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Tübingen

Wie ausgerechnet Boris Palmer zum queerpolitischen Vorreiter wurde

Als erste deutsche Kommune hat Tübingen ein Opfer des Paragrafen 175 entschädigt. Helmut Kress wurde 1961 von Palmers Vor-Vor-Vorgänger Hans Gmelin bei der Staatsanwaltschaft denunziert.


"Ich entschuldige mich" – Boris Palmer am Donnerstagabend vor einer Regenbogenwand mit queeren Begriffen im Tübinger Stadtmuseum (Bild: Micha Schulze)

Wandelt sich da etwa einer vom Saulus zum Paulus oder hat er nur ein gutes Gespür für Eigen-PR? Während Boris Palmer in den letzten Jahren eher mit transfeindlichen und rassistischen Provokationen und Attacken gegen die angeblich zu aggressive LGBTI-Bewegung aufgefallen ist, setzt sich der Tübinger Oberbürgermeister, der in Folge eines Ausschlussverfahrens sein grünes Parteibuch bis Ende 2023 ruhen lässt, nun überraschend an die queerpolitische Spitze. Am Donnerstagabend entschuldigte sich Palmer im Rahmen eines Festakts im Stadtmuseum bei einem Tübinger Opfer des Paragrafen 175 und sprach ihm eine Entschädigung von 6.000 Euro zu. Eine Premiere in Deutschland, keine andere Kommune zuvor übernahm auf diese Weise Verantwortung.

Der Mann, um den ging, ist kein Unbekannter. Der Gastwirt Helmut Kress, Jahrgang 1946, gehört zu bekanntesten Zeitzeug*­innen in Deutschland, die im "Archiv der anderen Erinnerungen" der Bundes­stiftung Magnus Hirschfeld von der Verfolgung queerer Menschen nach 1945 erzählen. Seine bewegende Geschichte hat mit zum 2017 verabschiedeten Rehabilitierungsgesetz geführt. Bei der ersten Lesung wurde er vom damaligen Justizminister Heiko Maas (SPD) persönlich in den Bundestag eingeladen. Mit seiner Bereitschaft und dem Mut, über sein Leben zu sprechen, hat Kress wesentlich zur Akzeptanz des Gesetzes in der Öffentlichkeit beigetragen.

Einzelhaft wegen eines Liebesbriefs


Helmut Kress wurde 1961 wegen eines Liebesbriefs an einen Mann verhaftet (Bild: Micha Schulze)

Was Kress 1961 widerfahren ist, lässt einem in der Tat den Atem stocken. Im Alter von nur 15 Jahren wurde er als Azubi bei der Stadtverwaltung Tübingen am Arbeitsplatz verhaftet und in Handschellen abgeführt. Sein Vergehen: Man hatte in seiner Schreibtischschublade einen Liebesbrief an einen Mann gefunden. Der damalige Oberbürgermeister Hans Gmelin, parteiloser Vor-Vor-Vorgänger von Boris Palmer, brachte den Fund persönlich zur Anzeige. Helmut Kress wurde wie ein Schwerverbrecher stundenlang bei der Polizei verhört und später wegen Paragraf 175 vor Gericht gestellt. Er erhielt eine Jugendstrafe und saß diese in Einzelhaft im Jugendgefängnis in Oberndorf ab.

"Es war Unrecht, was Helmut Kress damals angetan wurde", sagte Palmer in seiner angemessenen, sogar sensiblen Ansprache. "Das hat tiefe Spuren in seinem Leben hinterlassen. Sein Schicksal macht uns heute sehr betroffen." Auch wenn man damalige Wertevorstellungen berücksichtige, sei Gmelins Verhalten nicht zu rechtfertigen. "Es gab keine Pflicht des OB, ihn anzuzeigen, er war dazu nicht verpflichtet", sagte Palmer. Sein Vor-Vor-Vorgänger hätte den Bauzeichner-Lehrling auch zu einem ernsten Gespräch beiseite nehmen können, anstatt seine berufliche Laufbahn bei der Stadt und sein Verhältnis zu seinem Vater zu zerstören.

Bei der Homoverfolgung lag Baden-Württemberg an der Spitze

Nur einen Fehler leistete sich der OB, als er behauptete, dass die Nazi-Fassung des Paragrafen 175 von der Bundesrepublik verschärft worden sei – richtig ist, dass sie unverändert übernommen wurde. Korrekt erinnerte Palmer in seiner Rede daran, dass die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller in Baden-Württemberg besonders stark war. Die Gründe dafür müssten noch besser erforscht werden, forderte er. Er selbst vermutet, dass die Kontinuität von NS-Jurist*innen in der bundesdeutschen Justiz, aber auch die eigens eingerichteten Abteilungen für Vergehen gegen den Paragraf 175 dabei eine Rolle gespielt haben könnten. "Wo Kapazitäten da sind, hat das auch Folgen."

Zusammen mit Daniel Baranowski von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der bei der Veranstaltung aus dem bewegenden Zeitzeugeninterview mit Kress zitierte, forderte Palmer andere Kommunen auf, dem Beispiel Tübingens zu folgen. Der Ort der Entschuldigung war übrigens gut gewählt: Im Stadtmuseum kann noch bis zum 17. Juli 2022 die Ausstellung "Queer durch Tübingen" besichtigt werden.

Helmut Kress saß im historischen Kornhaus in der ersten Reihe und hörte den Reden gerührt zu. Von den 6.000 Euro wolle er sich ein Elektromobil für Senior*innen kaufen, verriet er gegenüber queer.de. "Mit dem Laufen wird es langsam schwierig."

15 Kommentare

#1 tychiProfil
  • 23.06.2022, 21:22hIrgendwo im Nirgendwo
  • Vielleicht ist es an der Zeit, die Welt nicht mehr in schwarz und weiss einzuteilen, nicht immer nur Freunde und Feinde, Allies und Queerphobe...

    Es gibt Ekelpakete auf allen Farben des Regenbogens.

    Freuen wir uns und hoffen auf mehr good news aus Tübingen!
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#2 PrideProfil
  • 23.06.2022, 21:39h...
  • Mein Vertrauen kriegt der Typ nicht. Das Porzellan ist zerschlagen. Der nächste Klopper wird kommen, um sich ihm dann mit seinen Aussagen in einem Kompromiß nähern zu sollen und dann doch alles so in Richtung Queerfeindlichkeit weiter zu verschieben.
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#3 HexeAnonym
  • 24.06.2022, 00:02h
  • Abwarten!
    Viele Leute haben nix gegen Homosexuelle Menschen, aber bei trans und co hört der Spaß auf!
    Zudem hat er sich ja auch überwiegend transfeindlich benommen.

    Wäre schön wenn Hirn gewachsen ist.
    Aber jetzt so tun als wenn alles was er bisher getan hat durch diese eine gute Tat wieder gut gemacht ist, wäre naiv.

    Wiedergutmachung erfordert noch etwas mehr. Und am Ende ist es vielleicht nur wieder ein mieser Move.

    Da kann noch mehr hinter stecken.
    Zum Beispiel jetzt gegen die Grünen stänkern und gleichzeitig sagen "Guck, ich war nie gegen lbgtiq!"

    Das G ist davon aber nur ein Buchstabe!

    Jeder hat das Recht auf Absolution.

    Aber auch erstmal schauen wie sich das entwickelt!
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#4 tchantchesProfil
#5 schwarzweißAnonym
  • 24.06.2022, 08:21h
  • Antwort auf #4 von tchantches
  • Für viele Menschen, oft diejenigen, die am lautesten sind, gibt es leider nur "schwarz-weiß", "gut-böse" usw.
    Sie kennen in ihrem Denken keine Zwischenstufen und Schattierungen. Sie brauchen das Absolute, sie brauchen den Zoff, die Abwertung des Anderen, um sich selbst zu erhöhen.

    Sie sehen beim Anderen bei dessen
    nur kleinster Abweichung von ihren eigenen Ansichten eine Gefährdung ihres "Ichs", ihres Selbstbewusst-Seins.
    Auch wenn sie vielleicht Vielfalt propagieren, stören sie sich an Menschen, die ihre Ansichten nicht teilen.
    Oder an Menschen, die aus ihren Fehlern gelernt haben und heute anders denken - nach dem Motto: Einmal Scheiße, immer Scheiße ...
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#6 aberNaKlarDochAnonym
#7 GodotAnonym
  • 24.06.2022, 10:02h
  • Und der GröFaZ war ein toller Arbeitsminister, weil er die Arbeitslosenzahlen radikal gesenkt hat.

    Theater des Absurden.
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#8 KontextAnonym
  • 24.06.2022, 10:55h
  • Antwort auf #5 von schwarzweiß
  • Fällt dir eigentlich auf, dass dein Kommentar sich mal eben locker auf sich selbst bezieht?!

    Unterstellung, Wertung und Mutmaßung.

    Vielleicht betrachtest du mal in Ruhe die Möglichkeit Aussagen über die Jahre hinweg in Kontext zu setzen und mit denen anderer abzugleichen.
    Aktionen und Aussagen für sich isoliert stehend zu betrachten mag zwar im Einzelfall ein wohliges Gefühl erzeugen. Doch eine Sandburg wird nicht durch einen Ziegel stabiler.
    Sonst würden wir heute noch fälschlicherweise die abfeiern, die Urlaub und Arbeitnehmerleistungen für die Massen erstmals bereitgestellt haben.
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#9 PhoebeEulenbaerAnonym
  • 24.06.2022, 12:59h
  • "Wandelt sich da etwa einer vom Saulus zum Paulus oder hat er nur ein gutes Gespür für Eigen-PR?"

    Um die Frage zu beantworten: Herr Palmer braucht wieder Aufmerksamkeit.

    Wenn ich denke daran, was mir Menschen erzählt haben, die ihn schon mehrfach auf Parteitagen erlebt haben, kann ich zu keinem anderen Schluss kommen.

    Inhaltsleere Anträge mit äußerst provokanter Wortwahl zu stellen, nur um ein paar Minuten Redezeit auf der Bühne zu bekommen und sich hinterher den Fragen der Journalist*innen stellen zu können, warum man auf die Bühne "gedrängt" wurde. Das nenne ich erzeugen von Aufmerksamkeit.

    Er hätte auch jedes andere Thema für die eigene PR nehmen können. Daraus einen Wandel ablesen zu wollen, dass erscheint mir doch sehr fragwürdig.
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#10 LorenProfil
  • 24.06.2022, 16:08hGreifswald
  • Wie die Einzelhaft in einem Jugendgefängnis sich mit Artikel 1 des Grundgesetzes vertragen hat, werden wohl nur diejenigen in BW wissen, die das zu verantworten hatten. Eine Riesenschweinerei.

    Herr Palmer meint, der damalige OB hätte auf den Jugendlichen ja auch in einem ernsten Gespräch einwirken können. Schade, dass er das inhaltlich offenbar nicht präzisiert hat (zumindest steht davon nichts in dem Artikel). Ich bin alles andere als ein Fan dieses Mannes und daher sehr skeptisch ihn betreffend.
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