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Endspurt
Darkrooms für alle: Sehenswerte queere Kunst auf der documenta
Noch bis 25. September kann man in Kassel die Weltkunstschau besichtigen, die von antisemitischen und queerfeindlichen Skandalen überschattet wurde. Leidtragende sind die Kunstschaffenden, deren Arbeit dadurch aus dem Blickfeld geriet.

Ausschnitt aus dem begehbaren Fotoroman "Borrowed Faces" der queeren Künstlergruppe Fehras Publishing Practice (Bild: Axel Krämer)
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4. September 2022, 03:26h 5 Min.
Die Ansprüche waren hoch. Diese documenta sollte anders werden: kollektiver, solidarischer, ganzheitlicher. Anstelle von Stars, die ohnehin auf dem globalen Kunstmarkt heiß umworben werden, sollten Kollektive das Geschehen bestimmen. Auch das indonesische Kuratorium Ruangrupa war eines. Das Motto, das Ruangrupa ausgab, war vielversprechend und lautete: Mitmachen, gemeinsam Abhängen und sich Austauschen. Wie etwa im Gebäudekomplex WH22 nahe des Kassler Hauptbahnhofs, wo das queere Kollektiv Party Office aus Neu Delhi die Party zur künstlerischen Praxis werden lassen wollte. Doch aufgrund queerfeindlicher Vorfälle war schon nach der ersten Veranstaltung Schluss; das Team fühlte sich von der Leitung der documenta im Stich gelassen (queer.de berichtete).
Das kuratierende Kollektiv Ruangrupa hätte den Rückzug von Party Office zum Anlass nehmen können, um Solidarität mit den bedrohten Kolleg*innen zu demonstrieren. Doch davon ist auf dem Gelände des WH22 nichts zu spüren. Indes steht die unterirdische, weitverzweigte Darkroom-Landschaft dem Publikum offen. Auch wenn dort keine Party mehr gemacht wird, beflügelt die Atmosphäre mit der spezifischen Beleuchtung und dem erotischen Mobiliar die Fantasie. In einigen Räumen laufen Filme, die kreative Sexszenen andeuten und dabei nie wirklich explizit werden. Dies überlässt man der Erwartungshaltung des Publikums – eine nicht ganz neue, jedoch nach wie vor funktionierende Idee. Zu einem Skandal, wie ihn die Darstellungen queerer Sexualität in der Kunstgeschichte mitunter zu provozieren vermochten, taugen die Szenen jedenfalls nicht.

Video von Party Office (Bild: Axel Krämer)
Ein Hinweis auf die Homo- und Transphobie, die zum Abbruch der Partyreihe führte, hätte zum künstlerischen Bestandteil des Projekts werden können, ganz nach der beabsichtigten Logik des Dazulernens von Ruangrupa – doch diese Chance hat man auf der documenta fifteen bislang nicht wahrgenommen. Das aufgestellte Schild mit dem Verhaltenskodex für die Partys suggeriert, dass diese weiterhin stattfinden. Von gemeinsamem Austausch und Diskussion über die feindseligen Vorfälle ist auf dem Gelände nichts zu spüren. Im Biergarten des Innenhofs wird derweil fröhlich konsumiert.
Klimawandel "aus einer genderfluiden Perspektive"
Ganz im Osten von Kassel, in einem ehemaligen Industriegelände an der Hafenstraße, sind u.a. Werke des Grafikers Nino Bulling untergebracht, der in einem Comic den Klimawandel "aus einer genderfluiden Perspektive" beleuchtet. Dass es sich dabei um eine Geschichte über trans Personen handelt, muss man wissen – aus den feinfühligen und dezenten Motiven der 18 aufgehängten Seidentüchern erschließt es sich nicht unmittelbar.
Bulling verlangt den Besucher*innen ab, sich intensiv auf seine Arbeit einzulassen. Wie überhaupt das allermeiste auf der documenta viel Bereitschaft und die Fähigkeit erfordert, sich über mögliche Kontexte Gedanken zu machen.

Seidentuch mit Motiv von Nino Bulling (Bild: Axel Krämer)
Dazu bringen offensichtlich die wenigsten die nötige Zeit und die Energie auf, angesichts der Fülle von Arbeiten, die es zu sehen gibt. Dem Anspruch von Ruangrupa zufolge sollte stets zumindest ein kompetentes Teammitglied vor Ort sein, das das Publikum mit Hintergrundinformationen versorgt und zum Diskutieren animiert. Aber auch an der Hafenstraße ist nicht viel zu spüren von gemeinsamem Austausch.
Gähnende Leere im chwer erreichbaren Lagerhaus
Während die documenta-Stätten im Zentrum sowie das Hallenbad Ost nur kurz zuvor einen riesigen Menschenandrang verzeichneten, herrscht nun an einem Sonntagnachmittag im zweiten Obergeschoss des Lagerhauses in der Hafenstraße 76 gähnende Leere. Ausgerechnet hier, wo eines der interessantesten und inspirierendsten Werke der documenta fifteen gezeigt wird. Kein Wunder eigentlich – fährt doch vom Zentrum aus nur einmal die Stunde ein Bus. Zu Fuß ist es zu weit. Das schreckt viele ab.
Da nützt es auch nichts, dass der queeren Künstlergruppe Fehras Publishing Practice für ihre begehbare Bildgeschichte "Borrowed Faces" auf großen Stellwänden weit über hundert Quadratmeter Platz eingeräumt wurde. Ihre "zwischen Beirut, Kairo, Rom, Paris, New York und Moskau gesponnene Erzählung" ist in den 1960er Jahren angesiedelt und handelt von feministischen arabischen Frauen, die größtenteils von haarigen Männer verkörpert werden – nämlich von den Künstlern selbst: Sami Rustom, Omar Nicolas und Kenan Darwich.

Eine weitere Szene aus dem Fotoroman "Borrowed Faces" (Bild: Axel Krämer)
Der in Camp-Ästhetik verfasste Fotoroman – in Westdeutschland kannte man das Genre aus der "Bravo" – erzählt vom Kalten Krieg, von der Entwicklung des Verlagswesen im Mittleren Osten und von Manipulationsversuchen der Großmächte. Auch dafür muss man sich gewissermaßen einarbeiten, denn das Auftragswerk der documenta stellt den zweiten Teil eines bereits bestehenden Fotoromans dar, der in der Hafenstraße in Heftform ausliegt – und den man vorher zumindest überfliegen sollte, um alles zu verstehen.
Queere Kunst als Anhängsel?
Es wäre sinnvoller und solidarischer gewesen, hätte man Kollektive wie Fehras Publishing Practice im zentral gelegenen Fridericianum untergebracht – und ein paar von den wenigen Kunststars mit Magnetwirkung, die wiederum im Fridericianum untergebracht sind, stattdessen in der Hafenstraße gezeigt – wie etwa Richard Bell, der sich mit der Situation der australischen Aboriginees auseinandersetzt. Ein Shuttle-Service hätte das übrige beisteuern können. Das wäre eine gerechte Verteilung der Ressourcen gewesen, wie ihn Ruangrupa durch das Lumbung-Prinzip anstrebte.
Doch vielleicht war so viel Ausgleich ja auch nicht beabsichtigt – und queere Kunst wurde nur als ein Anhängsel betrachtet, mit dem man nicht wirklich umzugehen wusste.
Ruangrupa beteuert, man wolle mit dieser documenta dazulernen. Mit diesem Versprechen sollte man das Kollektiv unbedingt beim Wort nehmen.
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