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Kinostart

Brutale Gewaltexzesse als humanistisches Plädoyer

Das belgische Filmdrama "Animals – Wie wilde Tiere" zeigt in ungeschönten Bildern auf, was Homohass in all seiner Grausamkeit bedeuten kann – ohne, dass die Täter zu einfachen Monstern degradiert werden.


Der schwule Brahim (Soufiane Chilah) wird Opfer eines grausamen Hassverbrechens (Bild: Cinema Obscure)

Seit einigen Jahren schon ist in der Kino- und Filmwelt ein sprunghafter Anstieg an queeren Filmproduktionen zu beobachten – so weit, so überfällig. Zu oft aber zeichnen die Streifen ein Zerrbild der Gegenwart; zu oft verkommen ihre Protagonist*innen zu inhalts- und charakterlosen Marionetten der vielbeschworenen liberalen Gesellschaft, indem ihre Queerness für großstädtisch-hippe Lifestylepanoramen instrumentalisiert wird. Wenn Netlfix eine neue Serie mit "queerer Schlagseite" ankündigt, dann kann man sich sicher sein, dass sie vieles will – aber nicht, die mörderischen Facetten von Homo- und Transfeindlichkeit sichtbar zu machen. Denn die sehen schnell sehr, sehr hässlich aus. Und hässliche Bilder werden bekanntermaßen nur ungern konsumiert.

Das Filmdrama "Animals" des belgischen Regisseurs Nabil Ben Yadir kann daher als Antwort auf dieses Missverhältnisses gedeutet werden, als eine überaus wütende obendrein. Die Ausgangshandlung des Films ist schnell erzählt: Brahim (gespielt von Soufiane Chilah) ist 30 Jahre alt und schwul. Mit seinem Freund Thomas ist er seit fünf Jahren zusammen, doch zwingt ihn der islamisch-konservative Background seiner Familie, die Beziehung streng geheim zu halten und Thomas lediglich als "Kollegen" zu erwähnen. So bleibt die Illusion seiner Mutter unangetastet, der zufolge Brahim lediglich ein in der Entwicklung etwas verzögerter Sonderling ist, der früher oder später zum "Mann" heranwachsen wird. Was in diesem Falle bedeutet: eine Ehe mit einer Frau einzugehen und mit ihr Kinder in die Welt zu setzen.

Das aber kommt für Brahim nicht infrage. Zugleich warnt ihn sein Bruder Mehdi – der als einziger in der Familie von Brahims Beziehung weiß – eindringlich davor, sich zu outen: "Leb dein Leben, aber respektiere uns", fährt er ihn in einer Szene an. "Respekt" bedeutet in diesem Falle, die heteronormativ-konservative Scheinwelt seiner Familie aufrecht zu erhalten. So ist Brahim gezwungen, sein Glück zu verschweigen und sein verlogenes Doppelleben weiterzuführen.

Verlust des Status' "Mensch"

Nach einem eskalierten Streit mit seinem Bruder flüchtet sich Brahim ins sommerliche Nachtleben. Auf der Suche nach Thomas, den er telefonisch nicht erreichen kann, gerät er schließlich in Kontakt mit einer streitenden Männergruppe. Nach einem kurzen Austausch entscheidet er sich schließlich, bei ihnen ins Auto zu steigen.

Schnell entpuppen sich die vier Männer als toxische Machos, die – wie so oft in solchen Fällen – geradezu besessen sind von schwulen Fantasien. So wird Brahim einem informellen Charaktertest unterzogen, den er gemäß der gruppeninternen Logik schließlich verliert: Nach mehrmaligen, penetranten Nachfragen outet er sich als schwul. Eine verhängnisvolle Entscheidung, denn damit hat er für die Gruppe den Status "Mensch" verloren – er wird zum Freiwild.


Brahim streitet mit seinem Bruder (Bild: Cinema Obscure)

Was folgt, ist eine barbarische, in ihrer Brutalität kaum auszuhaltende Gewaltodyssee, in der wechselseitig die Perspektive des malträtierten Opfers und jene der prügelnden Täter eingenommen wird. Die besondere Stärke von "Animals" liegt darin, den Genuss der vier Männer, den sie im Zuge der Prügelorgie verspüren, derartig schonungslos darzustellen. Nur dadurch wird die Logik der Gewalt nachfühlbar, die oft unberücksichtigt bleibt, wenn nur die Opferperspektive beleuchtet wird. Für die vier Männer ist der Gewaltexzess einzig Ausdruck eines ausgelassenen, heiteren Abends. Ein kurzer Ausbruch aus dem tristen Alltag, der am nächsten Morgen wieder beginnen wird.

Das ist überhaupt die Brillanz dieses Films: Die Täter werden nicht als Monster degradiert, die es als solche zu verabscheuen gilt. Vielmehr wird aufgezeigt, wie die eigens erfahrenen kleinen und großen Demütigungen des Lebens die Lust steigern, selbst zum Täter zu werden. So etwa am Beispiel des 22-jährigen Loic (dargestellt von Gianni Guettaf), dessen Alltag in der zweiten Hälfte des Filmes – nach dem Gewaltexzess – beleuchtet wird. Geradezu anrührend wird seine Unsicherheit im Umgang mit dem älteren Bruder oder mit einer fremden jungen Frau aufgezeigt. Für einen Moment sympathisiert man mit ihm, und ist im nächsten Moment selbst darüber erschrocken.

