Hauptmenü Accesskey 1 Hauptinhalt 2 Footer 3 Suche 4 Impressum 8 Kontakt 9 Startseite 0
Neu Presse TV-Tipps Termine
© Queer Communications GmbH
https://queer.de/?42635

Heimkino

Eine genial-furchtbare "Parodie auf eine heterosexuelle Liebe"

Die einen finden ihn grauenhaft schlecht, die anderen irrsinnig komisch, und wieder andere entdecken in ihm eine sozialkritische Ebene: Jetzt läuft Rosa von Praunheims Camp-Film "Die Bettwurst" in der ZDF-Mediathek.


Szene aus "Die Bettwurst": Dietmar (Dietmar Kracht) und Luzi (Luzi Kryn) sind schwer verliebt (Bild: missingFILMs)
  • Von Michael Freckmann
    16. Juli 2022, 15:31h 22 6 Min.

Eine "Bettwurst" zu Weihnachten kann grenzenlose Freude auslösen. Zumindest Dietmar ist begeistert von seiner neuen Nackenrolle. Jetzt, da er endlich sein Glück mit Luzi gefunden hat. Das Auspacken der Geschenke ist neben der Bettszene der Höhepunkt der Zweierbeziehung in Rosa von Praunheims Film "Die Bettwurst". Dieser Kultfilm von 1971 ist aktuell wieder in der ZDF-Mediathek verfügbar. Die einen finden ihn grauenhaft schlecht, die anderen irrsinnig komisch, und wieder andere entdecken in ihm eine sozialkritische Ebene.

Der Film zeigt das Liebespaar Dietmar und Luzi, einen Hilfsarbeiter und eine Sekretärin, überglücklich in ihrem Alltag. Dietmar ist in der spießigen Welt angekommen, in die er sich immer hineingeträumt hat. Er findet alles "toll" oder "wunderschön", was Luzi macht. Auch Luzi freut sich, dass er sich in ihre Welt – "bei mir herrscht Ordnung" – einfügt. Ähnlich penibel kümmert sich Luzi neben ihrer Wohnung nur noch um das Grab ihrer Mutter. Die Dialoge im Film sind voller Alltäglichkeiten, bürgerlicher Redewendungen und penetranter Banalitäten. Gerade deswegen sind sie so lebensnah.

- w -

Vereint im krampfhaften Harmoniebedürfnis

Dietmar und Luzi putzen gemeinsam die Wohnung, sitzen im Schrebergarten und feiern Weihnachten. Laut Dietmar "das schönste Weihnachten, wo ich je erlebt habe". Er bekommt eine "Bettwurst" geschenkt und sie von ihm ein Bild einer jungen Frau – weil er das Bild so schön findet. Obwohl Luzi kurz irritiert ist, stellt sie doch anerkennend fest, dass es von einem guten Maler sei – freilich ohne denjenigen zu kennen oder es überhaupt beurteilen zu können. Beide sind vereint in ihrem krampfhaften Harmoniebedürfnis. Luzi und Dietmar klammern sich an diese Oberflächlichkeiten, welche die Beziehung beider zueinander überhaupt erst zusammenhalten.

Der Film wird in manchen Studierendenkinos heute noch jährlich aufgeführt. Mancher soll dabei den Text der Bettszene mitsprechen können. In dieser liegen Luzi und Dietmar sich ungelenk räkelnd schräg übereinander und schwören sich gegenseitig ihre Liebe. "Ich liebe dich so unwahrscheinlich", wiederholt Dietmar immer wieder, als ob es das glaubwürdiger machen würde, gepaart mit einem dauernden "Oh Luzi!". Sie hingegen sonnt sich in diesen Beschwörungen und antwortet mit einem ständig sich steigernden: "Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich". Auf dem Höhepunkt der emotionalen Zuneigung merkt sie noch an, dass man ihr erstes Mal im "Kalender rot anzeichnen" müsse.


Ein Film über die Sehnsucht nach einer kleinbürgerlichen Alltagshölle (Bild: missingFILMs)

Dann wird Luzi auch noch entführt

Zu den absurdesten Szenen gehört die Entführung von Luzi. Sie wird im Cabrio festgehalten, das durch die Landschaft rast. Sie selbst krächzt und keucht dazu plump und monoton vor sich hin. Die Szene – aus einer Kameraeinstellung heraus gedreht – dauert knapp zwei Minuten und ist beim Zusehen kaum auszuhalten. Luzi ist durch ihren Alltag in ihrer Unerschütterlichkeit derart abgestumpft, dass sie diese auch in einer solchen Extremsituation beibehält.

Nach der Entführung seiner Geliebten wird Dietmar zu einer Art durchgeknalltem Superhelden. Plötzlich entweichen ihm Macbeth-Verse. "Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke…?", ruft er, während er eine Schublade von Luzis kitschigem Wohnzimmerschrank aufreißt. Nachdem er seinen Monolog beendet hat, zieht er daraus eine kleine Pistole hervor, mit der er seine Geliebte retten will.

Der erste deutsche Camp-Film

Praunheim hat den Film im Camp-Stil gestaltet, der damals in Deutschland noch unbekannt war. Bei dieser Kunstform, die aus der New Yorker Underground-Szene stammt, ging es ursprünglich um die gleichzeitige Verehrung und Parodie von Hollywoodstars wie Bette Davis oder Marlene Dietrich. In einem Camp-Film werden die Figuren überspitzt gezeigt, und dies gilt auch für die Darstellung der beiden Hauptfiguren der "Bettwurst". Gleich zu Beginn des Films wird das besonders deutlich: Dort posiert Luzi auf ihrem Balkon und im Wohnzimmer in schlecht nachgestellten Posen von Models, die sie wahrscheinlich in den Zeitschriften beim Friseur gesehen hat. Für Luzi ist es der ultimative, aber unerreichbare Traum, so wie jene sein zu können.

