er schließlich in Kontakt mit einer streitenden Männergruppe. Nach einem kurzen Austausch entscheidet er sich schließlich, bei ihnen ins Auto zu steigen.
Schnell entpuppen sich die vier Männer als toxische Machos, die – wie so oft in solchen Fällen – geradezu besessen sind von schwulen Fantasien. So wird Brahim einem informellen Charaktertest unterzogen, den er gemäß der gruppeninternen Logik schließlich verliert: Nach mehrmaligen, penetranten Nachfragen outet er sich als schwul. Eine verhängnisvolle Entscheidung, denn damit hat er für die Gruppe den Status "Mensch" verloren – er wird zum Freiwild.

Brahim streitet mit seinem Bruder (Bild: Cinema Obscure)
Was folgt, ist eine barbarische, in ihrer Brutalität kaum auszuhaltende Gewaltodyssee, in der wechselseitig die Perspektive des malträtierten Opfers und jene der prügelnden Täter eingenommen wird. Die besondere Stärke von "Animals" liegt darin, den Genuss der vier Männer, den sie im Zuge der Prügelorgie verspüren, derartig schonungslos darzustellen. Nur dadurch wird die Logik der Gewalt nachfühlbar, die oft unberücksichtigt bleibt, wenn nur die Opferperspektive beleuchtet wird. Für die vier Männer ist der Gewaltexzess einzig Ausdruck eines ausgelassenen, heiteren Abends. Ein kurzer Ausbruch aus dem tristen Alltag, der am nächsten Morgen wieder beginnen wird.
Das ist überhaupt die Brillanz dieses Films: Die Täter werden nicht als Monster degradiert, die es als solche zu verabscheuen gilt. Vielmehr wird aufgezeigt, wie die eigens erfahrenen kleinen und großen Demütigungen des Lebens die Lust steigern, selbst zum Täter zu werden. So etwa am Beispiel des 22-jährigen Loic (dargestellt von Gianni Guettaf), dessen Alltag in der zweiten Hälfte des Filmes – nach dem Gewaltexzess – beleuchtet wird. Geradezu anrührend wird seine Unsicherheit im Umgang mit dem älteren Bruder oder mit einer fremden jungen Frau aufgezeigt. Für einen Moment sympathisiert man mit ihm, und ist im nächsten Moment selbst darüber erschrocken.
Frei von Voyeurismus

Poster zum Film: "Animals – Wie wilde Tiere" startet am 23. Juni 2022 im Kino
Tatsächlich beruht die Storyline des Films auf einer wahren Begebenheit: Im Jahr 2012 wurde der 32-jährige Ihsane Jarfi in der belgischen Stadt Lüttich tot aufgefunden. Die Ermittlungen ergaben, dass er zehn Tage zuvor von einer Gruppe von vier Männern schwer misshandelt und schließlich allein zurückgelassen wurde – angeblich, weil er ihnen zuvor im Auto sexuelle Avancen gemacht habe. Die zwischen 25 und 35 Jahre alten Täter wurden in dem darauffolgenden Verfahren in den Anklagepunkten Totschlag, unmenschliche Behandlung, Erniedrigung und Freiheitsberaubung für schuldig gesprochen.
Die expliziten Gewaltdarstellungen basieren dabei u.a. auf den Gerichtsprotokollen des damaligen Prozesses. Trotz all der grausamen Bilder verwahrt sich der Film jedoch jeglicher voyeuristischer Motive, da der Genuss der Täter auf solch unauflösbare Weise mit dem Leid Brahims verschränkt wird, dass Ersteres am Ende nicht mehr ohne Letzteres zu haben ist. Jeder Faustschlag, jeder Steinwurf wird so am eigenen Leib erfahrbar, sodass eine passive Konsument*innenhaltung notwendigerweise scheitern muss.
Nicht zuletzt muss die Gewalt, die hier so ungefiltert dargestellt wird, genau so gezeigt werden, um die Zuschauer*innen jeglicher Illusionen zu berauben, derzufolge Queerfeindlichkeit heute nur noch ein sprachliches Problem sei, und sich damit ihrer physisch-mörderischen Komponente längst entledigt habe. Wer das tatsächlich glaubt, hat den gentrifizierten Innenstadtbereich seiner oder ihrer hippen Großstadtmetropole vermutlich seit Dekaden nicht mehr verlassen. Und selbst dann zeugt eine solche Haltung von schlichter Ignoranz.
Eine kleine filmische Sensation
"Animals" ist eine kleine filmische Sensation. Mehr als das Gros der etablierten Aufklärungsfilme in den Schulen hätte er das Zeug dazu, eigene Haltungsweisen, eigene Hassfantasien, die uns allen auf die eine oder andere Weise eingeschrieben sind, zu hinterfragen. Somit dient gerade die explifizierte Gewalt des Films dem Zweck, die vielbeschworene Toleranz und Menschlichkeit praktisch werden zu lassen.
Doch zugleich sei auch eine Warnung ausgesprochen: All jene, die selbst unter Gewalttraumata leiden und eine Retraumatisierung fürchten, sollten den Film angesichts seiner schonungslosen Bilder im Zweifel meiden.
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Animals – Wie wilde Tiere Drama. Belgien 2021. Regie: Nabil Ben Yadir, Darsteller*innen: Soufiane Chilah, Gianni Guettaf, Serkan Sancak, Lionel Maisin, Camille Freychet, Vincent Overath. Laufzeit: 91 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 0. Verleih: Cinema Obscure. Kinostart: 23. Juni 2022

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