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Literarisches Vorbild

55 Jahre Alexander Chee: Wie lebt man als schwuler Mann?

Heute wird Alexander Chee, einer der populärsten schwulen Autoren Amerikas, 55 Jahre alt. In seinem Werk verbindet er autobiografische Reflektionen mit grundsätzlichen Fragen über queere Identität.


Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York (Bild: M. Sharkey)
  • Von Daniel Schreiber
    21. August 2022, 01:40h - 11 Min.

Auf die Frage "Wer bin ich?" gibt es für viele von uns mehrere Antworten. Es sind Antworten, die im Unbewussten schlummern und die unseren Lebensweg bestimmen. Ohne es zu wollen, nimmt man Rollen, die man schon längst abgelegt zu haben glaubte, wieder ein. Man hält an bestimmten Masken fest, auch wenn das eigentlich gar nicht mehr sein muss. Viele Erwartungen hingegen, die man für sich und seinen Lebensweg hegt und die einen im Inneren ausmachen, scheinen sich nie zu erfüllen.

Vor allem als schwuler Mann macht man die Entdeckung, dass man im Laufe eines Lebens mehrere, manchmal einander widersprechende Ichs durchläuft und man in manchen Momenten schmerzlich dieses Zentrum des Selbst vermisst, über das alle Menschen um einen herum so selbstverständlich zu verfügen scheinen. Es fordert kein großes psychologisches Gespür, die Gründe dafür in den Erfahrungen als Kind und Heranwachsender zu suchen. Im unerklärlichen Schweigen etwa, mit dem man aufgewachsen ist, oder den unmissverständlichen Botschaften von Ausgrenzung und Scham.

Es ist nicht einfach, sich selbst und sein Leben in einer durch und durch heterosexualisierten Welt neu zu erfinden. Vor allem, wenn man, wie es lange der Fall war, keine Vorbilder hat, niemanden, der einem vorlebt, wie man ein queeres Leben in einer Welt führt, die dafür keinen Platz vorgesehen hat. Erst heute, fünfzig Jahre nach den Stonewall-Aufständen und dreißig Jahre nach dem Höhepunkt der Aids-Krise, gibt es eine Generation schwuler Männer, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen offen und frei an die nächste Generation weitergeben kann.

Ein Vorbild für viele junge Autoren

Alexander Chee gehört zu dieser Generation, und für viele junge queere Autoren ist er ein solches Vorbild. Chee, Jahrgang 1966, ist einer der populärsten schwulen Schriftsteller der Vereinigten Staaten. Mit seinen beiden Romanen "Edinburgh" (2001) und "Queen of the Night" (2017) und seinen Essays in Magazinen wie der "New Republic" oder dem "New York Times Magazine" hat er sich eine breite Leserschaft erobert. Zudem hat er als Hochschullehrer die Karrieren einer Riege junger schwuler Schriftsteller angestoßen, darunter Ocean Vuong. Nicht zuletzt ist er der erste schwule koreanisch-amerikanische Autor überhaupt, dem der Eintritt in das Literaturpantheon gelungen ist.

Chee wurde als Kind und Heranwachsender sowohl aufgrund seiner Hautfarbe als auch aufgrund seiner sexuellen Orientierung ausgegrenzt. Er hat die Aids-Krise durchlebt und war Teil der politischen Aktivistenszene, die für die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität in den Vereinigten Staaten gesorgt hat. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Buchhändler und Kellner. Im Laufe seines Lebens verschlug es ihn von Rhode Island nach Maine, Hawaii, Guam und Seoul, von San Francisco nach Brooklyn, Iowa City, New Hampshire und schließlich nach Manhattan, wo er heute mit seinem Ehemann in Hell's Kitchen lebt, dem schwulen Stadtviertel zwischen den Ausläufern des Broadways und dem Hudson River. Es genügt, sich die Stationen dieses Lebenswegs zu vergegenwärtigen, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass man es hier mit einem Menschen zu tun hat, für den die Frage "Wer bin ich?" noch viel schwieriger zu beantworten ist als für die meisten von uns.

