Der Gender Identity Development Service (GIDS) der Tavistock-Klinik in London ist der einzige Dienstleister für transgeschlechtliche Kinder und Jugendliche in ganz England und Wales und dem National Health Service NHS angegliedert. Wer hier auf Behandlung angewiesen ist, muss oft weite Strecken fahren – nach einer langen Zeit, in der gar nichts passiert. Denn die Warteliste ist in den vergangenen Jahren geradezu explodiert.
Jetzt wurde bekanntgegeben, dass die Klinik im Frühjahr 2023 schließen soll. Damit wird das überkommene und in dieser Form einzigartige System der zentralisierten Behandlung transgeschlechtlicher Jugendlicher in Großbritannien langfristig ein Ende finden. Aber auch die weitere Überprüfung und Erforschung sowie Veränderungen bei der bisherigen Behandlung sind angekündigt. Das Zentrum war Gegenstand einer Kontroverse um die Rolle von Pubertätsblockern, deren Verschreibung es zwischenzeitlich nicht mehr anordnen durfte.
Mehr als drei Jahre Warten
Die ersten zwei neuen dezentralisierten Stellen, die den GIDS ersetzen, sollen in London sowie im Nordwesten Englands entstehen und stärker mit anderen Bereichen des pädriatischen Gesundheitssystems zusammenarbeiten. So sollen die langen Wartelisten auch endlich abgebaut werden können. Für gegenwärtige Patient*innen ändert sich nichts. Wer bei der Schließung auf der Warteliste steht, kommt auf die Warteliste der neuen Zentren. Kritiker*innen hatten dem System immer wieder vorgeworfen, den eigentlichen Zweck der Behandlung, die Vermeidung der körpereigenen Pubertät, durch die Wartezeit ad absurdum zu führen.
Zuletzt sollen Kinder und Jugendliche auf ihren Ersttermin über zwei Jahre gewartet haben. Bis von da an die tatsächliche Behandlung mit Hormonen oder Hormonblockern beginnen kann, vergeht noch ein mal etwa ein Jahr. Für die allermeisten Patient*innen, die mit ihren Familien nicht rechtzeitig Jahre vor Beginn der Pubertät die Einleitung medizinischer Maßnahmen anstreben, besteht darum innerhalb des GIDS gar keine Hoffnung auf eine Verhinderung der Pubertät. Bei Beginn der beantragten Behandlung sind sie bereits mitten in der körperlichen Veränderung oder rutschen aufgrund ihres Alters sogar schon in das Erwachsenensystem.
Überprüfung durch Kinderärztin
Der Schließungliegt die Überprüfung des GIDS durch die Kinderärztin Dr. Hilary Cass zugrunde, die im Februar einen Zwischenbericht ihrer Arbeit vorlegte. Darin forderte sie, mehr Daten zu den Patient*innen zu erheben, die wegen Geschlechtsdysphorie behandelt werden. Auch, wie ihr Leben im Anschluss an den Kontakt zum Gesundheitssystem weiter verlaufe, müsse nachgehalten werden. Es fehlten zudem Qualitätssicherungsmechanismen, die ansonsten üblich seien. Das läge auch daran, dass der Dienst aufgrund der hohen Nachfrage organisch mitgewachsen sei. Wer künftig in England und Wales wegen Geschlechtsdysphorie behandelt werden will, muss der Teilnahme bei der Datenerhebung zustimmen.
Unter Ärzt*innen des Landes gebe es, so Cass' Kritik am zentralisierten System, keinen Konsens über das Ausmaß, in dem Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen ein unwandelbares Phänomen sei, dem am besten durch eine Transition begegnet werden könne. Je nachdem, welche Meinung Mediziner*innen verträten, gestalte sich dementsprechend auch ihre Reaktion auf junge Patient*innen. Kinder und Jugendliche würden das als "klinische Lotterie" erleben. Denn für das GIDS brauchten sie bisher immer eine Überweisung von anderen Ärzt*innen.
Ein weiteres Problem stellt die Veränderung unter den Patient*innen dar, die dem GIDS vorgestellt werden. Dazu zähle eine Steigerung an neurodiversen Patient*innen, worunter in der Presseberichterstattung vielfach Menschen im Autismus-Spektrum verstanden worden sind. Zu dem Begriff werden aber etwa auch Menschen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS bzw. ADS) gezählt. Patient*innen hätten zudem ganz unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit. Dem würde jedoch durch deren Unterordnung unter die Geschlechtsdysphorie und die Zuweisung zum GIDS oft nicht genüge getan. Außerdem habe sich das Verhältnis von transmännlichen zu transweiblichen Patient*innen dahingehend verändert, dass die größte Gruppe aus bei der Geburt weiblich zugewiesenen Jugendlichen bestehe, die erst in der Pubertät geschlechtsbezogene Probleme verbalisiert hätten.
Ärzt*innen, die als erste Anlaufstellen für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche fungierten, hatten Cass zudem berichtet, dass sie sich unter Druck fühlten, ihren Patient*innen gegenüber einen geschlechteraffirmativen Ansatz zu übernehmen. Dies stehe jedoch in Widerspruch zu den diagnostischen Methoden, die sie erlernt hatten.