Frei von Voyeurismus


Poster zum Film: "Animals – Wie wilde Tiere" startet am 23. Juni 2022 im Kino

Tatsächlich beruht die Storyline des Films auf einer wahren Begebenheit: Im Jahr 2012 wurde der 32-jährige Ihsane Jarfi in der belgischen Stadt Lüttich tot aufgefunden. Die Ermittlungen ergaben, dass er zehn Tage zuvor von einer Gruppe von vier Männern schwer misshandelt und schließlich allein zurückgelassen wurde – angeblich, weil er ihnen zuvor im Auto sexuelle Avancen gemacht habe. Die zwischen 25 und 35 Jahre alten Täter wurden in dem darauffolgenden Verfahren in den Anklagepunkten Totschlag, unmenschliche Behandlung, Erniedrigung und Freiheitsberaubung für schuldig gesprochen.

Die expliziten Gewaltdarstellungen basieren dabei u.a. auf den Gerichtsprotokollen des damaligen Prozesses. Trotz all der grausamen Bilder verwahrt sich der Film jedoch jeglicher voyeuristischer Motive, da der Genuss der Täter auf solch unauflösbare Weise mit dem Leid Brahims verschränkt wird, dass Ersteres am Ende nicht mehr ohne Letzteres zu haben ist. Jeder Faustschlag, jeder Steinwurf wird so am eigenen Leib erfahrbar, sodass eine passive Konsument*­innenhaltung notwendigerweise scheitern muss.

Nicht zuletzt muss die Gewalt, die hier so ungefiltert dargestellt wird, genau so gezeigt werden, um die Zuschauer*­innen jeglicher Illusionen zu berauben, derzufolge Queer­feindlichkeit heute nur noch ein sprachliches Problem sei, und sich damit ihrer physisch-mörderischen Komponente längst entledigt habe. Wer das tatsächlich glaubt, hat den gentrifizierten Innenstadtbereich seiner oder ihrer hippen Großstadtmetropole vermutlich seit Dekaden nicht mehr verlassen. Und selbst dann zeugt eine solche Haltung von schlichter Ignoranz.

Eine kleine filmische Sensation

"Animals" ist eine kleine filmische Sensation. Mehr als das Gros der etablierten Aufklärungsfilme in den Schulen hätte er das Zeug dazu, eigene Haltungsweisen, eigene Hassfantasien, die uns allen auf die eine oder andere Weise eingeschrieben sind, zu hinterfragen. Somit dient gerade die explifizierte Gewalt des Films dem Zweck, die vielbeschworene Toleranz und Menschlichkeit praktisch werden zu lassen.

Doch zugleich sei auch eine Warnung ausgesprochen: All jene, die selbst unter Gewalttraumata leiden und eine Retraumatisierung fürchten, sollten den Film angesichts seiner schonungslosen Bilder im Zweifel meiden.

Infos zum Film

Animals – Wie wilde Tiere Drama. Belgien 2021. Regie: Nabil Ben Yadir, Darsteller*innen: Soufiane Chilah, Gianni Guettaf, Serkan Sancak, Lionel Maisin, Camille Freychet, Vincent Overath. Laufzeit: 91 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 0. Verleih: Cinema Obscure. Kinostart: 23. Juni 2022

#1 LorenEhemaliges Profil
  • 22.06.2022, 19:37h
  • Danke für die Filmkritik. Für mich zu harte Kost, leider. Dennoch wichtig, Gewalt gewaltig darzustellen, weil viel zu viele über berichtete Gewalthandlungen nach meinem Eindruck irgendwie gleichgültig hinweggehen. Aber vielleicht können manche sowas auch nicht an sich ranlassen und müssen solche Erschütterungen (selbst in der Fantasie) meiden. Keine Ahnung. Nochmals danke.
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#2 StaffelbergblickAnonym
  • 23.06.2022, 10:40h
  • ups .. ich habe mit Gewaltdarstellungen im Film meine Probleme. Ich brauche die für mich jedenfalls nicht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich "Clockwork Orange" sah: Diese Gewaltszenen, die im Vergleich zum beschriebenen Film wohl eher milde dargestellt waren, reichten mir. Und dann gibt es "Gewaltszenen" die in ihrer Ausdrucksweise stärker wirken können. Mir fällt dazu immer Faßbinders "In einem Jahr mit 13 Monden" ein.
    Einen anderen Aspekt sehe ich darin, dass gewaltbereite Menschen durch solche Darstellungen sich motiviert und womöglich unterstützt fühlen. Aber zur genaueren Analyse dürfen sich psychoanalytische Kreise auslassen.
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#3 Ith_Anonym
  • 23.06.2022, 11:14h
  • Ok, ich habe jetzt mehr als einen Ansatz hierzu gehabt, ich glaube, ich bleibe beim Ersten. Let's go.

