René_ Rain Hornstein hat in dieser Woche viele cisgeschlechtliche Menschen kurz zur Weißglut getrieben, weil Hornstein nicht nur die Deutsche Bahn auf Einführung einer dritten Option zur Anrede verklagt, sondern den Prozess obendrein auch noch gewonnen hat.
Die Bahn darf Hornstein wegen des am Dienstag bekannt gewordenen, rechtsgültigen Urteils nicht mehr wie bisher in der Kommunikation zur Bahncard Hornsteins oder bei Fahrkartenbuchungen mit "Herr" oder "Frau" ansprechen, muss also bei der Registrierung etwa auf ihrer Website eine weitere Geschlechtskategorie anbieten. Außerdem muss sie 1.000 Euro Entschädigung an Hornstein zahlen. Ein ähnliches Urteil zu einer anderen nichtbinären Person war bereits im April bekannt geworden, ist jedoch wegen eingelegter Rechtsmittel bisher nicht gültig (queer.de berichtete).
Grund genug für queer.de, Hornstein ein Mal zu fragen: Warum?
queer.de: Warum verklagt man die Bahn auf eine dritte Anredeoption?
Weil die Bahn auf Briefe nicht reagiert – beziehungsweise nicht freundlich reagiert.
Also du hast Briefe geschrieben und hast gebeten: "Liebe Bahn, könnt Ihr doch nicht vielleicht …"?
Ja, genau. Also: "Ich bin nichtbinär, das ist verletzend, bitte ändern Sie das, wär nett", so. Daraufhin wurden ziemlich unverschämte Briefe zurückgeschrieben, wo es hieß: "Ach, wir sind doch total pro LSBTIQ und pro divers, wir haben die Charta der Vielfalt unterschrieben und das kann gar nicht sein, was Sie uns hier vorwerfen." Weil man doch gute Absichten habe, könne man ja gar nicht diskriminieren. Inhaltlich ist dann gar nicht darauf eingegangen worden, dass ich gesagt habe, dass für mich eine falsche Anrede eine Diskriminierung darstellt.
Also sie haben sich rein gegen den Vorwurf verteidigt, ein irgendwie diskriminierendes oder problematisches Unternehmen zu sein, aber sich gar nicht mit der Frage nach der Anrede beschäftigt?
Genau. Ich hatte auch ein bisschen das Fragezeichen bei mir, ob die das verstanden haben. Ich war mir nicht sicher, ob die decodieren konnten, was mein Anliegen war. Ein Problem war aber auch, dass es dann in der Korrespondenz von deren Seite im Ton eskalierte. Es kamen Vorwürfe und Unterstellungen und das in einer Ruppigkeit, die aus meiner Sicht respektlos und unhöflich ist. Da wurde deutlich, dass sie nicht bereit sind, inhaltlich auf mein Anliegen einzugehen. Und dann habe ich die Klage gewählt. Die Klage ist also nicht mein erster Schritt, sondern sie steht am Ende einer kommunikativen Eskalation.
Hast du eine Ahnung, warum die das nicht verstanden haben? Geht das aus dem Schreiben hervor?
Ja. Ich glaube, dass von den Personen, die das geschrieben haben, nicht verstanden wurde, was der Unterschied zwischen sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität ist. Ich glaube, dass die sich für "pro homo" halten, dass sie aber nicht verstanden haben, dass sie, obwohl sie eine bestimmte Kultur und gute Absichten haben, trotzdem problematisches Verhalten oder problematische Strukturen haben können, die ihren Absichten entgegen laufen. Ich glaube auch, diese Unterscheidung von Absicht und Effekt ist nicht vorhanden gewesen.
Es gab jetzt eine Berufungsverhandlung. Vorher gab es schon eine Verhandlung mit einer gerichtlichen Anhörung – oder noch mehr als das?
Nein. Es gab nur eine Anhörung vor dem Landgericht und eine Anhörung vor dem Oberlandesgericht. Die Gegenseite wurde von einer hauseigenen Rechtsanwältin der Bahn selber vertreten. Hinzu kam ein externer Anwalt von der Kanzlei Bräutigam. Das ist eine sehr große Kanzlei, die zum Beispiel auch Ernst & Young vertritt. Es ist also ein sehr teurer Anwalt. Beide haben mich in den Verhandlungen misgendert. Durch das Publikum ging dann immer ein Raunen. Ich habe immer viel Publikum da gehabt, also solidarische Menschen, die extra zur Unterstützung gekommen sind.
Herr Bräutigam hat dann leider auch Dinge gesagt, die sehr trivialisierend waren. Zum Beispiel meinte er in der Landgerichtsanhörung, dass er ja auch schon mal per Brief misgendert wurde. Er sei ein Mal von Ikea als "Fräulein" bezeichnet worden und als Student sei ihm das in einem Brief des Studierendensekretariats passiert. Das sei aber gar nicht schlimm gewesen. Er hat es also mit seiner Erfahrung verglichen und es so trivialisiert, was es für mich bedeutet.