Das systemische Problem setze sich im GIDS selber ähnlich fort. Durch das Nachwachsen unter der hohen Nachfrage hätte sich, so Cass, ein einseitig affirmativer Ansatz entwickelt. Demgegenüber würden explorative Ansätze, die mit den Kindern und Jugendlichen deren Geschlechtsidentität erforschen, nicht mehr ausreichend verfolgt. Das liege wiederum auch an den langen Wartelisten: Durch die seien soziale Transitionen oft schon längst erfolgt, wenn die Patient*innen dem GIDS vorgestellt werden.
Im Zwischenbericht der Überprüfung wendet sich Cass in einem Brief auch direkt an die Kinder und Jugendlichen, die auf die Dienste des GIDS angewiesen sind. Sie wisse darum, dass viele die Befürchtung hätten, der Bericht laufe auf eine Reduzierung oder gar einen Stopp der Dienstleistungen für transgeschlechtliche Kinder und Jugendliche hinaus. Das Gegenteil aber sei der Fall. Cass glaube, dass mehr Dienstleistungen gebraucht würden, an Orten, die näher dort angesiedelt sind, wo die Patient*innen mit ihren Familien lebten.
Kontroverse um Pubertätsblocker
In Medien ist die Überprüfung des GIDS immer wieder mit dem Fall Keira Bell in Verbindung gebracht worden. Doch die transfeindliche Aktivistin, die ihre frühere Transition bereut, hatte ihre Klage erst einen Monat nach Ankündigung der Überprüfung des GIDS durch das NHS im September 2020 eingereicht.
Bell hatte mit 16 Jahren vom GIDS Pubertätsblocker verschrieben bekommen. Später folgten Testosteron und, als Erwachsene und damit unter Obhut eines der sieben nationalen Zentren für erwachsene trans Personen, eine operative Entfernung der Brüste. Danach hat sie ihre Entscheidung bereut, wieder begonnen, als Frau zu leben und im Oktober 2020 Klage eingereicht. Sie sei, so argumentierten sie und ihr ansonsten gern von Abtreibungsgegner*innen engagierter Anwalt, nicht in der Lage gewesen, der Behandlung mit Pubertätsblockern zuzustimmen.
Ein erstes Urteil hatte Bell recht gegeben und angeordnet, dass die Verschreibung der Blocker bei Jugendlichen unter 16 Jahren eines Gerichtsurteils bedürfe. In der Folge wurden den Unter-16-Jährigen überhaupt keine Hormonblocker mehr verschrieben. Zu Gerichtsverhandlungen kam es also gar nicht erst. Doch im September vergangenen Jahres wurde das Urteil im Fall Keira Bell nach einer Berufungsverhandlung aufgehoben. Die breite Aufmerksamkeit, die das Ersturteil im Fall Bell erhalten hat, hat jedoch den Eindruck hinterlassen, als stünde die Schließung des GIDS mit einem Verbot von Pubertätsblockern und einer zuvor angeblich breiten Verwendung bem GIDS Verbindung, die es faktisch gar nicht gibt.
Doch die Evidenzen für den Einsatz der Blocker sollen tatsächlich noch mal auf den Prüfstand. Das wird auch im Zwischenbericht der Kinderärztin klar. Sie macht deutlich, dass es sich mitnichten um eine experimentelle Gabe von Medikamenten handelt, wie im aufgeheizten Diskurs oftmals vorgebracht. Denn Hormonblocker wurden gar nicht für transgeschlechtliche Jugendliche entwickelt, sondern für cis Jugendliche, deren Pubertät "zu früh" eingetreten ist und die vor Mobbing und Stigmatisierung sowie vor später auftretender, geringerer Körpergröße geschützt werden sollten.
Doch ob die Ziele des Einsatzes der Blocker bei transgeschlechtlichen Jugendlichen überhaupt im angenommenen Ausmaß erreicht würden, dazu müsste noch weitere Forschung und Abwägung betrieben werden. Etwa, in welchem Ausmaß die Blocker Risiken von Suizidalität und Selbstverletzung tatsächlich reduzierten. Immerhin zögert der Blocker-Einsatz die Gabe von Testosteron oder Östrogen faktisch hinaus und könne wiederum Stress für Jugendliche bedeuten. Bei transweiblichen Jugendlichen hemme der Einsatz zudem etwa das Peniswachstum und reduziere damit das Gewebe, das für ein gutes Ergebnis einer später eventuell gewünschten, genitalangleichenden Operation benötigt werde.
Auch die Nebenwirkungen müssten in die Rechnung mit einbezogen werden, die von Kopfschmerzen und Müdigkeit über Ängstlichkeit bis zur Reduktion der Knochendichte reichen und das alltägliche Funktionsniveau der Jugendlichen reduzieren können. Zudem sei noch zu wenig erforscht, welchen Effekt auf die Entwicklung von Gehirnstrukturen die Gabe habe.
Als größten Punkt notiert Cass aber, dass besser verstanden werden müsse, warum zwischen 96,5 und 98 Prozent derjenigen, die die Blocker einnähmen, später auch die eigentliche Hormontherapie beginnen. Das widerspräche dem häufig vorgebrachten Argument, die Medikamente lieferten wertvolle Zeit zur Festigung oder zum Verwerfen des Transitionswunsches.