    Will ich, dass das Hetero-Publikum sich soweit in den Tätern erkennt, dass es sich angeklagt fühlt?
    Oh ja.

    Will ich Empathie für Täter*innen?
    No way.

    Was ich mir als Sahnehäubchen solcher "bestrafe einen Schwulen, erziehe Hunderte Queers zu Angst"-Filme wünsche:
    Einen Schwulen, der am Ende der aufrecht stehende Held ist.

    Und Täter, an denen brutalstmögliche Rache genommen wird, so dass sie am Ende im Staub kriechen.

    Bin ich insofern okay mit brutalstmöglicher Gewalt? Klar. Wenn sie sich auf die Rache gegen die Täter beschränkt. Solange dabei die queerfeindliche Gewalt nur angedeutet wird, mit der naturgemäß ich mich sehr viel mehr identifizieren werde als sämtliche zuschauende Heten. Das Problem des Grim-Dark-Genres ist generell, dass es Brutalität normalisiert und auf der emotionalen Ebene durch die gezielt erzeugte Identifikation die Verurteilung von und Abgrenzung gegenüber Gewalt erschwert. Im Grunde ist die Verhinderung von Abgrenzung bei drastischen Szenen selbst eine Form von psychischer Gewalt der Regie gegenüber Zuschauenden.
    Kann man das okay finden? Klar. Sollte man hier so tun, als ob diese Gewalt auf das Hetero- und das queere Publikum gleichermaßen aufgeteilt würde und als habe dieses Stilmittel etwas mit Gerechtigkeit zu tun, weil es ja immerhin "auch" die Heten abbekommen? Halte ich für fragwürdig.

    Was ich will: Den Schwulen am Ende triumphierend lächeln sehen, körperlich gesünder als die Täter. Und die Täter zwischendurch heulend, winselnd und bettelnd und am Ende auch meinetwegen tot. Denn mir sind DIE egal, für mich sind DIE die Statisten, um die es eigentlich nicht geht und die ich von daher auch nicht bis zum Ende begleiten möchte (beim hetero gedachten Publikum ist es umgekehrt).

    Ich will nicht, dass das Hetero-Publikum sich unterhalten, aber weiterhin in der sicheren Gewissheit fühlt, in einer Welt zu leben, in der ihm niemals nur halb so schlimme Dinge passieren können wie mir.
    Was ich mir wünsche, sind Dramen, nach denen hinterher die Heten Angst haben. Und ICH mich stärker und auch körperlich gesünder und sicherer fühle als sie (bzw. ihre verkrüppelte oder tote Identifikationsfigur).

    Neben dem "nur der tote schwule Held, ist ein guter schwuler Held"-Trope habe ich auch die "Heiligen"- Stärke über, mitfühlend lächelnd Leuten zu "verzeihen" (aka sich unterwerfend in die cis-het-Welt zu resozialisieren, indem man sicherstellt, bloß bei keiner Hete im Umfeld irgendwelche negativen Gefühle zu erzeugen), die Hass verdient haben - und zwar für ihre Entscheidungen und Taten statt dafür, sie selbst zu sein. Es soll ruhig mal das sein, was den Heten nach solchen Filmbeispielen das sichere Gefühl gibt, dass Gerechtigkeit mir gegenüber eigentlich bloß Glück oder großzügige Gnade ist: Auch in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit als Sieger dazustehen.

    Ich will keine queeren Märtyrer und ich will kein Mitgefühl für Täter. Da es sie schon im realen Leben nie gibt, will ich sie wenigstens in Filmen mal sehen: Stinkeinfache, erfolgreich durchgezogene Rache.
    Ich will einfach nur EINMAL die Person sein, die lächelnd vor Genugtuung da rausgeht, während mein Cis-Het-Umfeld den Gesichtsausdruck annimmt, der sich bei mir regelmäßig einstellt, wenn ich hier die Nachrichten überfliege.

    Ok, vergessen wir es, sowas könnte nie ein Film sein und auch kein verlagstaugliches Buch, denn keine Hete würde sich das antun, aka kein Absatz, aka keine Ressourcen. Vielleicht schreib ich es mir selbst.

    PS: Danke für den CN-Hinweis, der auf der Kinoseite und in der Filmbeschreibung natürlicherweise wieder mal fehlt. Gerade bei einer Regie, die gezielt den psychischen Schutzmechanismus der Abgrenzung verhindert und dem (hetero gedachten, also sich nur wenig identifizierenden) Publikum keinen anderen Ausweg als die Abstumpfung lässt, gehe ich mal stark davon aus, dass man sich da als queere Person ein ordentliches Trauma einfangen kann. Die Kombi queerfeindliche Verbalgewalt + körperliche Gewalterfahrung kann sich ziemlich tief eingraben, besonders wenn man queer ist. Aber wenn es Mainstream sein und Geld einspielen soll... drehst du es nunmal für die Heten.
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