Wandelt sich da etwa einer vom Saulus zum Paulus oder hat er nur ein gutes Gespür für Eigen-PR? Während Boris Palmer in den letzten Jahren eher mit transfeindlichen und rassistischen Provokationen und Attacken gegen die angeblich zu aggressive LGBTI-Bewegung aufgefallen ist, setzt sich der Tübinger Oberbürgermeister, der in Folge eines Ausschlussverfahrens sein grünes Parteibuch bis Ende 2023 ruhen lässt, nun überraschend an die queerpolitische Spitze. Am Donnerstagabend entschuldigte sich Palmer im Rahmen eines Festakts im Stadtmuseum bei einem Tübinger Opfer des Paragrafen 175 und sprach ihm eine Entschädigung von 6.000 Euro zu. Eine Premiere in Deutschland, keine andere Kommune zuvor übernahm auf diese Weise Verantwortung.
Der Mann, um den ging, ist kein Unbekannter. Der Gastwirt Helmut Kress, Jahrgang 1946, gehört zu bekanntesten Zeitzeug*innen in Deutschland, die im "Archiv der anderen Erinnerungen" der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld von der Verfolgung queerer Menschen nach 1945 erzählen. Seine bewegende Geschichte hat mit zum 2017 verabschiedeten Rehabilitierungsgesetz geführt. Bei der ersten Lesung wurde er vom damaligen Justizminister Heiko Maas (SPD) persönlich in den Bundestag eingeladen. Mit seiner Bereitschaft und dem Mut, über sein Leben zu sprechen, hat Kress wesentlich zur Akzeptanz des Gesetzes in der Öffentlichkeit beigetragen.
Einzelhaft wegen eines Liebesbriefs
Helmut Kress wurde 1961 wegen eines Liebesbriefs an einen Mann verhaftet (Bild: Micha Schulze)
Was Kress 1961 widerfahren ist, lässt einem in der Tat den Atem stocken. Im Alter von nur 15 Jahren wurde er als Azubi bei der Stadtverwaltung Tübingen am Arbeitsplatz verhaftet und in Handschellen abgeführt. Sein Vergehen: Man hatte in seiner Schreibtischschublade einen Liebesbrief an einen Mann gefunden. Der damalige Oberbürgermeister Hans Gmelin, parteiloser Vor-Vor-Vorgänger von Boris Palmer, brachte den Fund persönlich zur Anzeige. Helmut Kress wurde wie ein Schwerverbrecher stundenlang bei der Polizei verhört und später wegen Paragraf 175 vor Gericht gestellt. Er erhielt eine Jugendstrafe und saß diese in Einzelhaft im Jugendgefängnis in Oberndorf ab.
"Es war Unrecht, was Helmut Kress damals angetan wurde", sagte Palmer in seiner angemessenen, sogar sensiblen Ansprache. "Das hat tiefe Spuren in seinem Leben hinterlassen. Sein Schicksal macht uns heute sehr betroffen." Auch wenn man damalige Wertevorstellungen berücksichtige, sei Gmelins Verhalten nicht zu rechtfertigen. "Es gab keine Pflicht des OB, ihn anzuzeigen, er war dazu nicht verpflichtet", sagte Palmer. Sein Vor-Vor-Vorgänger hätte den Bauzeichner-Lehrling auch zu einem ernsten Gespräch beiseite nehmen können, anstatt seine berufliche Laufbahn bei der Stadt und sein Verhältnis zu seinem Vater zu zerstören.
Bei der Homoverfolgung lag Baden-Württemberg an der Spitze
Nur einen Fehler leistete sich der OB, als er behauptete, dass die Nazi-Fassung des Paragrafen 175 von der Bundesrepublik verschärft worden sei – richtig ist, dass sie unverändert übernommen wurde. Korrekt erinnerte Palmer in seiner Rede daran, dass die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller in Baden-Württemberg besonders stark war. Die Gründe dafür müssten noch besser erforscht werden, forderte er. Er selbst vermutet, dass die Kontinuität von NS-Jurist*innen in der bundesdeutschen Justiz, aber auch die eigens eingerichteten Abteilungen für Vergehen gegen den Paragraf 175 dabei eine Rolle gespielt haben könnten. "Wo Kapazitäten da sind, hat das auch Folgen."
Zusammen mit Daniel Baranowski von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der bei der Veranstaltung aus dem bewegenden Zeitzeugeninterview mit Kress zitierte, forderte Palmer andere Kommunen auf, dem Beispiel Tübingens zu folgen. Der Ort der Entschuldigung war übrigens gut gewählt: Im Stadtmuseum kann noch bis zum 17. Juli 2022 die Ausstellung "Queer durch Tübingen" besichtigt werden.
Helmut Kress saß im historischen Kornhaus in der ersten Reihe und hörte den Reden gerührt zu. Von den 6.000 Euro wolle er sich ein Elektromobil für Senior*innen kaufen, verriet er gegenüber queer.de. "Mit dem Laufen wird es langsam schwierig."
Es gibt Ekelpakete auf allen Farben des Regenbogens.
Freuen wir uns und hoffen auf mehr good news aus Tübingen!