Mündlich wie schriftlich hat er im ersten Verfahren entsprechend noch argumentiert, dass die Sache doch unterhalb einer gewissen Leidensschwelle liegen würde. Es gibt ja rechtlich eine gewisse Bagatellgrenze. Aber darauf waren wir vorbereitet. Deswegen habe ich ein Gutachten einer Psychologin in den Prozess eingebracht. Die hat dargelegt, dass ich unter den falschen Ansprachen leide, dass ich zwar ansonsten psychisch gesund bin, aber eben belastet werde.
Das Oberlandesgericht hat dieses Gutachten später dann auch zitiert. Das war also offenbar relevant, das auf so einer individuellen, psychologischen Ebene zu argumentieren – leider. Aber das haben wir so auch vorhergesehen. Das heißt, der Anwalt hat das aus seiner ganz persönlichen Anschauung heraus ignoriert. In einem Folgeschriftsatz nach der ersten Verhandlung hat er auch geschrieben, dass man mir ja ansehen könnte, dass ich "ein Mann" sei.
Hast du den Eindruck, dass das Misgendern vor Gericht etwas Taktisches hatte?
Das war spontan, interaktionell. Ich glaube nicht, dass das Taktik war. Ich glaube, dass die mich für einen Mann halten und dass sie es nicht hinkriegen, neutral zu reden, weil die Sprachgewohnheit fehlt. Aber ich glaube nicht, dass die mich extra verletzen wollten. Das habe ich aber auch schon erlebt. Ich war schon im Publikum bei Verhandlungen, wo Leute extra misgendert wurden. Das war hier aber nicht der Fall.
Die Richter*innen haben es indes geschafft, immer geschlechtsneutral über mich zu sprechen. Das war schon deutlich, dass die Anwält*innen der Bahn dann diesen Sprech der Richter*innen irgendwann auch übernommen haben, wenn dann etwa von "die klagende Partei" die Rede war. Aber das ist ihnen nicht immer gelungen – vor allem, wenn sie in die Ecke gedrängt wurden. Mich hat das alles persönlich sehr belastet. Ich habe auch beinahe angefangen, zu weinen, und konnte mich nicht konzentrieren. Ich war auch ganz froh, dass ich von zwei Anwält*innen vertreten wurde. Die konnten sich dann voll auf die juristischen Aspekte der Verhandlung konzentrieren.
Kann man sagen, dass die Richter*innen da also eher auf deiner Seite waren? Und wenn ja, eher menschlich und im Umgang, oder auch wegen ihrer juristischen Haltung?
Beides. Die Richterin vom Oberlandesgericht wollte schlussendlich erreichen, dass die Bahn einen Vergleich mit mir schließt, und hat die Gegenseite darum mit recherchierten Fakten unter Druck gesetzt. Die hat dann zum Beispiel gesagt: Die Bahn stellt so und so viel Personal pro Tag ein, die Bahn hat so und so viel Umsatz, also sind das hier doch nur Peanuts.
Sie wollte dann zunächst erreichen, dass ich erst mal von der Bahn eine Sonderbehandlung bekomme. Das hätte so ausgesehen, dass man eine Person für mich abstellt, die ich anrufen kann und die dann die Tickets für mich bucht. Das sollte es mir "leichter machen", wobei ich es nicht leichter finde, eine Person anzurufen als eine Maschine zu benutzen.
Letztlich haben die Richter*innen die Gegenseite dazu gebracht, mir außerdem eine Bahncard 100 als Vergleich anzubieten. Dann entfällt ja das Buchen. Das habe ich dann aber in der Anhörung am Oberlandesgericht abgelehnt, weil ich lieber ein Urteil wollte.
Was bedeutet das Urteil in der Sache? Ist die Bahn jetzt verpflichtet, dich angemessen zu behandeln, oder ist sie verpflichtet, alle Kund*innen angemessen zu behandeln?
Das ist eine Zeitfrage. Ab Rechtskraft, also heute, ist die Bahn verpflichtet, mich nicht mehr zu misgendern. Das bezieht sich auf Newsletter, Rechnungsbriefe und Tickets. Das können sie aber wohl nicht umsetzen.Ich glaube, wenn ich jetzt ein Ticket buchen würde, würde ich wieder misgendert werden.
Hast du vor, eins zu buchen? Da hast du dich darüber bestimmt mit deinen Anwält*innen beraten.
