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Live-Blog
Norwegen senkt Terrorwarnstufe
Nach den tödlichen Schüssen rund um den queeren "London Pub" in Oslo senkt Norwegen seine vorübergehend auf das oberste Niveau erhöhte nationale Terrorwarnstufe wieder. Über den mutmaßlichen Attentäter gibt es mehr Informationen.

Trauer in Oslo: Vor dem "London Pub" im Zentrum der norwegischen Hauptstadt haben hunderte Menschen Blumen und Regenbogenflaggen niedergelegt (Bild: IMAGO / NTB)
- 26. Juni 2022, 07:35h
Die queere Community steht weltweit unter Schock. Mit dem "London Pub" in Oslo wurde in der Nacht zu Samstag erneut ein sogenannter Safe Space angegriffen, nur wenige Stunden vor der geplanten (und nach dem Anschlag abgesagten) Pride-Parade durch die norwegische Hauptstadt. Die mutmaßlich islamistische motivierte Tat eines polizeibekannten Einzeltäters forderte zwei Menschenleben, 21 Personen wurden verletzt (queer.de berichtete).
Eigentlich gilt Norwegen als friedliches Land. Doch der rechtsextreme Terroranschlag vor elf Jahren auf Utøya mit 77 Todesopfern hat eine tiefe Wunde in das Gefühl der Sicherheit gerissen. Wieder einmal sei das Land von einer brutalen Attacke auf Unschuldige getroffen worden, sagte Regierungschef Jonas Gahr Støre am Samstag und versicherte der LGBTI-Community: "Wir stehen an eurer Seite." Umringt von einer großen Menschentraube legten er und Kronprinz Haakon gemeinsam am Tatort Blumen nieder. Das Glockenspiel des Rathauses spielte "Somewhere over the Rainbow".
Anders als seine Vorgängerin Angela Merkel (CDU) 2016 nach der Attacke auf den queeren Club "Pulse" in Orlando fand Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) diesmal sofort die richtigen Worte. Der Anschlag gegen die queere Community erschüttere ihn zutiefst, schrieb der SPD-Politiker am Samstag auf Twitter. Seine Gedanken seien bei den Angehörigen; den Verletzten wünsche er eine rasche Genesung. "Das norwegische Volk kann sich unserer Anteilnahme gewiss sein. Der Kampf gegen den Terror eint uns."
Bei Mahnwachen und Gedenkkundgebungen in mehreren Städten zeigte die queere Community ihre Trauer und Solidarität mit den Opfern der Terror-Attacke. Aber es herrschen auch Angst und Wut: Angst, ob wir in unserer eigenen Stadt noch sicher auf den CSD gehen und in Szenebars feiern können. Und Wut, wieso ein Mann, der dem Geheimdienst seit 2015 als Islamist und möglicher Gefährder bekannt ist, nicht rechtzeitig gestoppt werden konnte.
In diesem Live-Blog sammeln wir die neuen Reaktionen und Entwicklungen. (mize)
Live-Ticker (abgeschlossen, )
Norwegen senkt Terrorwarnstufe
Nach den tödlichen Schüssen rund um den queeren "London Pub" in Oslo senkt Norwegen seine vorübergehend auf das oberste Niveau erhöhte nationale Terrorwarnstufe wieder. Die Warnstufe werde von Niveau 5 auf Niveau 4 gesetzt, sagte der Chef des norwegischen Geheimdienstes PST, Roger Berg, am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Oslo. Nach dem mutmaßlich islamistisch motivierten Terroranschlag am Wochenende war die Stufe von 3 (moderat) auf 5 (außergewöhnlich) angehoben worden. Stufe 4 bedeutet, dass die Terrorgefahr von nun an als hoch eingestuft wird.
Knapp 100 Menschen bei Mahnwache in Wien

Die Anschläge von Oslo haben auch die Wiener LGBTI-Community erschüttert. Deshalb kamen am Dienstagabend knapp 100 Menschen vor der norwegischen Botschaft zusammen, um bei einer Mahnwache der Opfer zu gedenken.
Für die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien, die die Mahnwache organisiert hat, sprach Generalsekretär Peter Funk, der zum Zeitpunkt der Anschläge selbst in Oslo war und davon berichtete, wie die norwegische Community mit dem Unfassbaren umgeht.
Die Politik zeigte sich ausdrücklich überparteilich: Gemeinsam sprachen die Nationalrats-Abgeordneten Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne), Nico Marchetti (ÖVP), Yannick Shetty (NEOS) sowie der Bundessekretär der SoHo, der LGBTQ-Organisation der SPÖ, Sebastian Pay. Ihre Aussage war klar: Unserer Gesellschaft steht zusammen gegen Hass und Gewalt, egal ob von Islamisten wie in Norwegen, ob rechtsextreme Störaktionen während Vienna Pride oder christlich-fundamentalistisch motivierte Repression wie in Polen und Russland.
Zum Abschluss sprach die norwegische Botschafterin Kjersti Andersen, die den Teilnehmenden für dieses Zeichen dankte, das "unser Herz wärmt". Danach wurden zwei Kränze vor der Botschaft niedergelegt und mehrere Kerzen angezündet.
Ein gefährlicher Freund und Wahnvorstellungen

In norwegischen Medien werden immer Informationen über den mutmaßlichen Attentäter Zaniar Matapour bekannt. So soll der 42-Jährige, der in den 1990er Jahren als Kind mit seiner Familie aus dem kurdischen Gebiet Irans über Pakistan nach Norwegen kam, engen Kontakt mit Arfan Bhatti, einem der gefährlichsten Islamisten Norwegens, gehabt haben. Bhatti, Gründer der IS-nahen Gruppe "Die Umma des Propheten", hat laut dem Sender NRK erst Mitte Juni in sozialen Medien eine brennende Regenbogenflagge gepostet sowie Zitate, die zum Mord an Lesben und Schwulen aufrufen.
Auch Details zu Matapours Vorstrafen wurden bekannt. So wurde er 1999 wegen einer Messerstecherei in einem Club verurteilt. Später wurde der mutmaßliche Oslo-Attentäter wegen Besitzes von Kokain bestraft. Zuletzt erhielt er 2020 wegen des Mitführens eines Messers eine Geldstrafe.
In den Gerichtsakten ist laut der Tageszeitung "Dagbladet" immer wieder von psychischen Problemen des Mannes die Rede. So sei Matapour nur unzureichend medikamentös behandelt worden, habe seit Jahren psychische Probleme wie eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Wahnvorstellungen. Ein Rechtsanwalt habe vor Gericht von "paranoider Schizophrenie" gesprochen.
In Norwegen brach Matapour die weiterführende Schule ab und arbeitete einige Zeit als ungelernter Rohrleger. Weil er nicht mehr in der Lage gewesen sei, einer geregelten Arbeit nachzugehen, wurde er 2013 – also mit Mitte 30 – früh verrentet. Seit spätestens 2015 wandte er sich dem islamistischen Milieu zu.
LSVD: Faesers Stille ist "höchst fahrlässig"

Nach dem Anschlag in Oslo hat der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erneut aufgefordert, eine unabhängige Fachkommission gegen queerfeindliche Gewalt einzusetzen. "Die furchtbaren Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, inter* und nicht binäre Menschen nehmen weiter zu", sagte LSVD-Vorstandsmitglied Alfonso Pantisano dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Jeden Tat würden auch in Deutschland statistisch gesehen drei Menschen aus queerfeindlichen Motiven angegriffen.
"Die von der Innenministerkonferenz geforderte unabhängige Fachkommission gegen LSBTI*-feindliche Hassgewalt muss unverzüglich eingesetzt werden", forderte Pantisano. Seit sechs Monaten schweige Bundesinnenministerin Faeser dazu und bleibe untätig, kritisierte das LSVD-Vorstandsmitglied. "Und im Hinblick auf die Wunden, die uns jeden Tag zugefügt werden, ist die gegenwärtige Stille der Bundesinnenministerin nicht nur unerträglich – ich empfinde sie als höchst fahrlässig." Der LSVD wiederholte damit seine Kritik von Anfang Juni (queer.de berichtete).
Auf den Angriff auf die queeren "London Pub" hatte Faeser noch am Samstag reagiert. "Der feige Anschlag in #Oslo zeigt, wie wichtig die Solidarität mit der queeren Community ist. Wir stehen an eurer Seite!", schrieb die SPD-Politikerin auf Twitter. "Die schreckliche Tat zeigt auch: Der islamistische Terror bleibt eine Bedrohung für unsere offene Gesellschaft und wir werden ihn konsequent bekämpfen."
Twitter / NancyFaeserDer feige Anschlag in #Oslo zeigt, wie wichtig die Solidarität mit der queeren Community ist. Wir stehen an eurer Seite! Die schreckliche Tat zeigt auch: Der islamistische Terror bleibt eine Bedrohung für unsere offene Gesellschaft und wir werden ihn konsequent bekämpfen.
Nancy Faeser (@NancyFaeser) June 25, 2022
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Tausende versammeln sich in der Innenstadt

Bild: IMAGO / Annika Byrde / NTB
Trotz der Absage der Gedenkkundgebung versammelten sich am Montagabend tausende Menschen auf dem Osloer Rathausplatz, um unter anderem mit Regenbogenflaggen Solidarität mit den Opfern des Anschlags und ein Zeichen trotzigen Selbstbewusstseins zu zeigen.
Twitter / MArizantiIt is crowded at Rådhusplassen, #Oslo this evening, despite cancellations and recommendations from the police not to show up.#OsloPride2022 #OsloPride https://t.co/zJH9c5H9iw pic.twitter.com/P33QL7prVU
(@MArizanti) June 27, 2022
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Twitter / Vicnor_Rådhusplassen pic.twitter.com/JzL9TNmn4N
Victor Nordahl | Ville Poter (@Vicnor_) June 27, 2022
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Viele zogen auch zum "London Pub", der am Montag wieder öffnete. Zum Einlass in den angegriffenen Laden bildeten sich lange Schlangen.
Twitter / TommyTonsbergLondon pub is open again, and there is a looong line to get in pic.twitter.com/9OVKpObPm1
Tommy Tønsberg (@TommyTonsberg) June 27, 2022
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Gedenkveranstaltung in Oslo offiziell abgesagt
Wie der Oslo Pride soeben bestätigte, findet die von diversen queeren Organisationen für den frühen Montagabend am Osloer Rathausplatz geplante Gedenkveranstaltung nicht statt. Damit folge man der Empfehlung der Polizei. Man sei traurig, nach dem CSD vom Samstag erneut eine Veranstaltung absagen zu müssen. "Wir verstehen, dass die Leute jetzt frustriert sind und sich immer noch versammeln wollen. Leider wird es kein Programm, keine Appelle und keine Musik von der Bühne auf dem Rathausplatz geben."
Solidaritetsmarkeringen på Rådhusplassen avlyst De skeive organisasjonene i Norge skulle samles og alle som ønsket å...
Posted by Oslo Pride on Monday, June 27, 2022
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Polizei rät von Gedenkveranstaltung in Oslo ab
Queere Organisationen hatten in der Zusammenarbeit mit der Stadt zu einer großen Gedenk-Kundgebung am Montagabend vor dem Rathaus in Oslo aufgerufen (s. Eintrag vom Sonntag, 19:28h). Dabei sollte es musikalische Beiträge, Reden und eine Gedenkminute geben. Medienberichten zufolge hat die Polizei nun am Nachmittag den Veranstaltenden geraten, diese Kundgebung – und bis auf weiteres praktisch alle Pride-Events im ganzen Land – abzusagen.
Grund seien Hinweise des Inlandsnachrichtendienstes PST, der nach wie vor eine außerordentliche Bedrohungslage sehe, und dass das queere Umfeld Teil des Feindbildes extremistischer Islamisten sei. Man könne nicht für die Sicherheit der Teilnehmenden garantieren, so die Polizei, zumal mit einer hohen Beteiligung an der Veranstaltung gerechnet werde.