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Stationen eines bewegten Lebens


Chees Essayband "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" ist 2020 im Albino Verlag erschienen

Chees Essayband "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" bringt einige Stationen dieses bewegten Lebens zur Sprache. In mancher Hinsicht kann er als ein Dokument der Selbstfindung bezeichnet werden. Aber auch als das Zeugnis des dafür so notwendigen Kampfes. Es ist ein Buch von großer erzählerischer Kraft. Man liest es in einem Rutsch durch, und es geht einem noch lange nach, so sehr, dass man es immer wieder zur Hand nehmen möchte.

Schon der Auftaktessay zeigt an, dass es Chee um nichts weniger geht als um die Frage, wie man als schwuler Mann ein Leben führen kann. Darin nimmt er die Lesenden mit auf eine Reise ins mexikanische Chiapas, wo er als fünfzehnjähriger Austauschschüler Spanisch lernt, sich unglücklich verliebt und seinen heimlichen, von Superheldencomics inspirierten Traum auslebt, über sich selbst hinauszuwachsen. Eine Zeit lang gelingt es ihm hier, sein kompliziertes Leben als schwuler koreanisch-amerikanischer Teenager an der Küste Maines, zwischen Unsichtbarkeit und Allzu-Sichtbarkeit, hinter sich zu lassen und das zu werden, was er dort nicht sein kann: Er wird zu "Alejandro aus Tijuana", er wird zu einem Menschen unter vielen – ein Traum fast jeden schwulen Teenagers seiner Generation. Es ist klar, dass die Erfüllung dieses Traums nicht von Dauer ist und dass sie einen Preis hat: Von nun an wird er sich zu Hause noch fremder fühlen, als er es ohnehin schon tat.

Von dort aus geht es weiter in die kalifornische Aktivistenszene Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre, wo die Gruppe ACT UP mit kreativen Aktionen gegen die Stigmatisierung Homo­sexueller und gegen die politische Ignoranz angesichts der grassierenden Aids-Epidemie kämpft. Die San-Francisco-Essays machen für die Lesenden einen Alltag zwischen Polizeigewalt und radikaler Freiheit erfahrbar, den Alltag einer Gruppe junger Leute, die sich und die Gesellschaft, in der sie leben, neu erfinden.

Die Rückeroberung der Privatheit

Zu dieser Neuerfindung gehört auch die Rückeroberung der Privatheit. In einem der bewegendsten Essays des Bandes erinnert sich Chee an den bildenden Künstler Peter David Kelloran, einen Freund und Liebhaber, der mit nur dreiunddreißig Jahren an Aids starb und an den er bis heute häufig denken muss. All das schreibt Chee in völliger Klarheit nieder, ohne jedes Selbstmitleid, aber dafür mit einer Weisheit und einer Selbstakzeptanz, der man anmerkt, dass sie hart erkämpft ist. Man bekommt nicht nur ein Gefühl dafür, wie groß die Lücke ist, die Peters Tod im Leben von Chee hinterlassen hat, sondern welche Lücke die Aids-Epidemie in jene Generation schwuler Männer und unsere Kultur insgesamt gerissen hat. Man versteht, wie schmerzhaft hoch der Preis gesellschaftlicher Akzeptanz war und was es bedeutet, zu einer Generation zu gehören, der die Zukunft genommen wurde.

Bei jedem der hier versammelten Essays hat man den Eindruck, dass Chee in seine Vergangenheit abtaucht und bei seiner Rückkehr wie ein Perlentaucher kleine Schätze für seine Leser mit an die Oberfläche bringt. Kleine Perlen des Ichs, die er im Licht wendet und danach absucht, welche Geschichten in ihnen verborgen sind und was sie für uns, die Lesenden, bedeuten könnten.

Beim Versuch des Wurzelschlagens in einer Erdgeschosswohnung in Brooklyn begleitet man ihn etwa in einem Essay dabei, wie er einen kleinen Rosengarten im zur Wohnung gehörenden Hinterhof anlegt und sich so ein paar Jahre lang tatsächlich ein wenig zu Hause fühlt. In einem anderen Essay erinnert er sich an seine Zeit in Gramercy Park, einem Stadtviertel Manhattans, wo er im selben Haus wie die von ihm verehrte Schauspielerin Chloë Sevigny zur Untermiete wohnte und kurzfristig ein Leben führen durfte, das seiner mit der Realität kaum zu vereinbarenden Fantasie von einer Existenz als Schriftsteller in New York am nächsten kam. An wieder anderer Stelle kehrt er in Gedanken zu seiner Zeit als Kellner auf den Partys von William F. Buckley zurück, dem erzkonservativen Meinungsmacher, der auf dem Höhepunkt der Aids-Krise vorschlug, alle Erkrankten auf dem Unterarm und dem Hintern zu tätowieren, um sie für jeden erkennbar zu machen.

"Miteinander verbundene Geschichten des Ichs"

Chee sagte einmal in einem Interview, dass er "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" nicht als Memoir verstehe, sondern als "miteinander verbundene Geschichten des Ichs". In mancher Hinsicht ist das die bestmögliche Beschreibung dieses faszinierenden Buchs. Ob er die Lesenden zu der Nacht in San Francisco einlädt, in der er sich zum ersten Mal schminkt, in Drag auf die Straße geht, eine zuvor ungeahnte Freiheit spürt und begreift, dass wir manchmal erst wissen, wer wir sind, nachdem wir uns eine Maske aufgesetzt haben. Ob er uns in einen schwulen Buchladen mitnimmt, wo ihm bewusst wird, dass ein Leben als queerer Autor in der Regel zur Folge hat, in völliger Bedeutungslosigkeit zu versinken. Ob er sich in seine Zeit als Student bei so legendären Autorinnen wie Deborah Eisenberg und Annie Dillard zurückversetzt und den Entschluss Revue passieren lässt, es irgendwie schaffen zu müssen, dass sich die Lesenden auch für Bücher über das Leben queerer, nichtweißer Menschen interessieren. Ob er in einem erschütternden Essay die Rückkehr einer Erinnerung an Szenen des von ihm als Schüler erlittenen sexuellen Missbrauchs durch seinen Chorleiter reflektiert, die er jahrelang verdrängt hatte, und schließlich der Tatsache ins Auge schaut, dass wir häufig nicht die sind, die wir zu sein glauben.

Immer, bei jedem einzelnen dieser Essays, wird deutlich, dass Chee auf dem Papier nichts weniger als einen safe space findet – einen sicheren Raum für sich selbst und seine queeren Leser. Das Schreiben ist für ihn der Ort, der ihm überhaupt erst die Möglichkeit gibt, sich seiner vielen Ichs und seiner komplizierten Geschichte bewusst zu werden und mit ihr zurechtzukommen. Es ist der Ort, an dem er dem Sinn der vielen Rollen seines Lebens nachspürt. An dem er seine alten Verstecke wieder aufsucht und sich noch einmal in sie hineinbegibt. An dem er die Masken seines Lebens noch einmal aufsetzt, herausfindet, wie sie sich angefühlt haben, warum sie ihm so wichtig waren und welche von ihnen noch bis heute in ihm nachwirken.

Eine tiefe zum Ausdruck kommende Menschlichkeit

Chees Essays sind durchdrungen von einer Arbeit am Selbst, die weiß, dass die Wahrheit manchmal im Abseitigen und Unentdeckten liegt. Sie leben von einer fragenden Akzeptanz, einer Offenheit den Episoden des eigenen Lebens gegenüber. Es ist nicht zuletzt diese tiefe, in den Texten zum Ausdruck kommende Menschlichkeit, die das Lesen des Bands zu einer solch einzigartigen Erfahrung macht.

Bei vielen dieser Essays hat man den Eindruck, dass sie die queeren Heranwachsenden in uns ansprechen, die sich in der Bibliothek verstecken und in Büchern nach Antworten auf die Frage suchen, wie sich dieses schwierige Leben gestalten lässt. Vielleicht wird man, wenn man diese Essays liest, auch deshalb automatisch "menschlicher" gegenüber sich selbst. In "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" erfahren die Lesenden eine neue Wertschätzung für den Weg, den sie gegangen sind. Weil Chee es so selbstverständlich vormacht, bringen sie den Personen, die sie geworden sind, unwillkürlich mehr Liebe entgegen.

Der Titel des Bandes, "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt", spielt auf eine Frage an, die Alexander Chee nach der Veröffentlichung seines Romans "Edinburgh" häufig gestellt wurde. Edinburgh erzählt vom Trauma sexuellen Missbrauchs und trägt autobiografische Züge. Unerbittlich versucht Chee darin, eigentlich Unsagbares doch in Sprache auszudrücken. Es ist ein Roman, der die Lesenden in den Grundfesten erschüttert.

"Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" enthält einen gleichnamigen Essay, der vorgibt, ein Leitfaden zum Schreiben eines solchen Romans zu sein. Beim Lesen aber entpuppt er sich mehr und mehr als Reflexion über die Aufgabe des Schreibenden. Dieser Essay stellt zugleich eine Antwort auf die im Titel aufgeworfene Frage dar: Romane sind Romane, auch wenn sie sich aus Erfahrungen des Autobiografischen speisen. Über bestimmte Themen kann man nicht fiktional schreiben. Vor allem, wenn man ein Leben führt, in dem man sich als Figur immer wieder neu erfinden muss. Manchmal findet der Roman des eigenen Lebens besser Ausdruck in einem Essayband.

Trauer, die Platz für Zuversicht schafft

"Einen Essay zu schreiben, fühlt sich immer ein bisschen an wie Sterben", hat Alexander Chee einmal in einem Interview gesagt. "Ich glaube, das liegt daran, dass man dabei immer auch einige Vorstellungen von sich selbst ablegt, Identitäten, die man fälschlicherweise für seine eigenen gehalten hat. Auch wenn das ein Akt der Selbsterkenntnis ist, fühlt es sich ein bisschen wie Sterben an."

"Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" lässt sich in diesem Sinne auch als ein Zeugnis der Trauer um jene Lebensentwürfe lesen, die wir zurückgelassen haben, um jene Ichs, die wir einmal waren. Doch es ist erst diese Trauer, die Platz für Zuversicht schafft. In keinem Text wird das deutlicher als dem Abschlussessay des Buchs, in dem Chee nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten darüber nachdenkt, was es im heutigen Amerika bedeutet, ein Schriftsteller zu sein, und was er seinen Studenten noch beibringen kann in einer Zeit, in der viele der politischen Errungenschaften, für die Menschen wie er jahrzehntelang gekämpft haben, Stück für Stück wieder zurückgenommen werden. In einem emotionalen Crescendo evoziert er die Macht der Literatur, etwas zu bewegen. Auch wenn das, was sie bewegen kann, auf den ersten Blick nicht nach viel aussehen mag: Es ist die Literatur, die für gewöhnlich die politischen Regime überlebt, nicht andersherum.

Vielleicht ist es gerade diese existentielle Haltung, die Chee zu so einem herausragenden Autor macht. Man spürt bei jedem Satz der in diesem Band versammelten Essays, dass es ihm buchstäblich um das Leben geht, um das Überleben- und Weiterleben-Können. Und dieses Gefühl der Dringlichkeit überträgt sich auch auf die Lesenden. Es dürfte nur wenige überzeugendere Liebeserklärungen an das Schreiben und das Lesen geben als dieses Buch.

Dieser Text von Bestseller-Autor Daniel Schreiber ("Zuhause", "Allein") erschien erstmals 2020 als Nachwort der Erstausgabe der deutschen Fassung von Alexander Chees Essay-Band "How to Write an Autobiographical Novel", die ebenso wie Chees Debütroman "Edinburgh" in der Übersetzung von Nicola Heine und Timm Stafe im Albino Verlag erschienen ist. Beide Bücher sind u.a. erhältlich im Salzgeber.Shop.

Infos zu den Büchern

Alexander Chee: Wie man einen autobiografischen Roman schreibt. Essays. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicola Heine und Timm Stafe, 388 Seiten. Albino Verlag. Berlin 2020. Klappenbroschur: 20 € (ISBN 978-3-86300-283-1). E-Book 13,99 €

Alexander Chee: Edinburgh. Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicola Heine und Timm Stafe, 304 Seiten. Albino Verlag. Berlin 2020. Hardcover mit Schutzumschlag: 22 € (ISBN 978-3-86300-284-8). E-Book 15,99 €
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