Wir haben darüber geredet, aber ich habe keine Entscheidung gefällt. Ich habe gerade auch keinen Anlass, ein Ticket zu buchen und ich will die Bahn auch nicht fertig machen oder so. Ich möchte gerne mit der Öffentlichkeit über die Folgen des Urteils reden und hoffe, dass die Bahn jetzt einfach mal was umstellt. Ich glaube, die arbeiten auch schon daran.
Zudem besteht ein Unterlassungsanspruch und ein Vollstreckungsurteil. Das bedeutet, dass die Bahn ab jetzt für jede Misgenderung eine Summe von 0 bis 250.000 Euro an den Staat zahlen muss. Die konkrete Summe würde dann von einem Gericht festgelegt.
Mittelfristig, ab dem 1. Januar 2023, gilt das für andere Personen auch. Das heißt: Das Buchungssystem muss dann komplett umgestellt sein. Ich würde aber trotzdem, wenn Personen das jetzt schon für sich wünschen, empfehlen, an die Bahn heranzutreten und Briefe zu schreiben. Wenn die in den Briefen dann pampig reagieren, können die Personen sich gerne melden.
Wie erreicht man dich denn?
Man kann einfach an die TIN-Rechtshilfe schreiben.
Das Gericht hat es als erschwerend interpretiert, dass die Bahn auf mein Herantreten an sie so reagiert und alles abgeblockt hat. Das hat eine Rolle für die Höhe des Schmerzensgeldes gespielt. Deswegen versuche ich allen anderen Menschen nahezulegen, auch erst mal zu versuchen, das so zu klären und sonst eventuell auch ein Schmerzensgeld zu fordern. Es gibt ja Leute, die sich in der selben Angelegenheit schon an die Bahn gewandt haben. Die dürfen sich also auch gern bei uns melden.
Ein "Gegenargument", das man häufig liest, ist ja dieser Ausspruch "Haben wir keine anderen Probleme?" Aber ist das wirklich so eine große Sache für die Bahn, oder ist das nicht eigentlich eine Frage, bei der sich eine IT-Expertin mal kurz an das System setzen müsste?
Die Bahn hat im Landgerichtsverfahren gesagt: "Wir haben gerade eine Flut und wir haben Corona und das Geld ist doch anderswo besser aufgehoben." Sie haben die Sache auf 3 Millionen Euro geschätzt. Das Problem ist, dass der Code des Systems alt ist und die Fachleute diese gewachsene Struktur von damals nicht mehr verstehen. Da könnte es also zu Domino-Effekten kommen, also dass Sachen kaputt gehen, wenn man in den alten Code eingreift.
Ich halte das Kostenargument aber für kein plausibles Gegenargument. Ich würde mit Konstanze Plett argumentieren, die auch ganz viele Trans- und Inter-Fälle juristisch unterstützt hat. Sie sagt immer in solchen Fällen: Die Durchsetzung der Grundrechte von Individuen ist nicht zu teuer. Das hat das Verfassungsgericht auch immer wieder so entschieden.
Es gibt kein Aufwiegen, dass also die Grundrechte einer zahlenmäßig kleinen Gruppe weniger wert wären als die Mehrheitsrechte. Menschenrechte sind nicht aufwiegbar und es ist auch für eine einzelne Person nicht zu teuer – in meinem Fall ist es ja gar nicht eine einzelne Person, sondern eine ganze Gruppe.
Hat das Urteil Auswirkungen auch für andere Unternehmen?
Ja. Es hat eine Relevanz für alle anderen Unternehmen im Feld Waren und Dienstleistungen, sogenannte Massengeschäfte. Es geht also um Geschäfte, die nicht unter Ansehung der Person und des Individuums stattfinden, sondern automatisiert und massenhaft ablaufen. Denken wir an Verkaufsplattformen im Internet.
Krankenkassen?
Nein, das ist ein anderes Gebiet. Für Krankenkassen oder zum Beispiel Hochschulen – das ist das selbe Rechtsgebiet, es ist beides Verwaltungsrecht – finde ich, lässt sich analog argumentieren. Es ist aber jeweils die Frage, ob das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zur Anwendung kommt.
Das AGG ist zum Beispiel so konstruiert, dass Student*innen da extra raus fallen. Das war eine Unions-Entscheidung. Manche Landeshochschulgesetze haben dann explizit reingeschrieben bekommen, dass das AGG im betreffenden Bundesland doch auch für Student*innen gilt. Ich würde jede Person ermutigen und ich könnte auch Anwält*innen empfehlen, die das dann durchkämpfen würden. Das müsste da also noch neu gerichtlich entschieden werden. Ich denke, dass es eine Ausstrahlungswirkung hat, aber die konkreten Verfahren müsste es noch geben.
Also wird weiter juristisch gekämpft werden müssen.
Ja. Die aktuelle Situation ist noch nicht fair und es ist sinnvoll, diskriminierende Strukturen da auch juristisch weiter anzugehen.