Der Oslo Pride hat sich noch nicht zu einer möglichen Absage geäußert, während Vertreter der Stadt, die die Veranstaltung unter anderem finanziell unterstützte, Bürgern dazu rieten, nicht zu erscheinen. Der Sender NRK, der die Veranstaltung live übertragen wollte, baute entsprechende Geräte wieder ab. (cw)
Mutmaßlicher Oslo-Angreifer kommt in Untersuchungshaft
Nach dem tödlichen Schusswaffenangriff in Oslo muss der mutmaßliche Täter für zunächst vier Wochen in Untersuchungshaft. Das teilte das Amtsgericht der norwegischen Hauptstadt am Montagnachmittag mit. Die zuständige Richterin Rikke Lassen verhängte dabei ein für die gesamten vier Wochen geltendes Brief- und Besuchsverbot, zwei Wochen davon muss der Beschuldigte in vollständiger Isolation verbringen. In Vernehmungen hatte der 43-jährige Norweger mit iranischen Wurzeln bislang eine Aussage verweigert. (dpa)
FDP: "Ein Angriff auf die gesamte queere Szene"
Zum Terroranschlag in Oslo erklärte Jürgen Lenders, Sprecher für LSBTI der FDP-Bundestagsfraktion, am Montag:
Der Anschlag auf die schwule Bar in Oslo war ein Angriff auf die gesamte queere Szene. Die erschütternden Nachrichten aus Oslo stimmen mich traurig und meine Gedanken und mein tiefes Mitgefühl sind bei den Opfern, Verletzten und deren Angehörigen.
Der Angriff zeigt auch, dass Homo- und Transfeindlichkeit weiterhin verbreitet sind und Hass gegen LSBTIQI+ Personen in Gewalt gipfelt.
Verbale und körperliche Angriffe gegen queere Menschen sind auch in Deutschland erschreckend weit verbreitet. Im Jahr 2019 gab es mindestens 564 politisch motivierte Straftaten aufgrund der sexuellen Orientierung, darunter fast 150 Gewalttaten – ein Anstieg von mehr als 60 bzw. 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Niemand soll aufgrund der sexuellen oder geschlechtlichen Identität in Angst vor körperlicher und verbaler Gewalt leben müssen. Die Bundesregierung steht fest an der Seit der queeren Gemeinschaft und möchte erreichen, dass jeder Mensch das Gefühl von Sicherheit hat, egal wen und wie ein Mensch liebt.
Wir gehen das Problem entschieden an und werden geschlechtsspezifische und homosexuellenfeindliche Beweggründe in den Katalog der Strafzumessung des § 46 Abs. 2 StGB explizit aufnehmen und einen Nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt schaffen.
Polizei gibt die Namen der Opfer bekannt

Bild: IMAGO / NTB
Am Montagvormittag veröffentlichte die norwegische Polizei erstmals die Namen der beiden Personen, die beim Terroranschlag in der Nacht zu Samstag getötet wurden.
Jon Erik Isachsen wurde wenige Tage nach seinem Geburtstag erschossen. Am 21. Juni wurde er 54 Jahre alt. In der Pressemitteilung der Polizei wird Isachsen von seiner Familie als liebevoller Vater beschrieben, der sehr vermisst werde. Die Familie möchte keinen Kontakt zu den Medien und bittet darum, dies zu respektieren. Sie will auch nicht, dass Bilder des Opfers veröffentlicht werden.
Laut dem norwegischen Senders NRK hinterlässt Isachsen einen erwachsenen Sohn und eine Ehefrau. Er habe sich bei dem Angriff in seinem Stammlokal "Per på Hjørnet" aufgehalten, das gleich neben dem "London Pub" liegt.
Das zweite Opfer ist der 60-jährige Kåre Arvid Hesvik aus der Gemeinde Bærum. Die Familie möchte ebenfalls nicht, dass Fotos des Opfers von den Medien veröffentlicht werden. Hesvig hinterlässt laut NRK seinen Freund Kristian Dominic Blix, der zur Tatzeit auf der Arbeit war. Er werde sich vor allem an Kåres "lautes Lachen und breites Lächeln" erinnern, so Blix gegenüber dem Sender. Sein Freund habe sich sehr auf die Pride-Parade am Samstag gefreut.
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Es sollte nicht die Regel sein, dass wir die Namen vieler Täter*innen kennen, aber nicht die Namen der Opfer.
Nach dem Attentat in Hanau blieben die Opfer mehr im Gedächtnis als der Täter. Die Angehörigen und die Medien haben gemeinsam dafür gesorgt. So sollte es m. E. immer sein.