Hinter allem bösen Spott über diese spießige Welt tritt die bittere Vorgeschichte beider Figuren zutage. So beschreibt Dietmar, wie er als Jugendlicher von seinem Umfeld ausgenutzt wurde und in die Kleinkriminalität abgerutscht ist – er berichtet von Bekanntschaften mit "leichten Mädchen und schweren Jungs". Luzi erzählt, dass sie nur mit viel Mühe aus Polen mit ihrer Familie flüchten und sich nur schwer in Westdeutschland eine Existenz aufbauen konnte. Für beide Figuren ist ihre Beziehung trotz all der Schwierigkeiten und Enge immer noch besser als das Leben, das sie vor ihrem Kennenlernen geführt haben.

Der Film, der eine "Parodie auf eine heterosexuelle Liebe" (Praunheim) darstellt, wurde ohne Drehbuch in zehn Tagen aufgenommen und improvisiert. Da passt es gut, wenn Dietmar seine Dialoge zum Teil stottert oder grammatikalisch falsch spricht. Das größte satirische Element dabei ist jedoch, dass die beiden Laienschauspieler diese Figuren so perfekt abbilden können.

Direktlink | "Die Bettwurst" in 15 Minuten
Datenschutz-Einstellungen | Info / Hilfe

Feststellen, "wie lustig unsere eigene Dummheit ist"

Aus heutiger Sicht steigert die Ästhetik der 1970er Jahre und die schlechte Qualität des Filmmaterials noch die Geschmacksverirrung und den Grotesk-Faktor des Films. Auch wenn der Mief der vergangenen Jahrzehnte im Jahr 2022 weit weg scheint, hat das Spießige doch mancherorts überlebt und neue Erscheinungsformen angenommen. Der Film wirkt als völlig überdrehte Drohkulisse dafür, welche Verwüstungen das Kleinbürgerliche hinterlassen kann.

Laut Regisseur Praunheim sollten sich möglichst viele Zuschauer*innen in den Hauptfiguren wiederkennen und feststellen, "wie lustig unsere eigene Dummheit ist". 1975 ist sogar mit der "Berliner Bettwurst" noch eine Fortsetzung entstanden, und im September 2022 kommt in der Berliner Bar Jeder Vernunft das Musical "Die Bettwurst" auf die Bühne. Es bleibt abzuwarten, wie Praunheim die für den Film so wichtige Sprachmelodie von Luzi und Dietmar ins Musical übersetzt.

Die beiden Hauptdarsteller erleben dies nicht mehr. Luzi: gespielt von Praunheims Tante Luzi Kryn, war noch in weiteren seiner Filme zu sehen und starb im Jahr 2000. Dietmar Kracht verstarb bereits ein Jahr nach der "Berliner Bettwurst", als er in einem See nahe Berlin ertrank.

Luzi und Dietmar sind alles andere als Held*innen, weil sie in ihrer Sehnsucht nach einer kleinbürgerlichen Alltagshölle permanent zu scheitern drohen. Und gleichzeitig sind sie irgendwie doch heldenhaft, weil sie ihre Köpfe trotz aller Umstände immer wieder naiv-fröhlich über Wasser halten können.

Infos zum Film

Die Bettwurst. Camp-Film Deutschland 1971. Regie: Rosa von Praunheim. Cast: Luzi Kryn, Dietmar Kracht, Steven Adamczewski. Laufzeit: 81 Minuten. Sprache: deutsche Originalfassung. FSK. Verleih: missingFILMs. Bis zum 17. August 2022 kostenlos in der ZDF-Mediathek.

Informationen zu Amazon-Affiliate-Links:
Dieser Artikel enthält Links zu amazon. Mit diesen sogenannten Affiliate-Links kannst du queer.de unterstützen: Kommt über einen Klick auf den Link ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision. Der Kaufpreis erhöht sich dadurch nicht.

-w-

#1 LothiAnonym
  • 16.07.2022, 18:11h
  • Da hatte Rosa damals genau den richtigen Riecher gehabt solch einen schrägen und doch guten Film zu machen. Ich bin heute noch begeistert und muß gleich wieder lachen. Dietmar Kracht lernte ich einmal kurz kennen in einer Bar. Er baggerte mich an und wollte mit mir ins Bett. Schade das er so früh verstarb.
  • Direktlink »
#2 SchmunzelAnonym
#3 LothiAnonym
  • 16.07.2022, 19:11h
  • Antwort auf #2 von Schmunzel
  • Prompte Antwort. Danke für dieses Kompliment. Und ja ich erzähle hier gerne besonders aus meinem früheren Leben. Alles entspricht der Wahrheit. Wieso sollte ich auch lügen. Aber schön hier zu lesen, dass es anscheinend viele gar nicht ernst nehmen was ich so schreibe. So wie Du. Schade eigentlich. Ich verspreche hiermit über mein ehem. Sexleben nichts mehr zu schreiben. Schmunzel ;-)
    Damals als Kapitän Blaubär raus kam, war ich von Beginn an ein Fan. Wolfgang Völz mit seiner prägnanten Stimme. Einfach toll. Besonders für die Kleinen Zuschauer/innen.
  • Direktlink »

Kommentieren nicht mehr möglich
nach oben

Newsletter
  • Unsere Newsletter halten Dich täglich oder wöchentlich über die Nachrichten aus der queeren Welt auf dem Laufenden.
    Email: